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Literarische Gerechtigkeit

  • Charles Bambach: Thinking the Poetic Measure of Justice. Hölderlin - Heidegger - Celan. (SUNY Series in Contemporary Continental Philosophy) Albany NY: University Press of New York State 2013. 346 S. Hardcover. USD 90,00.
    ISBN: 978-1-4384-4581-6.
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Die genaue Verbindung von Literatur und Ethik allgemeingültig zu beschreiben, ist eine anspruchsvolle Aufgabe: Die klassischen und gegenwärtigen Diskurse über Ethik berühren sich nur an wenigen Punkten mit der Ästhetik, dann aber — wie etwa in Kants Kritik der Urteilskraft — in emphatischer und für die ethische und die ästhetische Fragestellung in jeweils keineswegs unproblematischer Weise. 1 Sich der Verbindung von Kunst und Ethik über die Grenzen der (praktischen) Vernunft und die Möglichkeit der Darstellung des sittlich Guten zu nähern, wie Kant dies tut, ist jedoch nur eine Möglichkeit unter anderen, diese Verbindung zu beschreiben. Fragt man nach dem Beitrag von Literatur zu einem guten Leben, ist damit ein anderer, nicht weniger wichtiger Topos der Ethik in der aristotelischen Tradition aufgerufen. 2 Oder man fragt – im Anschluss an Gadamer – nach dem Potential von Weltliteratur als Schule universell-menschlicher Kultur. 3 Und nicht zuletzt kann man den Beitrag von Literatur zu einem Nachdenken nicht über das Gute, sondern über Gerechtigkeit beschreiben. Diesen Versuch macht Charles Bambach mit seinem Buch.

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Philosophisch steht für dieses Unternehmen Heidegger Pate, und auch die literarischen Beispiele folgen Heideggers Denkweg: Neben Hölderlin ist es die Dichtung Celans, an der Bambach die philosophischen Überlegungen erprobt und dessen Poetologie der zweite wichtige theoretische Bezugspunkt Bambachs ist. Zu Beginn des Buches umreißt Bambach sein Anliegen dabei treffend als »displaced conversation between Heidegger and Celan on the meaning of poetic dwelling as the measure of our human abode«. (S. 3) Diese Formulierung benennt die entscheidende Voraussetzung des Diskurses, den Bambach untersucht: dass sich ethische Fragen in einer Beschreibung des ethos, des menschlichen Charakters, oder — für Heidegger näher am Sinn des griechischen Worts und näher am Phänomen — als Beschreibungen des Aufenthalts des Menschen begreifen lassen. Ethik in diesem topologischen Sinne ergibt sich aus der Beschreibung dieser ortsgebundenen Existenz. Um die Bestimmung des Menschen durch seinen ethos/Aufenthalt oder über den Gedanken des »dichterischen Wohnens« im »Offenen« gruppieren sich dann die anderen für diese Theorie wesentlichen Themen: der Rückgang auf eine voraussetzungslose Unvoreingenommenheit und Offenheit, die Abhängigkeit des Eigenen vom Fremden, wie Hölderlin sie im Böhlendorff-Brief thematisiert; die Frage nach dem »Maß« für das menschliche Leben, das es nach dem Vers Hölderlins »auf Erden« nicht gibt. Von diesem Topos aus ergibt sich die Verbindung zur Frage nach der Gerechtigkeit, denn Heidegger erläutert das poetische Maß im Rückgriff auf die griechische dike, die wiederum als »Fug« und »Fügung« ins Deutsche rückübertragen wird. Damit ist das Wortfeld abgesteckt, in dem sich im Anschluss an Heidegger ›Ethik‹ als »Ethosdenken« konkretisieren lässt. 4

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Gerechtigkeit oder Metaphysik des Subjekts

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Bambach bietet im ersten und zweiten Teil seines Buchs eine umfangreiche Wiedergabe dieser eng verbundenen Themen bei Hölderlin und in Heideggers Auseinandersetzung mit Hölderlin. In diesem Kenntnisreichtum liegt die Stärke von Bambachs Buch. Systematisch sieht Bambach das ethische Denken Heideggers, das aus der Hölderlin-Rezeption entsteht, in Kontinuität mit seiner (vor allem französischen Wirkungsgeschichte) bei Lévinas, Derrida, Jean-Luc Nancy und François Raffoul. Heidegger wird so zum Ahnherr postmoderner Subjektivitätskritik, zu der das Nachdenken über Gerechtigkeit und Literatur beitragen soll: »thinking through a philosophical poetics of justice [attempts] to loosen it from the grips of the metaphysics of the subject and its egological constitution of justice as a legal-moral measure.« (S. 4)

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Mit dieser Gegenüberstellung von Metaphysik als Subjektphilosophie auf der einen und postmetaphysischer Ethik auf der anderen Seite schreibt Bambach eine eigene Tradition postmodernen Denkens fort. Diese Alternative hat jedoch ihre eigenen Voraussetzungen. Sie ist nicht zwingend, und keineswegs ist Subjektivitätskritik als solche bereits eine philosophische Position. Geht es nur um eine Verabschiedung des ›egologischen‹ Subjekts als solches, wird ein für die Thematisierung des Bezugs der Literatur zur Gerechtigkeit wichtiges Problem übergangen: Mit der Kritik an einer metaphysischen Subjektvorstellung gerät der Adressat des ethischen Anspruchs der Literatur aus dem Blick. Damit wird die hermeneutische Erfahrung, die der Leser mit dem Text macht und als verbindlich empfinden kann, übergangen. An die Stelle des Selbstverständnisses als ›Subjekt‹ tritt dann gar kein Selbstverständnis mehr.

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Deutlich wird dieses Problem – das aus Heideggers Nachdenken über Dichtung entsteht, aber bei seinen postmodernen Nachfolgern ungelöst bleibt – etwa in der folgenden Passage, in der Bambach Heideggers Ethik zusammenfasst:

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»Thinking the ethicality of ethics will move Heidegger to deconstruct the idea of subjectivity back to the fundamental event of being (Ereignis) as the very disclosure of beings that appropriates us to its singular situatedness. Here, ›ethics‹ will not be understood as the practice of ›applying‹ principles, but as that which happens in the way being manifests itself. Within Heidegger’s thought, ›being displays its own ethicality,‹ as François Raffoul so poignantly expresses it. That means that Heidegger’s reflection on the ethicality of ethics moves away from any egological disclosure within the subject and toward the open expanse of being as an event of truth that both reveals this openness, even as it veils this very revelation.« (S. 10)
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Besonders wenn man sich die Bandbreite dessen klarmacht, was unter Ethik verstanden werden kann, scheint die Alternative nicht zwingend, Ethik entweder als Anwendung von Prinzipien und Subsumtion unter Gesetze zu verstehen oder als Ereignis, als Wahrheits- und Seinsgeschehen. Die interessanten Positionen liegen offensichtlich genau dazwischen. Man muss nicht soweit gehen, dass der Gedanke eines den Menschen umgreifenden Geschehens als solcher bereits die Möglichkeit einer Existenz in »kritischer Verantwortlichkeit« untergrabe, wie der prominent von Tugendhat vorgebrachte Einwand lautet. 5 Aber die Frage ist entscheidend, an wen sich der Anspruch literarischer Texte denn richten soll, wenn die ethische Instanz letztlich ›das Sein‹ selbst ist. Als Topologie des Seins droht die topologische ›Ethik‹ Heideggers mit ihrem Bezug zum individuellen Dasein auch ihren normativen Charakter gänzlich zu verlieren. Ethik wäre dann etwas, was ›das Sein‹ letztlich mit sich selbst ausmacht. Genau auf diese Konsequenz läuft jedoch Bambachs Referat hinaus.

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Das so benannte Problem besteht nicht einfach in einer Verwechslung von Sein und Sollen, denn in der faktischen Überschreitung dieser starren Dichotomie liegt gerade das Potential einer gewachsenen Aufmerksamkeit auf die Möglichkeitsbedingungen ethischen Handelns. Vielmehr verzerrt diese Beschreibung ›ethischer‹ Erfahrung deren phänomenalen Gehalt, sie ist phänomenologisch inadäquat, zumal für eine Bestimmung des ethischen Gehalts von Literatur: Nach der ontologischen Konzeption muss jede Lektüreerfahrung den Umweg über die Seinserfahrung oder die Erfahrung der Wahrheit als Unverborgenheit nehmen, um ethisch verbindlich sein zu können. Daraus ergibt sich aber für eine ›ethische Literaturtheorie‹, die Heidegger in dieser Konzeption folgt, der Zwang, eben diese radikale Erfahrung in allen untersuchten Texten ausfindig machen zu müssen. Zudem wird unklar, warum es eigentlich Literatur ist, in der diese Erfahrung gemacht werden kann.

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Im Rückgriff auf so etwas wie die Ethizität des Seins selbst wird die ethische Verbindlichkeit von Literatur und Kunst zwar als absolut, aber auch als phänomenal völlig abstrakt verstanden, was es schwierig macht, die Individualität eines Kunstwerks zu berücksichtigen, wenn jedes eigentlich Seinserfahrung ist. Jeder Interpretation jeden Kunstwerks müsste es dann darum gehen, in der Erfahrung der Kunst die Seinserfahrung nachzuweisen und damit auch die ethische Verbindlichkeit der Kunst zu zeigen. 6 Damit wird die Erläuterung von ›Ethik‹ über ethos als Aufenthalt aber von Heideggers Diskurs über die enigmatischen Grundbegriffe seines Denkens – wie eben Sein, Ereignis, Unverborgenheit – abhängig. Die verschiedenen oben benannten Topoi kollabieren in einem immer enigmatischer werdenden Diskurs, der sich zwar gegen die totalisierenden Tendenz der Metaphysik richtet, selbst aber beansprucht, die einzige maßgebliche Weise zu sein, wie über die mit den verschiedenen ›ethischen‹ Begriffen aufgerufenen Phänomene nachzudenken ist. Bambach benennt dies jedoch nicht als Problem, sondern forciert in Passagen wie der oben zitierten die Gleichsetzung gerade nicht der deskriptiv gehaltvollen, sondern der enigmatischen Grundbegriffe Heideggers.

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Heideggers Beitrag zu einer Klärung des Verhältnisses von Ethik und Literatur ist jedoch nicht auf diese ontologische Konzeption beschränkt, im Gegenteil liegt dieser gerade jenseits des ontologischen Diskurses, der – wenn nicht nach Heideggers eigener Terminologie – durchaus noch als ›metaphysisch‹ verstanden werden kann. Beabsichtigt ist zwar »Herauswindung« aus der Metaphysik, aber diese geschieht am radikalsten im Verzicht auf jene Begriffe, die selbst wesentlich enigmatischer sind als die der ›Tradition‹ der Metaphysik. Das Potential von Heideggers Philosophie für die Verbindung von Ethik und Literatur liegt eben in den mit den Semantiken von ›Maß‹ und ›Messen‹, des ›Eigenen‹ und ›Fremden‹, der ›Heimkehr‹, des ›Aufenthalts‹ und ›Wohnens‹ aufgerufenen Philosophemen, die Bambachs Buch zusammenstellt. Obwohl er betont, dass etwa gerade der Gedanke des »dichterischen Wohnens« für seine Heidegger-Lektüre entscheidend sei, 7 arbeitet Bambach jedoch nicht heraus, dass gerade in der Aufnahme der hermeneutischen Möglichkeiten von ›Dichterworten‹ in sein eigenes Denken und deren philosophischer Erörterung eine Gegenbewegung zu den sonst herrschenden spekulativen (oder quasi-spekulativen) Überlegungen Heideggers liegt, die Heideggers ontologischen Diskurs beherrschen. Damit bleibt aber die Möglichkeit einer durchaus immanenten Kritik Heideggers ungenutzt. Stattdessen bringt Bambach im dritten Teil seines Buchs die Dichtung und Poetologie Celans gegen Heidegger ins Spiel.

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Celan-Interpretation mit Derrida

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Bambachs Projekt eines Nachdenkens über Gerechtigkeit als poetisches Maß steht vor der Schwierigkeit, wie er selbst anerkennt (S. 184), dass in Celans Dichtung ›Gerechtigkeit‹ nicht direkt thematisch wird. Wohl aber lasse sich in dieser etwas wiedererkennen, das mit der Frage nach der Gerechtigkeit direkt verbunden sei: »[the] problematic of messianic promise, of alterity, of justice as relation to the other, of aporia as well as of mourning and memory«. (S. 184) Dafür beruft sich Bambach auf Lévinas und vor allem auf Derrida, mit dessen Bestimmung von Gerechtigkeit aus Gesetzeskraft (Force de Loi) Bambach sein Celan-Kapitel eröffnet (S. 181): ›Die Gerechtigkeit‹, so Derridas maßgebliche Formulierung, sei etwas, das ›vielleicht‹ komme, zugleich aber als etwas ›Zukommendes‹ entzogen ›bleibe‹ (rester à venir).

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Diese Bestimmung Derridas scheint mit Blick auf die hermeneutische Erfahrung der Textlektüre jedoch den oben benannten problematischen Aspekt des Heideggerschen Ereignisdenkens zu wiederholen. Zwar kontrastiert Bambach zurecht den Gerechtigkeitsbegriff Derridas und Lévinas Bestimmung von Gerechtigkeit als Verhältnis zum Anderen mit Heideggers Erläuterung von Gerechtigkeit (dike) als Versammlung (legein): Während Lévinas und Derrida Ausgesetztheit und Dispersion als Kennzeichen von Gerechtigkeit verstehen, denke Heidegger Fug oder Fügung als zentrale Distribution. Was damit jedoch freigelegt werde, so Bambach in Nachfolge Derridas, sei die Möglichkeit einer radikalen Zukunftserfahrung: »by breaking open a crack to the future and to the future´s radical alterity, this gesture of disruption gives assent to the messianic hope and possibility of a justice to come.« (S. 183)

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Ähnlich wie in Heideggers Interpretationen von Dichtung, die auf den Aufweis eines Seinsgeschehen zielen, ist eine solche »Geste der Unterbrechung« – gemeint ist das Erscheinen der Gerechtigkeit – jedoch mehr als bloße Zurücknahme. Denn mit ihr wird nicht nur auf die Unbestimmtheit der Zukunft hingewiesen, sondern diese Unbestimmtheit auch wieder zugunsten einer messianischen und explizit eschatologischen Gerechtigkeit zurückgenommen. Wenn Bambach deshalb Derridas an Benjamins Gewalt-Aufsatz entwickelten Gerechtigkeitsbegriff in die Celan-Interpretation einbringt, entsteht wiederum ein Zwang, eine bestimmte Form radikaler Erfahrung in der Literatur freilegen zu müssen. Zwar ist es diesmal nicht die als restriktiv bewertete Erfahrung von Gerechtigkeit als Versammlung, sondern die Vorstellung einer ausstehenden Erlösung, die in aller Literatur nachzuweisen ist. Aber auch hier bleibt ungeklärt, wie diese denn konkret erfahren werden soll.

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Mit dem Rückgriff auf Derrida in der Erörterung der Dichtung Celans erreicht Bambach daher vor allem, dass die Theorielage noch unübersichtlicher wird. Zudem setzt ihn Derridas Bestimmung der Gerechtigkeit als zukünftige in der Celan-Interpretation auf die falsche Fährte, die letztlich an das Denken Heideggers gebunden bleibt, das Bambach doch zu überwinden sucht. Denn in Derridas Shibboleth, auf das Bambach zurückgreift, wiederholen sich in der Beschreibung der temporalen Struktur von Datierung Momente aus Heideggers fundamentalontologischer Begründung des Seins aus der Zeit, zu deren Bestätigung Celans Umgang mit Daten herangezogen wird. 8 Gerade mit den topologischen Momenten in Celans Poetik und Poetologie, also gerade mit demjenigen, was für die das Buch leitende Beschreibung von Ethos als Aufenthalt und »dichterischem Wohnen« maßgeblich sein sollte, ist diese temporale Celan-Interpretation Derridas und der Gedanke einer messianischen Zukünftigkeit jedoch schwer zu vereinbaren. Nicht der Ausstand in die Zukunft, sondern die Gegenwart der Gerechtigkeit ist entscheidend, die erfahrbar wird, wenn man sich auf die poetische Erfahrung einlässt. Und eben dies geschieht für Wesen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie sich aufhalten, dadurch literarische Texte als Orte reicher Erfahrung zu verstehen.

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Wenn Celan etwa wiederholt das Datum des 20. Januar aufruft, dann fallen die verschiedenen Ereignisse (das von Celan angenommene Datum des Tods der Mutter; die Wannseekonferenz 1942; vermutlich der Tag, an dem Celan und Bachmann sich kennenlernten; der »20. Jänner« aus Büchners Lenz) gerade nicht an einem Augenblick in der Zeit zusammen, sondern an dem bleibenden Ort, der etwa durch Celans Meridian-Rede entsteht. Diesen Text als einen Ort in der Zeit zu verstehen, heißt, ihn als etwas zu begreifen, dass in seinen vielfältigen Bedeutungsbezügen in die Vergangenheit offen bleibt.

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Bambach beschreibt, Derrida folgend, die Relevanz von Daten, wie sie in der Büchnerpreisrede deutlich wird, im Detail (S. 195–197). Hier wird deutlich, dass Bambach eigentlich Derridas temporale Celan-Interpretation paraphrasiert, die offensichtliche Spannung zwischen temporaler und topologischer Interpretation aber nicht herausarbeitet. Allerdings arbeitet Bambach auch die Bedeutung Tübingens als eines anderen besonderen Topos seiner Autoren heraus (S. 200–213). Bereits darin wird deutlich, dass Bambach die temporal-eschatologische Interpretation zwar aufruft, um mit Hilfe von Derrida eine explizite Verbindung zum Gerechtigkeitsbegriff herzustellen. Entscheidend für ihn ist aber die topologische Interpretationsrichtung, die eben darauf abstellt, dass auch Daten in der Zeit durch ihre dichterische Zusammenstellung bleibende Orte der Erfahrung werden, wie eine Stadt wie Tübingen gewissermaßen natürlich der Ankerpunkt ganz verschiedener literarischer Erfahrungsmöglichkeiten ist. Dass der topologische Charakter von Dichtung für Bambach nicht weniger wichtig ist als die eschatologische Zeiterfahrung, wird in seiner Interpretation der sogenannten Jerusalem-Gedichte Celans deutlich, in der er die Bedeutung Jerusalems als eines utopischen Orts herausarbeitet. (S. 230–265) Celans Messianismus wird von ihm also auch topologisch und nicht bloß temporal gedeutet. Hier hätte sich konsequenterweise eine Kritik an Derridas Celan-Interpretation anschließen müssen.

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Nach dieser genuin topologischen Interpretation schließen sich die leitenden Überlegungen zu den Aufenthaltsmöglichkeiten des Menschen zwangloser mit der Poetologie zusammen – ohne Umweg über die Verbindung von Zeit und Sein im Ereignis oder in der zugleich vielleicht gegenwärtigen, auf jeden Fall aber ausstehenden gerechten Zukunft. Ohne dies deutlich zu machen, deutet Bambach durch die Zusammenstellung mit der Bestimmung von Ethik als Aufenthalt im Anschluss an Heidegger also Derridas Gerechtigkeitskonzeption um, will aber zugleich mit Benjamin und Derrida am Gedanken der Zukünftigkeit der Gerechtigkeit festhalten. (S. 267) Hierin offenbart sich eine ungelöste Spannung zwischen einem zeitphilosophisch konzipierten Messianismus und einer topologischen Dichtungstheorie. 9 Diese Spannung wäre zu erläutern gewesen.

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Ein sprachloser Adressat poetisch-ethischer Erfahrung

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In seinem Nachwort durchläuft Bambach den Weg seines Buches rückwärts, um abschließend die beiden Paradigmen, für die Hölderlin und Heidegger einerseits und Celan andererseits stehen, einander gegenüberzustellen und zu vergleichen. Dabei kommentiert Bambach auf der vorletzten und letzten Seite des Buches sein eigenes Vorgehen in einer durchaus erstaunlichen Passage so:

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»If, with Derrida, I have chosen to read justice in this way as a ›justice to come,‹ it is not with an ambition to erase the ruptures between Heidegger and Celan or to gather their differences together in order to reconcile them through a reading of Hölderlin. Acknowledging the aporias, at times pointing towards them, at other times insisting upon them, I have tried to think these aporias in all their difficulties, finding in the singularity of each poem or essay a way of rethinking the enigmas of justice that persist as enigmas. […] To write in the name of justice would mean to ceaselessly measure the incommensurability of a justice written with ellipses, a justice beyond our ken, a justice that would abandon the very name of justice to take on a measure of hope — perhaps even a poetic measure.« (S. 277–278)
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Nach diesem Verständnis besteht der Beitrag der Literatur und Literaturtheorie zur philosophischen Frage nach der Gerechtigkeit darin, den enigmatischen Charakter eines Geschehens der Gerechtigkeit hervorzuheben, auf das sich nur hoffen lässt. Das wäre für die Ethik ein dürftiges Ergebnis. Selbst Bambachs eigenen Beschreibungen nach liegt der Gewinn einer Auseinandersetzung mit diesen poetischen und poetologischen Texten jedoch nicht in dieser Einsicht in die Unkenntnis der Gerechtigkeit als solcher. Entscheidend scheint vielmehr die transformierende Wirkung, die die (hoffende) Erfahrung von Gerechtigkeit, die in der Literatur geborgen liegt, auf ihren Leser hat: Gerechtigkeit zeigt sich darin, durch eine radikale Erfahrung Verantwortlichkeit zu wecken. Dies bezeugt Bambach selbst, wenn er sein eigenes Vorgehen kommentiert, auf die oben ausgemachten Probleme hinweist, so sein Schreiben transparent zu machen sucht und dafür eine abschließende Rechtfertigung bietet. Dadurch, dass Bambach sein eigenes Vorhaben jedoch als Überwindung der Subjektphilosophie deutet, kann diese positive Leistung jedoch nicht eigens thematisch werden, denn sie beträfe die Konstitution eines von Normen ansprechbaren Selbst.

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Verantwortung

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Im Nachwort tritt damit, offensichtlich gegen Bambachs Intention, deutlich hervor, was die zuvor nicht thematisierte Voraussetzung des Nachdenkens über den Charakter literarischer als ethischer Erfahrung war: Dass jenseits einer ›Metaphysik des Subjekts‹ und eines moralisch-legalistischen Verständnisses von Gerechtigkeit Menschen Verantwortung übernehmen können. Trotz ihrer Unterschiede in der Gerechtigkeitskonzeption kommen die drei für Bambach maßgeblichen Autoren – Hölderlin, Heidegger, Celan – in diesem Punkt überein: Dichtung kann Verantwortlichkeit erzeugen. Auch bei Heidegger ist dies für Bambach eine Verantwortung dem Anderen oder ganz Anderen gegenüber: »responsibility to the other means freilassen, releasing the other to its own proper Wesen or way of essentially prevailing.« (S. 272) »What pervades [Heidegger’s] discourse [...] is a form of poetic dwelling that takes responsibility for the other, for the Ereignis of the other that is always coming again in its singularity.« (S. 274) Diese Verantwortlichkeit ist es auch, die in Celans Dichtung an einem Extremfall radikalisiert wird: »Celan’s poetry opens a dwelling place, an Aufenthalt for those denied an Aufenthalt in the political designs in the autochthonous Volk. […] Like Hölderlin, who knew intimately the burden of despair, Celan thinks hope against despair as a way of preparing the poetic gesture of mourning.« (S. 275) Diese Trauer wiederum habe Heidegger bereits im Anschluss an Hölderlin als Stimmung der »heiligen Trauer« beschrieben.

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Bambachs sich derart überlappende Beschreibungen zeigen so den eigentlichen ethischen Gewinn einer Auseinandersetzung mit Literatur auf, der ein Gewinn an Verantwortlichkeit ist, ohne dass sich eine kohärente ›Theorie‹ der Gerechtigkeit ergeben würde. Vielmehr entsteht diese, Bambachs abschließenden Überlegungen zufolge, gerade daraus, dass eine solche Theorie unmöglich ist, die Erfahrung von Gerechtigkeit aporetischen Charakter hat.

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Unabhängig davon, ob man Bambach in diesem Punkt folgen möchte – der auch seinem eigenen Diskurs über Gerechtigkeit sehr enge Grenzen setzt –, überzeugt es völlig, Hölderlin und Celan als exemplarisches Beispiel dafür zu lesen, wie aus der mit moderner Lyrik möglichen Erfahrungen ethische Responsivität hervorgehen kann. Dafür muss man jedoch die Prämissen jener eschatologischen Gerechtigkeitsvorstellung nicht teilen, die Bambach mit Derrida in Celan entdeckt und die der Heideggerschen Seinsgeschichte gespenstisch ähneln. Ähnlich wie für Lévinas 10 ist das Entscheidende nicht diese ›metaphysische‹ Ausdeutung der Erfahrung, sondern die Konstitution eigener Verantwortung, die in der Erfahrung des radikal Anderen und in der Erfahrung von Kunst liegen kann. Literatur wird so in ihrem ethischen Anspruch ohne den Umweg über den ontologischen Diskurs oder eine eschatologische Metaphysik erfahrbar. Nur dann wird Ethik wirklich erste Philosophie, wenn man solche vorgreifenden spekulativen Ausdeutungen der Erfahrung unterlässt. Diese Überlegung läuft jedoch Bambachs Projekt entgegen, soweit dieses seiner Auskunft nach nur auf eine Weiter- und Umschreibung des Diskurses über Gerechtigkeit zielte. In der enigmatischen Weise, wie dieser geführt wird, scheint dieser jedoch die individuelle Verantwortung eher zurückzudrängen als sie freizulegen.

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Will man dies jedoch freilegen, dann werden zwei bei Bambach nicht eigens diskutierte Themen wichtig: Die Aufforderung einer Zuwendung zu jener radikalen Form von Gerechtigkeitserfahrung, die Bambach in der Literatur sieht –»[to] genuinely confront the abyssal depths of justice’s infinite demands upon us« (S. 270) – muss so lange unverständlich erscheinen, wie nicht klar wird, dass gerade in dieser Erfahrung die Möglichkeit liegt, dass aus ihr eine Instanz ethischen Verstehens und Handelns hervorgeht. Es braucht keine Metaphysik des Subjekts, um die Gerechtigkeitserfahrung auf die conditio humana zurück zu beziehen. Versucht man dies aber, nähert man sich genau jenen Themen, die sich mit dem ethischen Aufenthalt des Menschen verbinden, die aber von dem ontologischen Diskurs schon bei Heidegger überlagert zu werden drohen.

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Geht es auch im Bezug von Literatur zur Gerechtigkeit, so enigmatisch diese bleiben mag, letztlich um die Genese einer ethisch verantwortlichen Instanz, die sich selbst nicht verabsolutiert, so wird damit allerdings noch nicht klar, wie diese ihrer neuen Verantwortung gemäß handeln kann (soll). Versteht man Literatur nur als jene konstitutiv unverständliche und nie theoriefähige Grenzerfahrung von Gerechtigkeit, dann kann es in ihr tatsächlich nie um normative Orientierung in concreto gehen, sondern nur um die Konstitution von ethischer Responsitivität als solcher. Die topologische Ethik wird zwar nicht mehr zu einer Bestimmung des ›Aufenthalts‹ verflacht, die gar keinen Bezug zur Normativität mehr besitzt. Aber es könnte in der Literatur eigentlich immer nur darum gehen, die Urszene der Entstehung ethischer Verantwortung zu wiederholen und einen Sinn für Gerechtigkeit zu entwickeln, der – so wie die Gerechtigkeit enigmatisch – völlig abstrakt bleibt. Damit ginge es aber in aller Literatur ethisch immer um dasselbe. Eine solche Beschreibung wäre eine wesentliche Verkürzung dessen, was Literatur tatsächlich zu leisten vermag. Gerade die literarischen Autoren, die Bambach untersucht – also Hölderlin und Celan – leisten dies gerade im Hinblick auf die Phänomene, die er untersucht: Für ein Nachdenken über Fremdheit oder über die Shoah bieten literarische Texte sehr konkrete Möglichkeiten. Diese werden jedoch durch den Aufruf enigmatischer Gerechtigkeit als maßgeblichen Interpretationsschemas für diese Texte gerade verdeckt. Eine solche Form von Literaturtheorie verhindert paradoxerweise, sich angemessen auf das einzulassen, was Texte im Hinblick auf die Konstitution ethischer Verbindlichkeit und an ethischer Orientierung tatsächlich zu leisten vermögen. Stattdessen lässt sich die Orientierungsleistung von Literatur und das veränderte Selbst- und Weltverständnis eines von ›der Gerechtigkeit‹ in die Verantwortung Genommenen besser verstehen, wenn man ihn auch als Lesenden und selbst Sprechenden und Schreibenden begreift, wie Bambach dies ganz am Ende seines Buches in seiner Selbstreflexion auch zugesteht.

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Fazit: Subjekt und Sprache

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Hebt man aber die Rolle des ethischen ›Subjekts‹ als eines selbst in der Sprache involvierten hervor, würde für das »dichterische Wohnen« auch die Sprachlichkeit der menschlichen Existenz entscheidend, die Bambach zwar immer wieder, aber überraschenderweise nur am Rande thematisiert. Damit hat der Diskurs über enigmatische Gerechtigkeit jedoch letztlich anti-hermeneutische Konsequenzen: Das ausstehende Gerechtigkeitsereignis, wenn es wirklich so radikal ist, wie Bambach mit Derrida glaubt, hat letztlich keinen bestimmbaren, in Sprache übersetzbaren Sinn mehr. Aber warum sollte man dann noch Literatur lesen?

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Orientiert man sich – naheliegenderweise – nicht am expliziten oder impliziten Nachdenken über Gerechtigkeit, sondern am Sprachverständnis der Autoren, dann lässt sich leicht eine andere, alternative Interpretation zu der Bambachs skizzieren: Die Sprache hat nicht nur, wie Celan hevorhob, auch die Ereignisse der Shoah in sich aufgenommen (S. 188) und ist dadurch als bloßes »Haus des Seins« – ohne normativen Anspruch – undenkbar geworden. Die Sprache ist es auch, die es ermöglicht, eine individuelle Stimme zu finden, wie prekär diese auch sein mag. 11 Poetische Erfahrung jedoch allein als radikal und konstitutiv unverständlich zu beschreiben, beraubt diese ihrer eigenen Sprache. Dies verzerrt den eminenten Bezug von Dichtung zur Sprache als solcher und macht es unmöglich, dass sich das zur Verantwortung gerufene Selbst als Teil dieser Sprache begreifen kann.

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Eine genauere Bestimmung des sprachlichen Charakters ethisch-poetischer Erfahrung ist zwar nicht das, was Bambach sich zum Ziel gesetzt hat. Um eine Erfahrung von Dichtung als Gerechtigkeit zu beschreiben, scheint es jedoch unabdingbar, den Sprachbegriff und die Existenz des Menschen als eines Sprechenden stärker ins Zentrum zu rücken. Nur dadurch lässt sich auch näher sagen, was denn Literatur, als eminente Spracherfahrung, auszeichnet. Zwar wiederholen sich, legt man das Gewicht auf die Sprache, die Kontroversen zwischen Heidegger und Derrida um den Gerechtigkeitsbegriff, da es eben die Sprache ist, die für Heidegger das gerechte ›Versammeln‹ leistet, für Derrida aber durch Dissemination gekennzeichnet ist. 12 Aber Sprechen lässt sich nicht ohne einen Bezug zu Wahrheit denken – und damit erweitert sich die Thematik der Gerechtigkeit, und es entsteht die Möglichkeit, über den Gehalt der ethischen Verpflichtung durch die Forderung nach Gerechtigkeit nachzudenken. Sprache ist nicht nur Medium von Wahrheit, sondern auch von Unwahrheit, 13 und in ihr gibt es nicht eine wahre Sprache, sondern »Idiome der Wahrheit«. 14 Aber Bambachs Projekt eines Nachdenkens über ›poetische‹ Gerechtigkeit bleibt als Alternative zu einer Metaphysik des Subjekts unterbestimmt, situiert man es nicht in einem weiteren hermeneutischen Kontext, in dem sich das Maß der Gerechtigkeit auch zu konkretisieren vermag. Die enigmatische Art, wie Bambach über Literatur und Gerechtigkeit nachzudenken fordert, untergräbt diese Möglichkeit.

 
 

Anmerkungen

Zu Kant, vgl. Recki, Birgit: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt am Main: Klostermann 2001 (Philosophische Abhandlungen).   zurück
Vgl. dazu Weston, Michael: Philosophy, literature, and the human good, London [u.a.]: Routledge 2001. Kritisch dazu Köppe, Tilmann: »Philosophie, Literatur und das gute Leben«, in: IASLonline (23.07.2004), http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=846.   zurück
Vgl. George, Theodore: »The Promise of World Literatur«, in: International Yearbook for Hermeneutics 13 (2014), S. 128–143.   zurück
Vgl. Aurenque, Diana: Ethosdenken. Auf der Spur einer ethischen Fragestellung in der Philosophie Martin Heideggers, Freiburg ; München: Alber 2011 (Alber-Reihe Thesen).   zurück
Tugendhat, Ernst: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 2., unveränd. Aufl. Aufl., Berlin: De Gruyter 1970 (De Gruyter Studienbuch), S. 6.   zurück
Günter Figal unterscheidet in diesem Sinne Ästhetik, als ein Nachdenken über Kunst, das von einzelnen Kunstwerken ausgeht, von Kunstphilosophie, für die sich bestimmte philosophische Prämissen in der Kunsterfahrung bewahrheiten sollten. Vgl. Figal, Günter: Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie, Tübingen: Mohr Siebeck 2010, S. 33–52.   zurück
»It is here in the realm of poetic dwelling that, I would argue, we can begin to see how powerfully attuned to ethical questions Heidegger’s work really is.« (S. 10)   zurück
Vgl. Keiling, Tobias: »Ort und Zeit im Meridian. Heidegger in Derridas Celan-Interpretation«, in: Espinet, David (Hrsg): Schreiben. Dichten. Denken. Heidegger und die Literatur, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2010, S. 177–195.   zurück
Zur letzteren vgl. den klassischen Aufsatz Pöggelers: Pöggeler, Otto: »Dichtungstheorie und Toposforschung«, in: Jahrbuch für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 5 (1960), S. 89–201.   zurück
10 
Crowell, Steven: »Why is Ethics First Philosophy? Levinas in Phenomenological Context«, in: European Journal of Philosophy (2012).   zurück
11 
Cavell, Stanley: Cities of Words : ein moralisches Register in Philosophie, Film und Literatur, übers. v. Maria-Sibylla Lotter, Zürich: Chronos-Verl. 2010 (Legierungen).   zurück
12 
Dabei sind sich Derrida und Heidegger auch in diesem Punkt recht nahe. Vgl. Backman, Jussi: »Logocentrism and the Gathering Λόγος: Heidegger, Derrida, and the Contextual Centers of Meaning«, in: Research in Phenomenology 42/1 (2012), S. 67–91.   zurück
13 
Heiden, Gerrit Jan van der: The truth (and untruth) of language: Heidegger, Ricoeur, and Derrida on disclosure and displacement, Pittsburgh, Pa.: Duquesne Univ. Press 2010.   zurück
14 
Schmidt, Dennis: Idiome der Wahrheit, übers. v. Nikola Mirkovic, Frankfurt am Main 2014.   zurück