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Gegenreformatorisches Bibeldrama in Wien

Eine kommentierte Gesamtausgabe von Wolfgang Schmeltzls dramatischen Schriften

  • Wolfgang Schmeltzl: Gesammelte Schriften in zwei Bänden. Bd. 1: Das dramatische Werk. Hrsg. von Cora Dietl und Manfred Knedlik. (Wiener Neudrucke. Neuausgaben und Erstdrucke deutscher literarischer Texte 23) Münster, Wien: LIT 2009. 400 S. Broschiert. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-8258-1630-8.
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Als 1554 mit dem Euripus des niederländischen Franziskaners Levin Brecht im Karmeliterkloster zu Wien die erste jesuitische Theateraufführung im deutschen Sprachraum stattfand, hatte Wolfgang Schmeltzl sein dramatisches Wirken bereits abgeschlossen. Rund fünfzehn Jahre vor diesem Initialereignis des Jesuitendramas etablierte Schmeltzl als Schulmeister am Wiener Schottenstift seine eigene Variante eines gegenreformatorischen Schultheaters: Seit etwa 1540 brachte er regelmäßig deutschsprachige Bibeldramen zur Aufführung und in den Druck. Damit stellte er ein traditionell eher protestantisch konnotiertes Medium in den Dienst der katholischen Erneuerung. 1 Cora Dietl und Manfred Knedlik haben die sieben erhaltenen Dramen Schmeltzls nun in einer Gesamtausgabe zugänglich gemacht, die hohen philologischen Standards entspricht und eine verlässliche kulturhistorische Einführung in sein Œuvre bietet. Dass es sich bei Schmeltzls Dramenproduktion überhaupt um ein Projekt mit konfessionspolitischen Dimensionen handelt, ist dabei nur eine der wichtigen Neuakzentuierungen, welche die beiden Herausgeber vornehmen.

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Die Dramentexte und ihr Beiwerk

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Während vier der sieben Dramen Schmeltzls bereits in älteren, teils jedoch weniger zuverlässigen oder schlecht zugänglichen Ausgaben vorliegen, sind drei Dramen im hier besprochenen Band erstmals oder erstmals vollständig ediert (Comoedia Judith, Comedij von dem plintgeboren Sonn, Hystoria von dem Jüngling Dauid). Verdienstvoll ist dabei, dass Dietl und Knedlik Schmeltzls Dramen mit sämtlichen Peri- und Nebentexten präsentieren; Vorreden und Personenverzeichnisse werden ebenso berücksichtigt wie die Marginalapparate einzelner Drucke. Dies mag nach heutigen philologischen Maßstäben selbstverständlich erscheinen, stellt jedoch für einen Teil der Dramen des 16. Jahrhunderts noch immer ein Desiderat dar. 2 Die Peri- und Nebentexte geben dabei nicht nur Aufschluss über Schmeltzls Dramenpoetik, sondern machen auch konkrete Hilfen für das Einstudieren der Stücke greifbar: In den Personenverzeichnissen zur Judith (1542), zur Aussendung der Zwelffpoten (1542) und zur Hochzeit zu Cana (1543) vermerkt Schmeltzl die Anzahl der den Figuren jeweils zugeteilten Verse und erleichtert damit eine den Kompetenzen einzelner Schüler entsprechende Rollenvergabe. Der pragmatische Nutzen solcher Verzeichnisse konnte sich möglicherweise auch in auswärtigen Institutionen bewähren – für die Judith ist eine Aufführung in der Klosterschule zu Göttweig nachgewiesen (vgl. S. 255).

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Die Editionen bringen die Texte in ein für heutige Lesegewohnheiten ansprechendes Layout, ermöglichen durch Vers- und Zeilennummerierungen eine präzise Zitierbarkeit und bleiben dabei auf die historische Texteinrichtung hin transparent: Die ursprünglichen Blattzählungen sind durchgehend eingefügt, Größe und Gestaltung von Initialen werden im Fußnotenapparat vermerkt. Reizvoll ist, dass hier neben den Lesarten auch Rezeptionsspuren dokumentiert werden; so lassen sich aus Klammern, Kreuzen und kleineren Kommentaren im Marginalbereich, wie sie das Grazer Exemplar der Aussendung der Zwelffpoten überliefert, historische Lesevorgänge rekonstruieren (vgl. S. 37–58). Frühneuzeitliche Orthographie und Interpunktion bleiben auch mit theaterwissenschaftlich einleuchtenden Begründungen, etwa der »Bedeutung der Virgel als Atemzeichen« (S. 233), weitgehend unangetastet. Titelblätter und Holzschnitte werden, wenn auch in variierender Qualität, mit abgedruckt.

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An die Editionen (I.) schließt sich ein umfangreicher Kommentarteil an, der neben den Editionsgrundsätzen (II. 1.) und dem Abkürzungsverzeichnis (II. 2.) eine allgemeine Einführung (II. 3.) sowie Einführungen in die einzelnen Dramen und Stellenkommentare beinhaltet (II. 4.). Den Stellenkommentaren jeweils vorgelagert sind Kurzkatalogisate der zugrunde liegenden Drucke, Beschreibungen der Überlieferungslage und Hinweise auf vorangegangene Editionen. Die allgemeine Einführung erschließt in drei Unterkapiteln die Theaterlandschaft Wiens im 16. Jahrhundert (II. 3. 1.), das Schottenstift als Bildungs- und Theaterinstitution (II. 3. 2.) sowie die Biographie Wolfgang Schmeltzls (II. 3. 3.).

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Schmeltzls Welt

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Nach einem Abriss der seit dem Spätmittelalter in Wien florierenden geistlichen und weltlichen Spieltraditionen liegt ein deutlicher Schwerpunkt des eröffnenden Unterkapitels auf den humanistischen Theaterformen, die Maximilian I. maßgeblich förderte und 1501 mit der Einrichtung des Collegium poetarum et mathematicorum institutionalisierte (vgl. S. 239–244). Schlaglichter auf repräsentative Aufführungen machen zum einen ein sich »[z]wischen Wissenschaftspolitik, Fürstenpreis und Politik« (S. 244) bewegendes Theaterverständnis anschaulich und geben zum anderen Einblick in die an den Aufführungen beteiligten institutionellen und personellen Netzwerke. Dass auch das Schottenstift früh an der humanistischen Theaterkultur partizipierte, in der die »Grenzen zwischen Hof-, Rats- und Schulspiel […] oft fließend« (S. 245) waren, zeigt die Aufführung der Voluptatis cum virtute disceptatio des Benedictus Chelidonius in der Wiener Hofburg anlässlich des Fürstenkonvents von 1515. Chelidonius war seit 1514 im Schottenstift, dessen Abbatiat er von 1518 bis zu seinem Tod 1521 innehatte, und ließ sein Stück durch Klosterschüler und adlige Konviktoren vor der hochrangigen Gemeinschaft aufführen. Auch die späteren deutschsprachigen Bibeldramen Schmeltzls waren in dieser Hinsicht alles andere als ein randständiges Unternehmen: Seine Comedia des verlornen Sons wurde 1540 durch Schüler des Schottenstifts vor Kaiser Karl V. aufgeführt (vgl. S. 148; 345).

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Das Schottenstift selbst nimmt das zweite Unterkapitel in den Blick. Für die Vorgeschichte von Schmeltzls Wirken als Schulmeister ist dabei insbesondere die Krise von Bedeutung, in die das Schottenstift seit der ersten Türkenbelagerung von 1529 geriet. In der Folge von Einquartierungen und Kampfhandlungen floh der Konvent unter Abt Konrad Weichselbaum (reg. 1528–1541) kurzzeitig nach Passau (vgl. S. 250). Da die Lage zunächst instabil blieb, ist die Klosterschule erst während des Abbatiats Wolfgang Traunsteiners (reg. 1541–1562) wieder nachweisbar; zu dieser Zeit war Schmeltzl Schulmeister. Die kriegerische Bedrohung durch die Türken als Zeichen göttlichen Zorns motiviert in seinen Dramen immer wieder den Aufruf zur Umkehr und Buße – vor dem Hintergrund des Schottenstiftes wird deutlich, wie diese zunächst geläufige Interpretationsfigur mit konkreter Institutionsgeschichte verzahnt ist. Unter Abt Wolfgang entfaltete das Schottenstift auch »rege Aktivitäten im Dienste der Gegenreformation« (S. 251), namentlich die Entsendung mehrerer Patres als »Seelsorger in stiftische Landpfarreien, um die Bevölkerung zum Glauben der Papstkirche zurückzuführen« (ebd.). Wie die Herausgeber betonen, sind diese Bemühungen von Schmeltzls dramatischem Programm nicht abzulösen (vgl. ebd.).

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Das biographische Unterkapitel folgt im Wesentlichen den Darstellungen des Musikwissenschaftlers Rudolf Flotzinger und zielt bewusst darauf ab, »die erreichbaren biographischen Quellen […] zusammenfassend zu koordinieren« (S. 252). Spekulationen darüber, ob Schmeltzl sich zeitweilig dem Protestantismus zugewandt haben könnte, begegnen Dietl und Knedlik zu Recht mit Vorsicht, zumal die Belastbarkeit der Quelle schwer zu prüfen ist. Es handelt sich um eine zeitgenössische handschriftliche Notiz auf einem Druck von Schmeltzls Zeitgedicht Der Christlich und Gewaltig Zug in das Hungerland (1556) (vgl. S. 254). Nachdrücklicher und gegen die bislang geläufigen Urteile Kindermanns und Michaels entwerfen die Herausgeber hingegen ein Bild, das Schmeltzl als Dramatiker mit konfessionspolitischem Kalkül zeigt:

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Ganz deutlich ist Schmeltzl in seinen Bibeldramen als engagierter Dichter erkennbar. Dabei geht es ihm in zweierlei Hinsicht um die Korrektur einer verfehlten Haltung: im moralisch-christlichen Leben des Einzelnen, d. h. um Buße und Bekehrung zu Gott, und gleichermaßen im konfessionspolitischen Ringen der Zeit, d. h. um einen impliziten Appell an die Protestanten, in den Schoß der alten Kirche zurückzukehren. Die dramatische Nacherzählung biblischer Geschichten erfolgt von einer katholischen Warte aus. (S. 256)
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Nicht nur vor Schmeltzls institutionellem Hintergrund gewinnt dieses Bild an Plausibilität. Dass der Verzicht auf offene Polemik und explizite Aufrufe noch nicht auf religionspolitische Neutralität schließen lässt, 3 zeigen nicht zuletzt auch die Dramen, in denen Schmeltzl protestantische Vorlagen im altgläubigen Sinne bearbeitet und umschreibt. Eine grundlegende Leistung der Werkeinführungen und Stellenkommentare ist es, diese Bearbeitungs- und Schreibprozesse transparent und nachvollziehbar zu machen.

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Schmeltzls Textwelt

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Die Werkeinführungen informieren über die Stoffgeschichte der einzelnen Dramen, erarbeiten Schmeltzls Stellung in der Tradition und liefern Interpretationsansätze der Herausgeber – es sind zugleich kleine Lektüren, die orientierenden Charakter haben und einen sicheren Ausgangspunkt für zukünftige Forschungen bilden. Stoffgeschichtlich erscheint Schmeltzls Dramenproduktion dabei als durchaus innovativ: Er dramatisierte in seiner Comedij von dem plintgeboren Sonn (1543) vermutlich als Erster die Erzählung aus Joh 9, 1–41 (vgl. S. 313) und schuf in der Aussendung der Zwelffpoten (1542) ein unkonventionelles Handlungsgefüge, indem er – in nur 479 Versen – die Aussendung der Apostel mit dem Gleichnis vom Armen Lazarus und dem Jüngsten Gericht kombinierte (vgl. S. 277).

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Insbesondere dort, wo Schmeltzl nachweislich protestantische Dramen als Quellen benutzte, das heißt in seiner Comoedia der Hochzeit zu Cana Galilee (1543), der Paul Rebhuns Hochzeit spiel (1538) zugrunde liegt, und in seiner Comedia des verlornen Sons (1540/45), für die er auf Georg Binders Acolastus (1536) zurückgriff, setzen sich die Werkeinführungen detailliert mit seinen Bearbeitungstendenzen auseinander. Die Stellenkommentare verzeichnen darüber hinaus die Parallelstellen aus den Vorlagen mit genauen Versangaben; ebenso weisen sie die einzelnen Versen oder Versgruppen zugrunde liegenden Bibelstellen nach. Gerade Schmeltzls Comedia des verlornen Sons ruft dabei ins Bewusstsein, dass offenbar auch polemisch vorbelastete Stoffe des protestantischen Bibeldramas, hier wäre an Burkhard Waldis’ Verlorenen Sohn (1527) zu denken, konfessionsübergreifend zirkulierten. Zugleich wird einsehbar, wie Schmeltzl seine Arbeit am Text auch als konfessionspolitische Arbeit gestaltete. Über die stoff- und quellengeschichtlichen Zugänge hinaus machen die Stellenkommentare durch zahlreiche sprachliche und sachliche Erläuterungen den Band auch für die universitäre Lehre attraktiv.

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Fazit

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Wolfgang Schmeltzls dramatisches Werk wird in dieser Gesamtausgabe erstmals in einer philologisch zuverlässigen und kulturgeschichtlich fokussierten Weise präsentiert. Die Kontextualisierungen der Herausgeber machen deutlich, dass Dramatiker wie Schmeltzl zu Unrecht in der Peripherie der Literaturgeschichte verweilen. Indem die Ausgabe vorführt, mit welchem Kalkül Schmeltzl seine dramaturgischen Entscheidungen fällte, ermöglicht sie, was sie auch selbst vertritt – einen von ahistorischen ästhetischen Prämissen unbefangenen Zugriff auf das Theater der frühen Neuzeit.

 
 

Anmerkungen

Zur statistischen Verteilung protestantischer und katholischer Verfasser deutschsprachiger Bibeldramen vgl. die Tabellen und Ausführungen bei Wolfram Washof: Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren und protestantische Theologie im lateinischen und deutschen Bibeldrama der Reformationszeit. (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 14) Münster: Rhema 2007, S. 23f.   zurück
Dies gilt nicht nur für eine beachtliche Anzahl noch unedierter Dramen, sondern teils auch für solche, die in älteren Ausgaben vorliegen. Hugo Holstein etwa paraphrasiert in seiner Edition der Dramen Johann Ackermanns und Valentin Voiths deren Vorreden lediglich in seinen eigenen Einleitungen, da er sie eher im schlechten Sinne als Beiwerk auffasste. Vgl. Hugo Holstein (Hg.): Dramen von Ackermann und Voith. (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 170) Tübingen: Litterarischer Verein in Stuttgart 1884.   zurück
So das Urteil von Wolfgang F. Michael: Das deutsche Drama der Reformationszeit. Bern u. a.: Peter Lang 1984, S. 267.   zurück