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Nicht-Sehen und Wissen

  • Peter Bexte: Wo immer vom Sehen die Rede ist ... da ist ein Blinder nicht fern. An den Rändern der Wahrnehmung. (Bild und Text) München: Wilhelm Fink 2013. 170 S. Broschiert. EUR (D) 30,90.
    ISBN: 978-3-7705-5598-7.

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Im Bannkreis der Blinden

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Die Geschichte des Abendlandes ist eine, die sich über Differenzen erschließt, so zeigt es Michel Foucault, wenn er in seiner berühmten Antrittsvorlesung L’Ordre du Discours (1970) am College de France seine bereits vorliegenden Arbeiten resümiert und seine künftigen Projekte sondiert. Eine Grenzziehung zwischen dem Wahnsinn und der Vernunft sei konstitutiv für das moderne Denken, ermögliche sie doch erst das Denken in Termini der Rationalität sowie eine Institutionalisierung des Wahnsinns. Während Michel Foucault den großen Differenzierungslinien des Abendlandes am historischen Material nachgeht, begründet Niklas Luhmann etwa zur selben Zeit in Deutschland im Anschluss an Spencer Browns Logik eine Supertheorie, welche Unterscheidung als die Bedingung von Beobachtung schlechthin ausweist: Wo immer eine Beobachtung ist, da ist auch eine Unterscheidung. So mutet die Faszination, die Peter Bexte in seinem Vorwort für den Zusammenhang von Sehen und Blindheit hegt, gar nicht so befremdlich an, scheint sich in dieser Verbindung doch die Leidenschaft des Abendlandes für Differenzierungen par excellence zu äußern. Umso aufschlussreicher und inspirierender ist denn aber die Form, in der er uns seine Beobachtungen präsentiert. Sie ließe sich zunächst als der Versuch abtun, Fallobst zusammen zu tragen, handelt es sich doch bei den folgenden Aufsätzen um zum Teil bereits veröffentlichte Schriften. Doch der Titel von Bextes kleinem Buch ist symptomatisch für die konzeptuelle Anordnung. Es ist, als ob gerade das teilweise mit abrupten historischen Sprüngen erfolgende Auf- und Abblenden zwischen den 7 Kapiteln und den ihnen zugeordneten Intermezzi uns erst sehend macht für die Zusammenhänge zwischen vollkommen unterschiedlichen Dispositiven des Wissens, in denen der Zusammenhang von Sehen und Blindheit entfaltet wird. Und so überträgt sich das für das Phänomen Konstatierte performativ auf Bextes Textformation:

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An den Rändern der Wahrnehmung geschehen seltsame Dinge. Es ereignen sich dort Überlagerungen von Erscheinen und Verschwinden, die auf ein ungewisses Terrain führen. Mediale Settings, wissenschaftliche Instrumente und künstlerische Entwürfe haben sich auf eben dieses Feld begeben, um eine Sichtbarmachung nach der anderen aus dem Dunkeln zu heben und damit auch die Kehrseite des Unternehmens ständig wachzuhalten. (S. 10)
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Obgleich die historischen Sprünge zwischen einer illuminierten Handschrift aus dem 13. Jahrhundert und Marshall McLuhans legendärem Interview im Playboy aus dem Jahr 1973 zunächst nichts weiter gemeinsam haben als das gemeinsame Tableau, auf dem sie angeordnet sind, so wird doch ganz und gar augenfällig, dass Bextes Diktum aufzugehen scheint: »Jede Theorie des Sehens hat ihren zugehörigen Blinden, von dem her sie ihre genauste Charakterisierung erfährt.« (S. 11)

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Man könnte fast meinen, dass wir die Blinden sind und Bexte uns den ariadneschen Faden reicht, der uns aus einem Labyrinth zu führen meint. Überblickt man die Struktur des ganzen Büchleins, ist es so einfach nicht, denn der Gang durch die sieben Kapitel und die sieben Intermezzi zeigt: Der Faden hat einige Knoten und Verwicklungen.

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1- Die Vorhaltungen des Auges

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Über eine bildkompositorische Detailanalyse einer mittelalterlichen Darstellung von Musica und Astronomia aus dem Jahr 1240, - der von der Bayrischen Staatsbibliothek die Beschreibung »Astronomia begleitet von Ptolomeus mit Sehrohr und Atlas Rex mit Himmelsscheibe« beigefügt ist - arbeitet Bexte eine medienwissenschaftliche Perspektive heraus. Die Linienführung der Handschrift zeigt horizontale und vertikale Grenzlinien auf, die signifikant durch das optische Medium des Ptolomäus zur Linken von Astronomia gekreuzt wird. Das Medium reicht eben in jenes Feld der Musica (die in der Handschrift über der Astronomie angeordnet ist), das dem Blickenden physisch nicht mehr zugänglich ist. Eine »mediale Grenzüberschreitung« findet Bexte hier markiert, »wie sie zur Tradition astronomischer Darstellungen gehört« (S. 19), da gerade an der Konstellation Kosmos und überschrittene Blickgrenzen die Möglichkeit gegeben ist, das Verhältnis von menschlichem Blick und optischem Medium zu reflektieren (ebd.).

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An dieser Stelle zeichnet sich das Dispositiv von Bextes Buch bereits deutlich ab: Die Figur des Ptolomäus wird im Spannungsfeld zwischen Wahrnehmungsgrenzen und optischem Instrument, gerade für den Rezipienten über das, was er nicht sieht, charakterisiert, und nicht über das, was er sieht. Mit der ptolomäischen Darstellung entwickelt sich, so zeigt Bexte, ein Figurentypus, der eine differentielle Perspektive auf die sich wandelnden Darstellungskonventionen erlaubt und gerade dadurch auch einen auf das optische Medium, das eben dem ptolemäischen Auge vorgehalten wird. An einer Darstellung in der Schrift Iter Germanicum von Jean Mabillon aus dem Jahr 1717 zeigt sich nun, dass der Hintergrund, eine perspektivisch konstruierte Landschaft, sich maßgeblich von der flächigen Anordnung der mittelalterlichen Darstellung unterscheidet, auch das optische Instrument (tubus opticus) variiert in der Darstellung; es ist aus vier Teilen zusammengesetzt und ähnelt mehr einem Teleskop denn einem linsenlosen Sehrohr, wie es noch der mittelalterlichen Darstellung entspricht. Signifikante Abweichungen zeichnet Bexte anhand der mittelalterlichen Darstellung aus dem 18. Jahrhundert nach. Während mit dem Sehrohr ohne Linse noch die Rahmung als Ausgrenzung (des Umfeldes) im Vordergrund stand, verdeckt sich diese grundlegende Bedingung von Wahrnehmung mit der Entwicklung neuerer optischer Medien zunehmend.

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Bexte behilft sich hier mit Spencer Browns Theorem der selective blindness sowie Luhmanns Diktum, dass eben bei allem Beobachten immer auch etwas Unsichtbares produziert wird. 1 Entsprechend gilt es ihm, die unbeobachtete Seite der optischen Mediengeschichten à la Kittler zu befragen, denn »[j]edes Sehrohr ist zugleich ein Blindenstab« und die Figuren der Blindheit konturieren, so Bexte, schärfer den Diskurs der Sichtbarkeit (S. 25). So eignet sich gerade die späte Erblindung Galileo Galileis als Beispiel, um einen wissenschaftstheoretischen Paradigmenwechsel nachzuzeichnen. Steht Galileis Figur einerseits für die Entwicklung des Fernrohrs zu einem wissenschaftlichen Instrument, so markiert seine Erblindung den Übergang vom Sichtbaren zum Nichtsichtbaren als konstitutives Moment einer Erweiterung der »Anschauungsinstrumente«. Galilei hatte an der Bewegung der Erde, die sich eben nicht vom Beobachtungsstandpunkt der Erde selbst beobachten lässt, den blinden Fleck entdeckt, der eben nicht durch sinnliche Wahrnehmung eingeholt werden kann, sondern nur in der Verlängerung durch eine anschauunglose Mathematik (S. 25-27).

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Darüber hinaus zeichnet sich mit der Entwicklung vom Sehrohr zum Fernrohr eine markante Metaphorisierungslinie ab, die bis in die Gegenwart reichen wird. Das optische Instrument (insofern es mit Vergrößerungsgläsern ausgestattet ist und so zur Prothese menschlicher Sehfähigkeit wird), wird zu einem Modell des Auges par excellence (S. 27). Dieser Umstand führt Bexte zu einer bemerkenswerten Beobachtung, die sich verblüffend in den Mensch-Maschine-Diskurs seit René Descartes’ Beschreibung des Menschen als Uhrwerk einordnet: »Nun wird dem Auge nicht mehr nur ein Instrument vorgehalten, sondern es werden ihm Vorhaltungen gemacht: Erweise dich nach Maßgabe des Modells!« (S. 28) So zeichnet sich denn auch gerade am Fehlschluss Descartes’ in seiner Schrift Dioptrique von 1637, die Auge, camera obscura und Fernrohr in eine epistemische Ordnung des Linsensystems einordnet, eben die Dioptrik, das Risiko einer solchen Analogiebildung ab: Wenn das Auge wie ein Linsensystem funktioniert, dann liegt die Inversion der Analogie nicht fern: Das Auge sieht und das Teleskop sieht ebenfalls! Damit ist ein Dispositiv geschaffen, dass Bexte bis an die Schwelle des 18. Jahrhunderts mit der Entstehung der physischen Optik führt.

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2- Tous ce que nous voyons n’existe pas (Raoul Hausmann 1968)

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Mit dem nächsten Kapitel knüpft Bexte implizit an die von Galilei aufgeworfene Frage nach der Beobachtbarkeit der Bewegung eines Körpers, dessen Bewegung man teilt, an, indem er an der Frage, wie man eine Rotation malt, den Unterschied zwischen Sichtbarkeit und Visualität illustriert. Visualität siedelt sich auf einer Ebene zweiter Beobachtung an, denn sie »fragt nicht nach dem Sehen als solchem, sondern danach wie das Sehen gesehen wird« (S. 34). Die Gestalt des Blinden ermöglicht so überhaupt den Überritt auf diese Metaebene der Visualität; jede neue optische Erfindung, wie das Teleskop oder das Mikroskop, konfrontieren den Menschen jedoch auch mit der Erfahrung einer gesteigerten und einer entmächtigten Seite. Denn die Leistungsfähigkeit des menschlichen Auges ist einerseits steigerbar, gleichzeitig erweist es sich angesichts der erweiterten Fähigkeiten als unvollständig, als nackt (vgl. S. 37).

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Bexte spitzt diese Ambivalenz auf einen Riss in den Diskursen um das Sichtbare im 17. Jahrhundert zu: »Ihr Inbegriff ist eine Paradoxie: blindes Vertrauen zum Sichtbaren.« (S. 38) Dieser Riss in den Diskursen spiegelt sich an der Diskussion um die Darstellung und Darstellbarkeit von rotierenden Rädern wider. Während in der Rede von Philips Angel Lof der schilder-konst von 1642, in der einige Regeln über die Darstellung von Bewegung formuliert werden, noch kein Krisenmoment über die Trennbarkeit von Ding und Erscheinung auftritt, obwohl es bereits mitformuliert ist, wird gerade dieses von Angel beschriebene Phänomen (dass nämlich Pferde auf Gemälden in Bewegung sind, Wagenräder dagegen stillstehen) in der physiologischen Optik, wenn die Zeit in die Kette des Lebens tritt 2 , zum wissenschaftstheoretischen Problem par excellence avancierten. Der Gegenstand der Nachahmung spaltet sich in einen verschwindenden Körper und ein erscheinendes Trugbild, was entsprechende Konsequenzen für die Konzeption von mimesis hat: Sie muss die Verzerrungen der (menschlichen) Wahrnehmung einbauen, um das Trugbild, welches sich durch die Bewegung ergibt, entsprechend darzustellen. Während bei Angel noch ein grundsätzliches »Vertrauen zur Sichtbarkeit« (S. 44) herrscht, denn die Beobachtungen münden lediglich ins eine »positive Anweisung für Maler«, nicht in eine »Kritik des Scheins« (ebd.), wird selbige Beobachtung für die folgende Generation zum Krisenfall.

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3- Bild(n)er der Wahrnehmung

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Die Krise des Scheins entzündet sich im Folgenden am Spannungsverhältnis zwischen Bildnern und Bildern der Wahrnehmung. Über das so genannte Phänomen der Nachbilder, die Robert Warning Darwin 1786 als ocular spectra in seinem Aufsatz Philosophical Transactions beschreibt und an Hand von Exempel-Bildern für den Leser praktisch verfügbar macht, zeichnet Bexte eine Linie über Goethes Reflexion der Augentäuschung in seiner Farbenlehre hin zur konstitutiven Rolle der Augenlider bei der Wahrnehmung. Deren entscheidende Rolle wird zwar schon bei Diderot als Diskussionsfrage aufgeworfen, die Zuspitzung erfolgt dann bei George Adams in dessen Essay on Vision von 1789: Denn »nur weil die blinzelnden Lider verschwinden, erscheint ein lückenloses Bild der Außenwelt« (S. 66).

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Der Weg zum blinden Fleck der Wahrnehmung als physiologischem Phänomen ist geebnet. Entsprechend mündet jedoch die Entdeckung der Physiologie, die ihre Probleme in physiologischen Begrifflichkeiten (impressions, sensations) verhandelt, in eine Konfrontation mit der Physik des angehenden 19. Jahrhunderts: Die physikalische Bewegung steht der physiologischen Impression (S. 67f.) unvermittelt gegenüber. Bexte mahnt an dieser Stelle zu einer diskursanalytischen Betrachtung der Optik. Ein ausschließlicher Rückgriff auf optische Traktate zieht in der Logik der Argumentation einen blinden Fleck nach sich und verstellt entsprechend einen differenzierten Blick auf die Problemkonstellationen (vgl. S. 68): Spinnräder, Radspeichen, glühende Kohlen in Bewegung sind die entscheidenden Gegenstände, an denen sich ein ganzes Wissens-Dispositiv um das Verhältnis von Wahrnehmung und Nicht-Wahrnehmung kristallisiert.

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4-Diderots Lettre sur les Aveugles oder die Urszene des Sehens

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Seit John Lockes zweiter Ausgabe von An Essay on Human Unterstanding (1694) war mit dem Molyneux-Problem der erste, unschuldige Blick zu einem philosophischen Problem gegeben. Molyneux hatte brieflich die Frage an Locke gerichtet, ob ein Blinder, der über den Tastsinn einen Würfel von einer Kugel zu unterscheiden wisse, nach Erlangung des Sehsinns, diese Gegenstände auch visuell zu unterscheiden wisse (vgl. S. 76). Entsprechend philosophischer Natur war Diderots Interesse, als er 1749 zu einer Operation an einem Blindgeborenen eingeladen wird. Obgleich sich das Operationsereignis als eine Farce herausstellte, regt das Ereignis Diderot zu seinem Essay Lettre sur les Aveugles à l’usage de ceux qui voient (1749) an. Es handelt sich um einen Dialog, in dem Diderot mit einem Blinden spricht und ihm zu erklären sucht, dass sein Blick in den Spiegel seinen dreidimensionalen Körper zum zweidimensionalen Bild macht (vgl. S. 77). Der Blinde kann nicht verstehen und erwidert: »Das sind also zwei Sinne, die eine kleine Maschine in Widerspruch bringt.« 3 Der Begriff der machine ist in vielerlei Hinsicht ein Begriff, der an der Schnittstelle zwischen Wahrnehmung, Bild und Medium steht, markiert er doch einerseits die Applikation auf Gemälde, anderseits auf Bühnentechnik und Bühnenbild, die machine ist aber auch als Ausdruck für den Spiegel und das Opernglas zu finden (vgl. 80). Damit wird klar, dass sie als Vorreiter für einen modernen Medienbegriff gelten kann: »Machine kann demnach sowohl das beobachtete Objekt (Bühnenbild) als auch das Medium der Beobachtung bezeichnen.« (S. 80)

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Diderot betrachtet mit Hilfe einer solchen optischen Maschine, einer Lunette, das Gemälde Vu du Port de la Rochelle (1763), welches den Rahmen ausblendet und damit den Eindruck erweckt, der Betrachter blicke direkt auf eine Landschaft. Eine doppelte Verwerfung findet Eingang in seine zugehörige Rezension von 1763: der Ausschluss des Rahmens und das Vergessen des Gemäldes (vgl. S. 82f.). Beides wird ermöglicht durch das Medium. »Die optische machine entgrenzt die machine peinture. Diese wird so unsichtbar, dass sie als Natur erscheint.« (S. 83). Bexte führt den Rezipienten elegant zurück auf seinen Pfad, denn gerade die Nicht-Wahrnehmung, also die Exklusion des Rahmens, der Medialität des Gemäldes, sowie das diese Exklusion bedingende Medium generiert ihrerseits erst eine Wahrnehmung. »Die Überbrückung optischer Distanz bei Unterbrechung taktier Kontakte ist der sensualistisch entscheidende Effekt geschliffener Gläser: Sie verrücken das Verhältnis von Auge und Hand.« (S. 85) Wo Diderot in den Salon des Louvre ging, um Kunst zu entdecken, fand er mithilfe einer kleinen machine die Natur. Die Konsequenzen für den Bildbegriff stehen fortan unter dem Primat optischer Medien.

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5- Cicero, Kleist und Friedrich - oder die Genealogie einer Wendung

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Kleists Berliner Abendblätter zehren bekanntlich von der Poetisierung realer Fakten, der Umstand aber, dass er gerade in einer Rezension von Caspar David Friedrichs Gemälde Der Mönch am Meer (1809) seine Bemerkungen von 13. Oktober 1810 zur Betrachtung des Gemäldes mit der Formel »als ob einem die Augenlieder weggeschnitten wären« schließt, wird für Bexte zur Spur innerhalb eines abendländisches Gefüges von Sehen und Blindheit. Einer Spurenfolge durch das kleistsche Werk folgt eine in die optischen Traktate des 18. Jahrhunderts, wo sich an Hand der Augenlider eine Unterwanderung geometrischer Diskurse durch physiologische Fragestellungen ablesen lässt. Von hier aus ebnet Bexte auch den Weg zu dem Gemälde Regulus (1828/37) von Joseph Mallord Turner und enthüllt das Geheimnis von der Genealogie der kleistschen Wendung bei der Betrachtung des Mönchs am Meer. Sie eröffnet einerseits eine Neukonfiguration des Verhältnisses von Ästhetik und Aisthesis (vgl. 108) und erlaubt so erneut ein Revisiting des Blinden im Verhältnis zum Sehenden.

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6- Blinde Mathematiker

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Nicholas Saunderson (1682-1739), ein als Säugling erblindeter Mathematiker, lehrte bis zu seinem Tod als Professor of Mathematica in Cambridge. Dass ein Portrait von 1740 den Mathematiker mit »einer Armillarsphäre als traditionelles Signum des Himmelskundigen« (S. 113), sowie geschlossenen Augen und fühlenden Händen in »steiler Verkürzung« (ebd.) zeigt, ist für Bexte der Hinweis, dass der blinde Mathematiker in der Rezeption seiner Fähigkeiten in eine Linie mit der cartesischen Lösung, Gesichtswahrnehmung als geometrisches Problem aus Winkelfunktionen zu definieren (vgl. 114) gebracht wurde.

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Bexte weist auf den eigenwillig ambivalenten Diskurs um den Zusammenhang von Mathematik und Blindheit hin, einerseits werde er von außen zugeschrieben, andererseits von innen her (durch eine Reihe erblindender Mathematiker) reflektiert. So scheint dem Topos vom blinden Mathematiker ein Platonismus eingeschrieben, der eine Welt der Ideen durch bloße Anschauung einer Welt der zweiten Bilder vorzieht. Das Lob der Blinden stehe also in einer platonischen Tradition, der jedoch den Gedanken eines Galileo Galilei, dass es Einsichten in die Natur gebe, die der Sicht entzogen seien, entgegenstehen (vgl. 118), wie etwa die Beobachtung der Bewegung der Erde. Auch bei Leonhard Euler (1707-1783) findet sich dieser Gedanke im Bezug auf die Schifffahrt. Euler stehe an der Schnittstelle zwischen Blindenlob und interner Reflexion des Zusammenhangs von Erblindung und Mathematik, so Bexte. So wurden seine zahlreichen Augenkrankheiten und Operationen von Medizinern dokumentiert und schließlich auch 1983 von René Bernoulli unter dem Titel Leonard Eulers Augenkrankheiten zusammengefasst. Jedoch legte auch Euler selbst eine Spur, die Bexte dankbar als den Einbruch des Raums in die Transkription von auf einer Karte dargestellten Problemen in eine Letternfolge (vgl. 124) fasst.

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Die Konsequenzen bleiben an dieser Stelle vage und werden in eine Abschlussreflexion zu dem blinden Topologen Bernard Morin (geb. 1931) überführt, die ihrerseits die erscheinende Problematik verschwindend gering hält; Morin wurde 1967 durch die Lösung eines topologischen Problems bekannt, dass Stephen Small 1959 aufgebracht hatte, nämlich, »ob sich das Innere einer geschlossenen Kugel durch Eversion nach Außen stülpen lasse« (vgl. 125). Die Möglichkeit von Wahrnehmung ist entzogen, und so mag es vor dem erwähnten epistemischen Hintergrund kein Zufall sein, wenn gerade der Blinde die höherdimensionalen Räume gedanklich durchkreuzt, um eine Lösung auf ein Problem zu finden, das aller Wahrnehmung entzogen ist. Die Wendung, die Bexte seinem letzten Abschnitt gibt, mag für FilmwissenschaftlerInnen, die sich mit der Reflexion von Visualität in der Filmtheorie der 20er Jahre beschäftigen, fast schon als programmatischer Aufruf gelten: Denn in Anlehnung an Morin entstand eine wahre Bilderflut, welche die rein gedankliche Erfahrung des blinden Topologen zu visualisieren versuchte. Damit ist implizit kein gewöhnlicher Auftakt zu einer Revision der Filmgeschichte als Mediengeschichte proklamiert, sondern einer, der das visuelle Königsmedium vielleicht gerade im Spannungsfeld von Sehen und Blindheit neu zu denken erlaubt.

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7-George Bataille und das Münzkabinett in der französischen Nationalbibliothek

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Das siebte Kapitel ist mit George Bataille vornehmlich einem Denker gewidmet. Während das ganze Unternehmen der Publikation eine eigentümliche Nähe zu Michel Foucaults Geschichte des Auges über Naissance de la clinique. Une archéologie du regard médical (1963) bis hin zu Surveiller et punir. Naissance de la prison (1975) auszeichnet, zeigt sich gerade in diesem letzten Kapitel auch die Ferne zum foucaultschen Projekt, indem sich Bexte ausdrücklich von einer Lesart, wie sie Foucault für Bataille und dessen Begriff der Überschreitung vorschlägt, distanziert. Bataille wird im Kontext seines Arbeitsplatzes, nämlich des Cabinet des Médailles, das Münzkabinett der Bibliothéque Nationale in Paris, beleuchtet, wo der vorrangig für sein Werk Historie de l’oeil (1928) bekannte Autor als Religionswissenschaftler tätig war. Bexte schreibt dem Umstand, dass Bataille im Jahr 1928 zwei Publikationen veröffentlichte, Signifikanz zu. Neben dem obszönen Werk erschien in dem numismatischen Fachblatt Aréthuse noch ein größerer Aufsatz zur Münzkunde. Gerade mal zwei Jahre später galt dieser Text als ein Referenztext für fachwissenschaftliche Fragen (vgl. S. 129f.). Die Verbindungslinie arbeitet Bexte sorgfältig heraus: Während die numismatische Publikation aufzeigt, dass stillgelegte Zirkulationsmittel neue Zirkulationen hervorrufen, so baut die andere Publikation gerade auf dieser Erkenntnis auf und verlagert sie auf die Frage der Wahrnehmung/Nichtwahrnehmung in Begehrensprozessen. Über ein paar Umwege zeigt Bexte auf, dass die Blindenfaszination Batailles durch die Frage nach dem Raum, der sich durch Trennen und Verbinden spezifizieren lässt, motiviert ist. Die Pointe erschließt sich letztlich nur über eine genaue Lektüre und das Einbeziehen der Bildreflexionen, die Bexte in einer intermediären Konstellation immer wieder berücksichtigt.

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Fazit: Lob der Lesenden

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Das macht sein Buch aus mehrfacher Hinsicht nicht nur lesenswert, sondern auch zum Vorbild einer künftigen Medienwissenschaft aus dem Geiste der Geisteswissenschaft. Nicht nur werden gekonnt sämtliche geisteswissenschaftliche Traditionen in einen Dialog gebracht, um ein scheinbar naturwissenschaftliches Thema par excellence wie die Optik von den Rändern aus zu denken, sondern darüber hinaus agiert der Text mit feinsinnig methodischem Gespür, Bildmaterial, historische Quellen sowie Literatur und historische Fakten in einer intermedialen Konstellation aufzuzeigen und in einer transmedialen Aneignung zu präsentieren. Denn wie Bexte sein Material arrangiert, Sinnzusammenhänge und Verbindungslinien entstehen lässt, erinnert zumindest einen filmwissenschaftlich geprägten Blick stark an Verfahren der Überblendung und Montage: Im Medium des Textes ahmt Bexte Prozesse der Visualisierung nach, wie sie der Film entwickelt hatte, um uns sehen zu lassen, was wir nicht sehen können, um uns wahrnehmen zu lassen, wo die Wahrnehmung versagt. Anders als bei zahlreichen Denkern der Postmoderne steht bei ihm jedoch zu keinem Zeitpunkt der wissenschaftliche Anspruch auf dem Spiel, und das heißt die Differenz von Wissenschaft und Literatur. Dass Peter Bextes Buch in der Reihe »Bild und Text«, herausgegeben von Gottfried Boehm, Gabriele Brandstetter und Bernd Stiegler, begründet von Gottfried Boehm und Karlheinz Stierle unter so erlesenen Titeln wie Boehms »Was ist ein Bild?«, Beltings »Bild-Anthropologi«“ oder Didi-Hubermans »Überleben der Glühwürmchen« erschien, spricht ihm auch extern den Wert zu, um den es sich intern verdient gemacht hat.

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Einziges nennenswertes Manko stellt die Abbildung der zu Anfang besprochenen illuminierten Handschrift aus dem 13. Jahrhundert da. Ein Großteil der Argumentation läuft über eine Analyse der Farbgebung, die Abbildung ist jedoch in Schwarz/Weiß; das ist insofern schade, weil die Publikation eine Reihe von Farbtafeln mitliefert.

 
 

Anmerkungen

Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: Auer 2002, S. 146f.   zurück
Arthur Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt a. M. 1985, S. 294.   zurück
Denis Diderot: Brief über die Blinden, in: Philosophische Schriften. Hg. v. Theodor Lücke, Berlin (Ost): Aufbau Verlag 1961. Bd. 1, S. 49-110, S. 54.   zurück