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Skeptizismus und Modernität

Leo Perutz’ OEuvre im Kontext der Wiener Moderne

  • Jean-Pierre Chassagne: Leo Perutz et le scepticisme viennois. L’ébauche d’une éthique du désenchantement. (Collection „Les Scripturales”) Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne 2012. 248 S. Broschiert. EUR (D) 32,00.
    ISBN: 978-2-86272-605-2.
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Am Werk von Leo Perutz (1882–1957) lässt sich Vieles veranschaulichen. Zum einen die Wechselhaftigkeit literarischer Rezeptionsprozesse: Perutz war in der Zeit der Publikation seiner Romane und Erzählungen, unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit ein Erfolgsautor und bekannter Vertreter des Wiener literarisch-kulturellen Lebens, den auch seine Zeitgenossen vielfach gewürdigt hatten, der aber mit dem Anschluss, der Emigration und in der Nachkriegszeit zu einem, wie er sich selbst bezeichnete, »forgotten writer« 1 wurde, bis er in den 1980er Jahren, nicht zuletzt durch seine »Neuentdeckung«, Neuedition und Kommentierung seiner Werke zu neuer Bekanntheit kam. Zum anderen aber auch die vielschichtige Auslegbarkeit seiner Texte, die zu wiederholten narratologischen, gattungs- und interpretationstheoretischen Analysen, sowie zu verschiedenen Verankerungen im Kontext literatur- und kulturgeschichtlicher Prozesse Anlass geben können, wie dies die inzwischen nicht ganz schmale Forschungsliteratur zu Perutz beweist. 2

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Der französische Germanist Jean-Pierre Chassagne, der sich seit Jahren mit Perutz beschäftigt, hat schon seine frühere Dissertation diesem Autor gewidmet 3 , und er hat zu fast allen Romanen von Perutz Aufsätze veröffentlicht. In seinem neuen Buch nimmt er das Thema der Dissertation neu auf und bereichert es mit den Einsichten seiner narratologisch angelegten Analysen, um dadurch eine Gesamtdarstellung des Œuvres zu erarbeiten, und den Autor in einem breiteren Kontext zu situieren.

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Zielsetzungen, Methode und Aufbau

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Chassagne geht in seiner kurzen Einleitung von zwei Phasen der Perutz-Forschung aus: einer frühen Phase der Neuentdeckung, der Untersuchung allgemeiner Fragen und der Zuordnungsversuche des Autors zu Gattungen wie dem phantastischen oder historischen Roman folgte eine Umorientierung in Richtung einer »narratologischen und transtextuellen Analyse« 4 (S. 13) 5 , die sich auf die erzählerische Virtuosität der Perutzschen Texte, auf die verschiedenen Verfahren des mit mathematischer Strenge konstruierten Puzzlespiels konzentrierte, das den Leser gefangennahm und ihn unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten auslieferte.

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Die narrativen Grundzüge Perutzschen Erzählens sind jedoch, und das ist das wichtigste Postulat von Chassagne, eng mit seinen ideologischen Gegebenheiten verzahnt: »Unsere Behauptung ist es, dass die Freiheit des Schreibens mit einem grundlegenden Skeptizismus verbunden ist, der alle identifikatorischen, philosophischen, ideologischen und ethischen Sicherheiten scheitern läßt« (S. 14). Diese wesentliche Eigenschaft der literarischen Produktion von Perutz sei bemerkenswerterweise, so Chassagne, bis heute nicht untersucht worden. Obwohl diese These nicht ganz richtig ist – Perutz’ Skeptizismus fand schon mehrfach Erwähnung 6 , er wurde als »hartgesottener Skeptiker« 7 bezeichnet oder als in der Wiener »intellektuellen Atmosphäre der Jahrhundertwende mit ihrer kritisch-skeptizistischen Geisteshaltung tief verwurzelte[r] Autor« 8 charakterisiert, der »zeitlebens ein entschiedener Skeptiker geblieben« 9 ist –, kann es als Verdienst Chassagnes angesehen werden, dass er seine These im ganzen Buch konsequent durchhält und sie in seinen Textanalysen aus unterschiedlichen Aspekten beleuchtet. Er behauptet nicht, Perutz wäre ein Theoretiker des Skeptizismus gewesen, er meint aber, dass sein Œuvre vielfach in den Denkrichtungen der zeitgenössischen Philosophie verwurzelt ist und diese zumindest implizit thematisiert.

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Nach einer kurzen summarischen Übersicht über die Geschichte des Skeptizismus diagnostiziert Chassagne »die Erneuerung des skeptischen Denkens am Anfang des 20. Jahrhunderts« (S. 16) und nennt Nietzsche, Mach und Mauthner als Vertreter eines Nachdenkens über Geschichte, Ich-Zerfall und Sprachskepsis; deren Gedanken hätten die geistige Atmosphäre des Fin-de-Siècle Wien tiefgehend geprägt und neben seinen Zeitgenossen wie Hofmannsthal, Musil, Wittgenstein, Karl Kraus und (etwas später) Hermann Broch eben auch Perutz beeinflussen können, der ein aktiver Teilnehmer am Wiener intellektuellen Leben der Vor- und Zwischenkriegszeit war. Dementsprechend setzt sich Chassagne zum Ziel zu demonstrieren, wie die Probleme der Identitätskrise, der Infragestellung historiographischer Modellbildung, des Sprachzerfalls und der Erschütterung der Wertesysteme durch »die Virtuosität seiner Erzählkunst« (S. 14) in den Texten thematisiert werden, ohne dass Perutz auf die erwähnten Fragen explizit Bezug nimmt. Es ist vielmehr die »dem Autor eigene ironische narrative Strategie« (S. 19), die den Leser mit waghalsigen narrativen Konstruktionen konfrontiert und ihn oft vor einem »die Wirklichkeit von den Scheinbildern trennenden tiefen Abgrund« (ebd.) allein lässt.

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Demgemäß gliedert sich das Buch nach der Einleitung in drei große Kapitel: im ersten wird der Zerfall der Identität des Individuums durch sein Verhältnis zur individuellen sowie zur historischen Zeit behandelt, im zweiten untersucht Chassagne die Tücken der Sprache und die Krise der Werte, um im dritten am Beispiel der Perutzschen Infragestellung der Diskursformationen der Historiographie, der Wissenschaft und der Religion die Möglichkeiten einer neuen Ethik zu umreißen.

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Zeit und Identität

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Im ersten thematischen Kapitel erforscht Chassagne die durch die Identitätskrisen erfolgten Veränderungen der Zeitwahrnehmung, die mit dem Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie einhergingen und in Perutz’ Romanen auf zwei Ebenen problematisiert werden: einerseits auf einer subjektiv-individuellen, andererseits auf der historischen Zeitebene (S. 23).

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In der Analyse der subjektiv-individuellen Zeiterfahrung sind es einerseits die Motive der Erinnerung und des Vergessens, andererseits die Verzerrungen des Zeitempfindens, auf deren Grund Chassagne die Charakteristika Perutzschen Erzählens herausarbeitet. Er zeigt, wie die Figuren zwischen Erinnerung und Vergessen ihre Vergangenheit suchen, rekonstruieren, korrigieren oder verlieren. Die Textbeispiele aus Dienstag, 12. Oktober 1916 und Wohin rollst du, Äpfelchen? belegen, wie »die Vergangenheit in die die Gegenwart eindringt« (S. 24) oder wie sie, etwa in Die dritte Kugel, »dem Versuch widersteht, sie ins Gedächtnis zurückzuholen« (ebd.). Außerdem kann die Erinnerung »durch die Erfindung einer Vergangenheit gestört werden, die es der Person erlaubt, ein ihrem Ehrgeiz entsprechenderes Selbstbild zu entwerfen« (ebd.) wie etwa in Der Meister des Jüngsten Tages und in St. Petri-Schnee. Sie kann schließlich aber auch »brutal an die Oberfläche des Bewußtseins dringen« (ebd.), und damit die Erinnerungsarbeit verhindern, wie in Das Gasthaus zur Kartätsche. Die unterschiedlichen Typen und Formen des Erinnerns und seines Scheiterns arbeitet Chassagne in sorgfältigen Analysen dieser Texte heraus, die die besonderen narrativen Verfahren der Demaskierung der Widersprüche der Figuren oder ihrer Verstrickungen in verzerrten Zeiterfahrungen kennzeichnen. Chassagne ist der Meinung, all dies sei »eine Veranschaulichung des skeptischen Denkens von Perutz« (S. 51), indem das Individuum keine Kontrolle mehr über die Zeit besitzt und dadurch in seiner Identität erschüttert wird.

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Wichtigen Platz nehmen Chassagnes Erörterungen über die Behandlung der historischen Zeit und der Geschichte, mithin die Frage der Gattung des historischen Romans bei Perutz ein, die bei ihm – in Anschluss an Gepperts These vom »anderen« historischen Roman 10 – eine moderne Form annimmt, »die den klassischen historischen Roman dekonstruiert, ohne auf die Freude am Erzählen zu verzichten« (S. 53). So kann das mit seiner Vergangenheit konfrontierte Individuum die Geschichte zu seiner Entlastung benutzen, oder sich mit ihrer Hilfe gegen seine eigenen Ängste schützen, wie dies in Der Meister des Jüngsten Tages bzw. in St. Petri-Schnee geschieht, wobei die Geschichte letzten Endes doch nicht als Zuflucht dienen kann (Nachts unter der steinernen Brücke): die Geschichte holt das Individuum stets ein, und sie vermag ihm keine fertigen Antworten auf seine Lebensfragen zu geben.

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Obwohl bestimmte Motive und Themen bei Perutz immer wiederkehren, kann, so Chassagne, im Hinblick auf die Rolle der Figur in der Handlung eine gewisse Entwicklung nachgewiesen werden, die nicht ganz unabhängig von Perutz’ Lebensumständen ist. In der ersten Phase zwischen 1911 und 1923 »steht die historische Persönlichkeit vorn auf der Bühne und sie wird, freiwillig oder mit Gewalt, in den Mittelpunkt der Ereignisse geschleudert« (S. 63), so in Die dritte Kugel, Der Marques de Bolibar und Turlupin. In der zweiten Phase zwischen 1928 und 1936 »zieht sie sich in die Privatsphäre zurück und nimmt nur sehr entfernt an den Umwälzungen ihrer Zeit teil« (ebd.) wie im Schwedischen Reiter 11 , um dann in der dritten Phase, d.h. in den zwei letzten Romanen »einem klaren und einfachen Verschwinden der Hauptfigur und […] einer Vermehrung der Nebenfiguren« (ebd.) den Schauplatz zu überlassen. Chassagnes Periodisierung mag im Groben zutreffen; die hier eher summarischen Analysen der in Schaffensphasen eingeteilten Texte akzentuieren aber über alle mögliche »Entwicklung« hinaus die Infragestellung der historischen Persönlichkeit bzw. der Persönlichkeit in der Geschichte, die Rolle des Zufalls und der Kausalität als allgemeine Charakteristika und heben somit die Funktion der »Perutzschen narrativen Ironie« (S. 68) hervor.

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Chassagne betont, dass Perutz für seine historischen Romane immer solche historischen Krisenzeiten der Neuzeit auswählt, in denen die Figuren unausweichlich scheitern, womit der Autor sich von dem optimistischen Fortschrittsglauben der Aufklärung entfernt und in der Geschichte Momente der Regression, der Stagnation und der Willkür hervorhebt. Wiederholt werden dabei die Romane Die dritte Kugel, Der Marques de Bolibar, Turlupin, Nachts unter der steinernen Brücke analysiert: dabei werden immer andere Aspekte herangezogen – ein Verfahren, das, zumal es in den folgenden Kapiteln des Buches weitergeführt wird, den Eindruck einer gewissen Zirkularität hinterlässt.

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Perutz vertritt, so lassen sich Chassagnes Ausführungen zusammenfassen, »eine entschieden moderne Auffassung des historischen Romans« (S. 87), die mit einem sich verfremdender Ironie bedienenden Skeptizismus verbunden ist; diese Konzeption verhindert jede Inanspruchnahme von Perutz für Ideologien oder als Orientierungshilfe für die Gegenwart.

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Sprachverlust und Werteverlust

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Im zweiten Kapitel untersucht Chassagne den Identitätsverlust aus der Perspektive eines allgemeinen Wertezerfalls, der sich auch in verschiedenen Formen eines Sprachzerfalls bei den Perutzschen Figuren äußert; sie veranschaulichen die bei Mauthner, Hofmannsthal, Wittgenstein und Karl Kraus verschiedentlich diagnostizierte Sprachkrise, ohne dass ihr Autor sich für die theoretischen Debatten nachweislich interessiert hätte. Die Sprache der Figuren kann, so Chassagne, ihre Absichten verdecken, aber auch die religiösen, philosophischen, metaphysisch-religiösen Diskurse aushöhlen, entmystifizieren, wie dies an den Beispielen der im vorangehenden Kapitel auch schon analysierten Romane (Die dritte Kugel, Nachts unter der steinernen Brücke, Turlupin, Der Judas des Leonardo, Der Marques de Bolibar, Wohin rollst du, Äpfelchen…, Der Meister des jüngsten Tages) belegt wird. Die Sprache signalisiert mehrfach auch das problematische Verhältnis des Individuums zur Wirklichkeit, sie entleert sich jeden Sinns und bezieht sich nur auf sich selbst, oder sie manifestiert, wiederum die Wiener Sprachkritik illustrierend, »die Diskrepanz zwischen eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung« (S. 134). Chassagne betont wiederholt, dass die Nähe von Perutz zur Sprachkritik und Sprachkrise seiner Zeit in seinen Werken nie einen direkten Ausdruck findet, sondern lediglich in der narrativen Struktur, vor allem auf der Figurenebene, deutlich wird, denn »seine Kunst besteht darin, dass er seinen Leser für dieses Problem mit Hilfe von konkreten Beispielen sensibilisiert, die sich vollständig in die Handlung integrieren und zu ihrem Fortschreiten beitragen« (S. 139).

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Die Krise der Sprache und ihr Sinnverlust sind – so argumentiert Chassagne – eng mit dem Zerfall der individuellen und sozialen Werte und mit dem Verlust ihrer Allgemeingültigkeit verbunden, der sich mit dem Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (aber eigentlich auch schon davor) vor sich ging. Hier betont Chassagne den Einfluss des historischen und politischen Kontextes seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts, in dem Perutz’ Werke entstanden sind. In seinen Romanen äußere sich das alles durch Motive wie »das Geld, den gesellschaftlichen Ehrgeiz und den Opportunismus« (S. 141), die »das Funktionieren der Gesellschaft bestimmen, die menschlichen Beziehungen entstellen und sie auf dem Altar persönlicher Interessen opfern« (ebd.); Chassagne belegt das anhand der Analyse von Motiven der Romane Die dritte Kugel, Der Judas des Leonardo, Zwischen neun und neun und Der schwedische Reiter. Perutz aber, meint Chassagne, versuche nicht wie Hermann Broch, die Ursachen des Wertverlusts zu finden: »er beschränkt sich auf eine Diagnose der Anzeichen der Krise in verschiedenen Epochen der Neuzeit« (S. 147).

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So steht es auch mit der Frage des Glaubens: der gegenüber Ideologien und dem Gottesglauben skeptische Perutz verwendet eine Erzählstrategie, »die die Instrumentalisierung des Göttlichen durch die Figuren demaskiert« (ebd.); die skeptische Ironie des Autors soll eine Distanzhaltung des Lesers herstellen. 12 Am Beispiel der wichtigsten Figuren der in den in früheren Teilen des Buches erwähnten Texte zeigt Chassagne auch weitere Aspekte des Problems auf, indem er darauf hinweist, wie durch die gestörte Kommunikation von Mensch und Gott das Göttliche und damit auch die Begriffe des Guten und des Bösen jeden Sinn verlieren, oder der göttliche Wille bzw. Gott dem Individuum unerforschlich und unerkennbar bleiben, so dass es jede Orientierung verliert – was auch mit den narrativen Verfahren der Verunsicherung durch das Fehlen auktorialer oder verlässlicher narrativer Erzählinstanzen nachvollziehbar ist.

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Die Verunsicherung durch die Narration ist ein allgemeiner Zug Perutzschen Erzählens, den Chassagne mehrfach hervorhebt, denn sie bewahrt den Leser vor eindeutigen Auslegungen und lässt die Texte offen. Umso überraschender ist es, dass Chassagne bei einem Text eine Ausnahme macht und ihn als Zeichen einer positiven »Botschaft« liest. Es geht hier um die Novelle Herr, erbarme dich meiner!, die Perutz 1929 geschrieben und 1930 als titelgebenden Text seines Novellenbandes veröffentlichte. 13 Nach dem Aufweis der Sinnentleerung der Begriffe ›Gott‹, ›Schicksal‹ und ›Zufall‹ am Beispiel des Schwedischen Reiters und anderer Romane behauptet Chassagne hier, die Novelle »entfernt sich anscheinend von dem von Perutz gewöhnlich geäußerten Skeptizismus« (S. 160), und zwar durch ein narratives Verfahren, nämlich dass »sich der Erzähler, und nicht die Figur, auf eine göttliche Instanz beruft« (ebd.), außerdem auch dadurch, dass die Gottesanrufung der Figur Woloschyns »keine Instrumentalisierung Gottes ausdrückt« (S. 162) und somit, in Umkehrung der Perutzschen Ironie, die Erfahrung des Zweifels als notwendigen Schritt für die Erlösung andeutet. Chassagne räumt ein, dass die Figur Woloschyn eine Ausnahme darstellt und sein Weg nur ein möglicher ist, auf dem alle anderen Figuren der Perutz-Texte scheitern; gleichwohl spricht Einiges gegen seine Interpretation. Zum einen die Tatsache, dass Gottes Name im Prozess der Dechiffrierung selbst nur als Chiffre fungiert, nämlich als Werkzeug verwendet und somit instrumentalisiert wird. Weit schwerer wiegt zum anderen die Tatsache, dass der Status der Erzählinstanz in der Novelle bei weitem nicht so klar ist, wie dies von Chassagne angenommen wird: Bettina Clausen 14 und Hans-Harald Müller 15 haben in ihren Analysen die Unsicherheiten in dieser Frage betont. Chassagnes These, nach der die Novelle zu deuten wäre als »die positive Rückseite eines ernüchterten Humanismus, der allein das Fehlen des einzigen Wertes unterstreichen kann, den er zu siegen sehen wünschte« (S. 164), wäre auch noch mit dem Hinweis auf die Stellung der Novelle in Perutz’ Œuvre zu widersprechen, da die späteren Werke von Perutz eben jene konsequente Skepsis weiterführen, die in dieser Novelle angeblich aufgegeben wurde. 16

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Utopie, Negation, Nostalgie

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In der dritten Runde seines Durchgangs durch Perutz’ Œuvre gelangt Chassagne zu der Frage, ob Perutz’ radikaler Skeptizismus und die Dekonstruktion der Narration und der Wertsysteme zu einem radikalen Nihilismus führen oder doch eine gewisse positive Aussicht eröffnen. Hier sieht Chassagne »die immerhin schwache Emergenz einer neuen Ethik des Menschlichen« (S. 167), die »der Leser hinter dem Perutzschen Relativismus und der Ablehnung jeder utopistischen Versuchung als eine mit dem Leben versöhnten Menschlichkeit erahnen kann« (S. 168). Um diese These zu stützen, lässt Chassagne erneut die im vorhergehenden Kapitel schon behandelten Fragen der Perutzschen Subversion der historiographischen, wissenschaftlichen und religiösen Diskurse seiner Zeit Revue passieren, indem er erneut die Romane Turlupin, Der Marques de Bolibar, Der schwedische Reiter, Nachts unter der steinernen Brücke, Zwischen neun und neun, Der Meister des Jüngsten Tages und St. Petri-Schnee auf diese Problematik hin analysiert und – Perutz nochmals im ideologisch-kulturellen Kontext seiner Zeit situierend – die Ambivalenz der Texte wiederum hervorhebt.

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Letzten Endes entwirft Chassagne ein Bild der »Perutzschen Ethik der Desillusionierung« (S. 204), die – seiner Meinung nach im Gegensatz zu Broch – keine Lösung und damit keine Utopie kennt, wie dies an Textbeispielen und an den Typen der Frauenfiguren (S. 208 ff.) abermals vorgeführt wird. Immerhin lässt er am Ende die Möglichkeit des Verzichts auf die konsequente Skepsis offen, und zwar unter Verweis auf die schon erwähnte Novelle Herr, erbarme dich meiner! sowie im Hinblick auf das Ecce homo-Kapitel des Romans Nachts unter der steinernen Brücke, das er als »eine Mahnrede an das Mitleid für die leidende Menschheit« (S. 217) auffasst. Chassagne verbindet diese Interpretation freilich mit der Beteuerung ihrer Ungewissheit: »der Leser ist darauf verwiesen, den unausgesprochenen Humanismus von Perutz auf Grund der vielfachen Illustrationen seines Misslingens zu rekonstruieren« (S. 222).

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Nach einer Zusammenfassung der Ergebnisse seiner Analysen unterstreicht Chassagne die Aktualität von Perutz’ Werk bzw. der ethischen Konsequenzen seiner Werke und erklärt damit auch seine Neuentdeckung gegen Ende des 20. Jahrhunderts: Perutz lasse sich nicht für die Postmoderne reklamieren, sein Werk, das die Krisen seiner Zeit aufzeigt, sei aber »ein unbestreitbarer Nachhall des Scheiterns der ideologischen und ethischen Systeme der heutigen Welt« (S. 230).

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Fazit

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Leo Perutz’ Œuvre erhält erfreulicherweise immer mehr die ihm gebührende Aufmerksamkeit und Zuwendung: die Besonderheiten seines Erzählens, die alle Sicherheiten menschlichen Lebens in ironischer Brechung und durch gewagte narrative Konstruktionen aufzeigt und zugleich auch die Ängste und Erschütterungen seiner Zeit erahnen lässt, werden bei Jean-Pierre Chassagne in seinem mehrfachen »Rundgang« durch die Werke demonstriert. Der daraus resultierende Eindruck von Zirkularität und die Diskutierbarkeit der Festlegung der erwähnten zweier Texte auf eine vereindeutigende Interpretation beeinträchtigen die Vorzüge seiner Arbeit kaum: die gewissenhafte Befolgung seiner Konzeption und die Demonstration der Kontextualisierbarkeit von Perutz’ Werken, ohne dabei den Autor allzusehr für bestimmte Ideologien in Anspruch zu nehmen. Die Lektüre seines Buches gewährt dem Leser den Einblick in zahlreiche analytische Details, anregende Beobachtungen und zugleich auch einen Gesamtblick auf das Œuvre selbst – Chassagne hat damit einen gewichtigen Beitrag zur mittlerweile internationalen Perutz-Forschung geleistet.

 
 

Anmerkungen

Perutz’ Brief an Gerty Hanemann am 4. 5. 1946, zit. nach Hans-Harald Müller: Leo Perutz. Biographie. Wien: Zsolnay 2007, S. 335.   zurück
Eine umfassende Perutz-Bibliographie, die sowohl die Ausgaben von Perutz’ Texten als auch die Fachliteratur umfasst, hat Michael Mandelartz zusammengestellt, vgl. Michael Mandelartz: Bibliographie Leo Perutz. In: Tom Kindt / Jan Christoph Meister (Hgg.): Leo Perutz’ Romane. Von der Struktur zur Bedeutung. Tübingen: Niemeyer 2007. S. 177–204. Eine aktualisierte Online-Version ist zu finden auf der Internetadresse: http://www.kisc.meiji.ac.jp/~mmandel/recherche/perutz.html (einges. am 17. 7. 2013).   zurück
Jean-Pierre Chassagne: Le scepticisme dans l’œuvre narrative de Leo Perutz. Thèse de Doctorat, Université Grenoble III, juin 1999.   zurück
Übersetzungen des französischen Textes von der Verfasserin.   zurück
Zu den Vertretern zählt er neben Hans-Harald Müller sich selbst sowie Aust, Eichner, Krieger, Martínez, Rauchenbacher: die Aufzählung scheint allein schon angesichts der eigenen Bibliographie Chassagnes nicht vollständig zu sein (mindestens Tom Kindt und Jan Christoph Meister wären unbedingt noch dazu zu zählen, deren 2007 herausgegebener Sammelband mit den Analysen der Perutzschen Romane bedauerlicherweise keinen Eingang in Chassagnes Literaturliste gefunden hat).   zurück
So z.B. in Müllers früherer Perutz-Biographie, wo es über den Umgang mit dem historischen Roman bei Perutz heißt: »Perutz’ unbekümmert konstruktiver Umgang mit der Geschichte ist ein Resultat jenes Geschichtsskeptizismus, der in der Nachfolge Schopenhauers und Nietzsches in der deutschen und österreichischen Literatur spätestens nach der Jahrhundertwende Platz griff« (Hans-Harald Müller: Leo Perutz. München: Beck 1992, S. 104).   zurück
Hans-Harald Müller: Nachwort. In: Leo Perutz: Der Marques de Bolibar. Wien: Zsolnay 1989, S. 239–271, hier S. 270.   zurück
Tom Kindt / Jan Christoph Meister: Einleitung: Leo Perutz’ Romane. In: Tom Kindt / Jan Christoph Meister 2007 (Anm. 2), S. 1–9, hier S. 1.   zurück
Ebd., S. 9.   zurück
10 
Vgl. Hans Vilmar Geppert: Der »andere« historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung. Tübingen: Niemeyer 1976. Geppert verortet Perutz’ historisches Erzählen heutzutage sogar im Umfeld postmoderner literarischer Geschichtsdeutungen, vgl. Hans Vilmar Geppert: Der Historische Roman. Geschichte umerzählt – von Walter Scott bis zur Gegenwart. Tübingen: Francke 2009, S. 305 ff.   zurück
11 
Dazu ist zu bemerken, dass hier die Figur des Christian Tornefeld immerhin bemüht ist, ins Zentrum der historischen Geschehnisse seiner Zeit zu gelangen, was ihm durch den doppelgängerischen Identitätswechsel verwehrt bzw. erst im Tod zuteil wird.   zurück
12 
Hier scheint Chassagne die Differenz zwischen Autor und (fiktivem) Erzähler nicht zu berücksichtigen, wobei die skeptische Ironie des Autors erst eben durch die narrativen Verfahren des Erzählers vermittelt werden kann. Eine ähnliche Sicht lässt sich auch an anderen Stellendes Buches (z.B. S. 151) bemerken.   zurück
13 
Leo Perutz: Herr, erbarme dich meiner! Der Novellenband wurde 1930 in Wien erstveröffentlicht.   zurück
14 
Bettina Clausen: Leo Perutz: Herr, erbarme dich meiner! Ein Lesart-Vorschlag. In: Brigitte Forster / Hans-Harald Müller (Hg.): Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen der Werks, Stationen der Wirkung. Wien: Sonderzahl 2002, S. 50–72.   zurück
15 
Hans-Harald Müller (Anm. 1), S. 242.   zurück
16 
Andere Novellen des Novellenbandes selbst könnten den Eindruck der narrativen Ambivalenz auch bestätigen, ebenso wie die beiden von Perutz in zwei Versionen geschriebenen Novellen Der Mond lacht und Das Gasthaus zur Kartätsche in ebendemselben Band, deren zweite Fassung die interpretatorische Unsicherheit erhöht und auf bewusste Bemühungen des Autors dafür schließen lässt.   zurück