IASLonline

Abenteuer mit doppelter Buchführung

Vom Strandgut der Literatur zur Geschichte einer - metaphorischen - Raumaneignung

  • Burkhardt Wolf: Fortuna di mare. Literatur und Seefahrt. Zürich, Berlin: Diaphanes 2013. 512 S. zahlr. Abb. Broschiert. EUR (D) 44,95.
    ISBN: 978-3-03734-358-6.
[1] 

Auch die Kritik sucht die Gefahr. Wenngleich zunächst nicht die eigne. Sie hat die dümpelnde Öffentlichkeit über die Qualität des Gedruckten zu versichern und steht heute gemeinhin im Dienste der Sekurität. Sie fragt also nach dem Kurs einer Publikation, den Bruttoregistertonnen ihrer Ladung, misst deren Tiefgang, schaut nach möglichen Lecks und durchleuchtet den Schaum der aufgeworfenen Thesen nach riskanten Manövern. Sie behauptet, die Abgründe und Untiefen eines Unterfangens auszuloten und denunziert Kaperfahrten, falsche Flaggen oder Flachgewässer am liebsten vom Ufer aus. Andernfalls muss sich der Rezensent, schwankend mit Theorie beladen, selbst in die Ströme der Argumentation begeben und sich im wüsten Element der durchquerten Materie kräftig in die Riemen legen. Eben dies erfordert das vorliegende Buch. Schon der Einband von Burckhardt Wolfs Habilitation (Porcellis Schiffe vor felsiger Küste) verheißt der Zunft stürmische Gezeiten, in denen es guter Schleppanker bedarf.

[2] 

Aufbrechen. Elemente der Metapher Seefahrt

[3] 

In dieses elementare Chaos also, das vor allem eines der menschlichen Geschichte und ihrer Schiffbrüche ist, hat der Autor seine Netze geworfen und versammelt in dem Band nun den Fang und die Fundstücke (Trouvaillen) etlicher Jahre. 1 Der philologischen Kulturwissenschaft hat er seine Methode zugeordnet. Man könnte sie mit Recht auch ›philologische Anthropologie‹ nennen; 2 denn nicht erst in der Bibel hebt mit der Seefahrt das Bewusstsein der abendländischen Menschheit an. Dessen Ursprung liegt in der Bewegung; es ist die Odyssee – die erste Geschichte nautischer Abenteuer, der Er-Fahrung und Eroberung des Ungekannten. Metaphoréin heißt bekanntlich übertragen, und eine Ur-Metapher der Literatur ist es, deren Entschlüsselung der Untertitel annonciert. Wolfs Perspektive auf die zahlreichen Analogien und (poetologischen) Korrespondenzen von Literatur und Seefahrt gehört damit selbst einer solchen Zone relativer Ungeschiedenheit an, wie seine Ausführungen sie anhand von Küstenlinien und Wattenmeer nicht allein auf dem Gyroskop schwankender Begriffsachsen aufzeigen. Das Augenmerk richtet sich auf die Spuren jener Wechselwirkungen zwischen narrativen und nautischen Erkundungen, die ihren gemeinsamen Nenner in einer Poetik des Erfahrungswissens finden. Diese vermittelt sich vor allem metaphorisch. Konstitutiv ist hierbei der binäre Code von Land und Meer, welchen Carl Schmitt in Nomos der Erde als Modus der Rechtsentstehung auswies. Dieser erweist sich als eine Art Richtungspeilung der meisten der insgesamt neun Kapitel. Neben Schmitt fungieren vor allem Heidegger, Deleuze, Foucault und Blumenberg als wechselnde Gestirne am ›Theoriehimmel‹ über dieser Kulturgeschichte einer Raumaneignung.

[4] 

Mit der Feststellung: »Der Bürger scheut das Schicksal« beginnt eine epistemologische Odyssee, an deren Ende der Befund steht, die Moderne habe inzwischen den Horizont »eine[r] genuine[n] Seefahrt eingebüßt« (S. 429). Nicht so die Literaturwissenschaft – auf ihren geglückten Expeditionen. Aufbau und Vorgehen Wolfs lassen sich mit dem Kreuzen in der Segelschifffahrt vergleichen; auf einem Wechsel-Kurs meist abseits des Mainstreams pendelt die Studie zwischen wissenschafts- und literargeschichtlichen Kapiteln hin und her. Die Grobgliederung in drei Hauptteile, trägt der zunächst sprachlich-mythischen, technischen, kartographischen und dann rechtlichen Aneignung der See als ehedem fremdem Gebiet Rechnung. Ihr ist die »Eröffnung« (S. 23f.) mit Kafkas Sirenen vorangestellt. Vom angsteinflößenden und doch verlockenden »Abgrund Meer« (S. 61ff.) führt diese Aneignung des maritimen Raumes zu den erst geopolitischen, dann biopolitischen Ordnungsparadigmen seiner Beherrschung und schließlich mit »Jenseits von Land und Meer« (S. 293ff.) in die Randzonen von deren Unterscheidung beziehungsweise deren Aufhebung im ›Space-change‹ der Sciencefiction. Allen notwendigen Prolepsen und Rekursen entgegen ist dieser eine Chronologie zu entnehmen: Die Liste herangezogener Autoren reicht von Homer über Dante und Shakespeare bis hin zu Kubrick / Clarke und Uwe Johnson, wobei der überseeischen beziehungsweise transatlantischen Thematik gemäß in der Neuzeit anglophone Autoren die Mehrheit stellen – eine jedenfalls insgesamt sehr ›westliche‹ Konstellation. Das der Zeitspanne nach notwendig kürzere epistemologische Register verzeichnet neben evidenten Namen wie Bacon und Vico auch unbekanntere beziehungsweise scheinbar abgelegene wie Anton Furetière, Johann Albert Fabricius, Joseph Glanville, Jakob Bernoulli, Victor Bérard, Friedrich Ratzel, Erskine Childers, Gotthard Günther, von denen manche wiederum auf der Schwelle zwischen Fakt und Fiktion zu verorten sind (so etwa Childers᾿ im deutschen Wattenmeer angesiedelter Kriegsroman, vgl. S. 340ff.) oder zwischen Wissenschaft und Ideologie (Ratzel).

[5] 

Nicht chronologisch, sondern philologisch orientiert geht Wolf vor, wenn er doppelsinnig von den »Topoi der Verschlagenheit« schreibt, die sich jedoch bereits in der Odyssee mit Tropen überlagern (S. 32) und somit performativ Kenntnisse schaffen, eben »Erfahrungswissen« generieren (Wolf verwendet diesen Begriff als relativ selbsterläuternden). Beide Verfahren werden nicht zufällig zum Schluss mit den Betrachtungen zum Schiffswrack als Chronotopos (Bachtin) übereingeführt (S. 402ff.). Entscheidender aber ist die Konzentration auf die tropologischen Implikationen der literarischen Raumaneignung, die insbesondere auch die Vermittlung von Erfahrungswissen betreffen. Bei dessen Erwerb ist nicht immer klar, ob hier Fakten der Fiktion vorausgingen oder umgekehrt; die Spur der Unterscheidung in experientia vaga und experientia ordinata, welche Bacon nochmals in literata und naturae differenzierte (vgl. S. 153), ist vielfach verwischt (nicht zuletzt von diesem selbst). So ist die Geschichte der Seefahrt »eine Geschichte der Unbegrifflichkeit, eines wiederholt bezirklos gewordenen, ins Metaphorische zurückgespülten Wissens […]«(S. 16) – und damit ein Fall für die Literatur, die dessen poetische Verfassung übernimmt. Die basalen Elemente der Seefahrtsmetapher sind natürlich Land und Meer, die als binärer Code immer wieder neu und anders verschaltet werden können. Insbesondere die ›Materialität‹ des Meeres, welche sich eben nicht auf Wasser beschränkt, kann je nach Anlass der Übertragung auch Sprache, Wissen, Geld (zur Börse S. 116f.), Zeit, Menschenmasse oder den Weltraum meinen. Deren wechselhafter Geschichte und Gebrauch habhaft zu werden, ist Wolfs Studie dank umfangreicher Kenntnisse und geschickter Kombinationen gelungen.

[6] 

Denn »Das Abenteuer der Literatur, ihre notwendige Selbstgefährdung, besteht in einem unabgesetzten proteischen Wandel ihrer Formen und Topoi, in einer ›Chao-Erranz‹, die sich an die völlige ›Verflüssigung‹, das reine ›Chaos‹ der Sprache heranzuwagen und dennoch davor zu bewahren hat« (S. 56). Was Wunder, dass daraus, wenn auch die Tropen noch ins Gleiten geraten, Abenteuer mit doppelter Buchführung werden. Schon der erste Prosaroman deutscher Sprache, der im Umfeld der Augsburger Fugger entstandene Fortunatus, gibt die Richtung vor: wer wagt gewinnt; der Abenteurer ist, wie übrigens viel später wieder bei Hugo von Hofmannsthal, ein homo oeconomicus, Literatur und Seefahrt finden zumal im Geld ihren »absoluten Beweger« (S. 95) und zeitweilig ihr tertium comparationis.

[7] 

Spätestens seit der Renaissance traten (wieder) zeitgemäße allegorische Ausprägungen wie die der unzuverlässigen Göttin Fortuna und des Staatsschiffs auf, an denen sich ablesen lässt, was einem Zeitalter als Form seiner ökonomischen Disposition wie seiner politischen Organisation wünschenswert erschien. Wolf signalisiert schon mit dem Titel die Bedeutsamkeit dieses Vorgangs. Infolge früher Berechnungsversuche des Inkalkulablen wird das moderne Versicherungswesens aus der Taufe gehoben. Eine Begleiterscheinung der Fortuna beziehungsweise deren Ausbleibens ist jedoch die Melancholie, die darum ein Spezifikum der Neuzeit ist, weil sie das Subjekt darauf verpflichtet, zu seinem eigenen Heil die Chancen der Kontingenz für sich zu nutzen – damit aber auch deren Gefahren in Kauf zu nehmen hat. 3 Dies bedeutet beinahe Zwang zur Odyssee; eine Dialektik, die der Aufklärung vorausgeht und sie obendrein zu überdauern scheint. Nicht von ungefähr setzt die Betrachtung mit Kafkas reverser Transkriptase des Sirenengesanges ein. An die Stelle des Gesangs der Gefahr, schreibt Wolf, trete hier die Stille der Literatur, der Narrative, mit welchen Odysseus die Zurückgebliebenen hinters Licht führt. Die dürfte ihm lieber sein, als die Hölle in Dantes Göttlicher Komödie; denn als hätte er seinen Kahn selbst versenkt, um dafür die Assekuranz abzukassieren, landet er im Distrikt der Betrüger. Mit Joyce’s profanen Alltagshöllen schließt diese motivische Rekonstruktion der Odyssee des modernen Subjekts: in einem »Labyrinth von Routen, in dem man sich immer schon verirrt hat« (S. 53). 4

[8] 

Es folgen Ausführungen zur ökumenischen (der gestrandete Paulus) und ökonomischen Verbindung der Seefahrt (am Beispiel Venedigs) sowie zur Entwicklung der Hydrographie (»Ins Wasser schreiben«; S. 133ff.) – und man bekommt viel technisches Wissen an die Hand, um die Konsequenzen der Erfindung des Kompasses (und seiner metaphorischen Dimension) zu verstehen. Damit wurde der »konzertierte[ ] Erwerb von Erfahrungswissen« (S. 153) stark beschleunigt, denn Schiffe sind die »Medien eines neuen ›Weltbilds‹«(S. 219), »Karte und Navigationsgerät haben ein Ortloses erschlossen, das dann bürokratisch einer (geo-)politischen Ordnung unterstellt wurde« (S. 272). Die »Nautische Neuzeit« (S. 187) setzt dazu passend mit Staatsschiff-Fiktionen ein, Jean Bodin und Hugo Grotius sind hier gute Referenzen. Die Aneignung des Raumes konnte sich jedoch weiterhin nur unter der Bedingung einer Freisetzung von deren Agenten vollziehen, deren Ausnahmestellung man alsbald stärker zu kontrollieren trachtete (mit Ausnahme der englischen Piraten). »Mit der Seefahrt geht eine dauernde Neuverhandlung elementarer Grenzen einher« (S.16), die sich auch juristisch ausprägte und spezielle Rechtsentwicklungen initiierte, aus denen nicht nur das Völkerrecht, sondern auch die Vorstellung des Kapitäns als Diktator seines Schiffes hervorging: »Auf dem Schiff wird immer schon Medien-, Kultur-, und Literaturgeschichte gemacht und geschrieben, und ebenso werden hier von jeher elementare Verfahren der technischen und politischen Führung erprobt.« (S. 19). Die hierbei virulente Basisunterscheidung ist die von Disziplin und Meuterei, die auch den Kernkonflikt von Melvilles Starbuck bedeutet, welcher in einem »hamletschen Zaudern« (S. 244) vor Ahabs Kajüte verharrt; das Aufbegehren und seine Konsequenzen werden dann an Melvilles Erzählung Billy Budd (S. 248ff.) detaillierter ausgeführt.

[9] 

Die Souveränität der See

[10] 

Dieses wohl nicht zufällig im Zentrum der Abhandlung verankerte fünfte Kapitel ist besonders hervorzuheben. Nach einer etymologischen Annäherung an die Wurzeln des Kapitänstitels skizziert Wolf Kapitän Ahab als reinen Typus des Charismatikers nach Max Weber und damit als Ausnahmefall der disziplinarischen Seerechtssatzungen, welchen diese durch die schrankenlose Ermächtigung eines Einzelnen »Master next God« (S. 215) selbst riskieren. Ahab wird zur Verkörperung des elementaren Ausnahmezustandes, in welchem sich Schiff und Mannschaft ab dem Verlassen des Festlandes befinden. Der Souverän zur See hat darum Sonderrechte, er kann – aus einer »anomisch-metarechtliche[n] Dimension der auctoritas« (S. 224) heraus – bei seinen Maßnahmen alle Register ziehen. »Der Kapitän ist der oberste Agent der neuzeitlichen Versuche, landfeste Herrschaftskonzepte auf den staatsfreien und seit alters her rechtsabgewandten Raum des Meeres zu übertragen […]«(S. 217). Das ist, gerade auch im Hinblick auf deren umgekehrte Übertragung seit der totalitären Moderne, die sich noch in präsidial-autokratischen Tendenzen der Gegenwart spiegelt, äußerst lesenswert dargestellt (vgl. insb. S. 240ff.).

[11] 

Vorausgesetzt wird die Entgegensetzung von Charisma und (alter) Herrschaftsform, die dieser »Souveränität zur See« (S. 240) zugrunde liegen soll, welche ihre Gesetze nunmehr okkasionell produziere (vgl. S. 246). An einer neuen Funktionslosigkeit des Befehls erscheint diese aber nur bedingt fasslich – etwa wenn Ahabs (von Starbuck so empfundene) magnetische Kräfte auf seine Untergebenen thematisiert werden (S. 244f.). Sicher ist: Ausnahmefälle sind Schlüsselszenen der Autorität. Wo diese ein kritisches Maß übersteigt, kann die im Befehl eingekapselte Gewaltandrohung, Canettis Stachel, entfallen. 5 Dass jedoch Charisma und Walrat im Öl des Gesalbten quasi als Synonyme zusammenfallen – dieser bei Melville prägnanten motivischen Verbindung von Meeresleviathan und Königskrönung taucht in Wolfs Perspektive nicht auf. Ahab als der Souverän neuen (charismatischen) Stils ersetzt diese zudem durch eine Bluttaufe seiner Mannschaft und insbesondere der Harpuniere (Moby Dick, Kapitel 36). Auf der Jagd nach dem Wal, dem persistent objector zu allem neuzeitlich-positivistischen Erfahrungswissen schlechthin, entledigt sich Ahab nach und nach sämtlicher Rückversicherungen: Er nutzt die Rettungsboote als Ersatz der schon zerschlagenen Walfangboote, zerschmettert die Navigationsinstrumente und folgt dem Wal schließlich auf einem Kurs, der konkrete Beobachtungen des Sonnenstands wie auch der Windrichtung mit der bloßen Intuition des Kapitäns koppelt. Dieser Ausbruch aus dem Positiv kartographisch-nautischen Wissens hinein in die Zone des Ausnahmezustands, in welcher Ahabs Autorität allein auf der Fortuna di mare beruht, hat an sich Erfolg – der Wal wird wiederholt gestellt, bleibt aber unüberwindlich.

[12] 

Hatte die Seefahrt zunächst schlechthin als Akt der Überschreitung gegolten, für dessen Hybris man in alten Zeiten den Göttern Abbitte tat – eine sakrale Raumaufteilung des Schiffs, die für klare Hierarchien sorgte, sowie rites de passage entwickelte, die vor den Passagieren nicht Halt machten (vgl. S. 65) –, so kehrt dieses Element vorchristlicher Hybris im nominellen Garanten der Ordnung, dem – übrigens schwermütigen – Kapitän mit dem Kainsmal, zurück. Denn die seit der Neuzeit getroffenen rechtlichen Vorkehrungen zur Disziplinierung an Bord werden allein vom Kapitän verkörpert (Wolf zeichnet diese Entwicklung sehr präzise nach), er selbst ist das Gesetz. Folgerichtig endet der moderne Jagdrausch im Untergang. Dass es ein über Bord gegangener, sozusagen ein Erbe Jonas ist, der als einziger überlebt, ist die ironische Pointe zum Schluss dieses ›Projekts Moderne‹. Er allein kann den Eigentümern von der selbst verschuldeten Havarie berichten, aus der anschließend aufgrund von deren calvinistischer Kalkulation (vgl. S. 79f.) mit großer Sicherheit ein kostspieliger Versicherungsfall geworden sein dürfte.

[13] 

Diese zivilrechtliche Dimension der Seefahrt hat Wolf zuvor anhand der paulinischen Schiffbrüche aus den Überlieferungen der Bibel entwickelt – das Meer der Angst und die Kultur der Sekurität werden so in exemplarischen Fällen aufeinander bezogen. Bis zur ersten Schiffsversicherung (oder vielmehr deren Vorform), dem foenus nauticum, hatte es aber noch bis 1347 gedauert. Er stellte eine Art legales Steuerschlupfloch für das kirchlich geächtete Kreditwesen dar. Wolf hält fest: »Die Versicherung ist mithin aus dem Meer geboren« (S. 115), der Geist hinter dem »Kauf der Gefahr« ist jedoch bereits kapitalistisch. Shakespeares Kaufmann von Venedig gerät in dieser Perspektive zu einem Versicherungskrimi unter Einsatz des Lebens. Entscheidend ist hierbei das Risiko, das Antonio mit seinen drei Handelsschiffen eingeht, welche seine gesamten auf Kredit gekauften Waren transportieren. Die eintreffenden Nachrichten über deren wechselhaftes Schicksal initiieren die wesentlichen Peripetien der Handlung. Dass das Interesse an versendeten Schiffen sich auch umkehren kann und auf deren möglichst baldigen Untergang spekuliert, erläutert Wolf dann vor allem anhand B. Travens Totenschiff (S. 269ff.); die Seeleute sind nunmehr als Humankapital in diese schwarze Kalkulation einbezogen (S. 276). Ein größerer Gegensatz zu Joseph Conrads altmodischen Gentleman-Kapitänen, deren moralisch integre auctoritas sich in der des Autors reflektiere (vgl. S. 265), lässt sich kaum denken. Wenn Schiffe, wie Wolf an anderer Stelle festhält, »Versuchslabore[ ] des Politischen« sind (S. 248), dann muss man Travens Seelenverkäufer allerdings als treffliche Allegorie auf die Totalitarismen des frühen 20. Jahrhunderts bezeichnen.

[14] 

Rückübertragungen. Landnahmen und andere Raumwechsel

[15] 

In anderer Form begegnet dies auch bei dem Angestellten der österreichischen Arbeiterunfallversicherung, Franz Kafka, wieder: »Der Staat wird zu einer Assekuranzanstalt, die alle […] zu zwangsversicherten Reedern ihres ›Lebensschiffes‹ erklärt […]«(S. 323). Überhaupt finden sich zahlreiche Beispiele für solche kunstvolle Verschlingung von Themen und Motiviken. Dies gilt auch für die Jagd in jenem »Meer der Bürokratie« (S. 279), das bei Kafka wohl seine mithin prägnanteste literarische Gestaltung findet. 6 Volle Fahrt nimmt darum nochmals dieses, die unterwegs verhandelten diversen Nebenschauplätze verbindende Kapitel zu Beginn des dritten Teils auf (S. 319ff.). Denn anlässlich Kafkas Klage eines »Mangel[s] des Bodens«, der eine »Seekrankheit zu Lande« verursache (S. 320), gelangt Wolfs Studie zur vielleicht entscheidenden Metaphernkonversion des Meeres: Die Massen der Moderne treten nun auf den Plan; und mit ihnen der Grund für die Rückübertragung nunmehr maritim (charismatisch) aufgeladener Souveränitätskonzepte auf das Festland: »Zuweilen überschreitet auch vom Land her eine unbezähmbare Natur diese elementare Grenze zwischen Festem und Flüssigem; gnadenlose, alles mit sich reißende, zuweilen mörderische Meuten […]«(S. 293). Diese werden zunächst an dem Metier der englischen Strandläufer geschildert, die rücksichtslos auf Abwrackprämien aus sind und hierfür nicht etwa auf Schiffbrüche nur warten, sondern diese aktiv mit lockenden Leuchtfeuern (statt Gesängen) herbeizuführen suchen. Ihren Opfern helfen weder Versicherung noch Gebete. Das geht den Figuren bei Kafka letztlich nicht anders. Seien es der Verschollene im Amerikaroman, der Jäger Gracchus mit seiner »Wellenunruhe« (S. 329) oder die Beteiligten beim Bau der chinesischen Mauer– sie stehen auf vermeintlich festem Grund und sind doch einer Odyssee, der modernen Kontingenz ausgeliefert, deren Kurs und deren Verantwortliche unkenntlich bleiben. Vor allem Kafkas Fragmente handeln »vom unzureichenden Grund wurzelloser Kollektivwesen: vom Feld moderner Massengesellschaften« (S. 323).

[16] 

Ausblicke auf solche Sümpfe der Moderne gaben schon Fausts Kolonieprojekt (die Landgewinnung im Meer) und seine Wellenphobie; sie werden von Wolf jedoch wie die gesamte, weidlich erforschte deutschsprachige Literatur des 19. Jahrhunderts umschifft – mit Ausnahme Storms (vgl. S. 340) und, zum Schluss, natürlich Hölderlins. 7 Stattdessen steuert die Studie mit Erskine Childers »Rätsel[n] der Seeschlacht« und seinen Wattenmeer-Romanen auf eine Ununterscheidbarkeit von literarischer Fiktion und militärischem Planspiel im frühen 20. Jahrhundert zu, die zugleich eine von Land und Meer ist: »Macht ist hier auch und gerade aus dem zu schöpfen, was sein kann, aber gleichzeitig die Potenz hat, nicht zu sein.« (S. 345). Den technischen Strang in Childers »Poetik potentieller Ereignisse« (S. 357), die mit Joyces Erzählverfahren vergleichbar sei, verfolgt Wolf dann bis in die (nicht-militaristischen) Höhen der Science-Fiction von Clarkes / Kubricks 2001. A space Odyssee. Seit der zunehmenden, durch U-Boote auch dreidimensionalen, Beherrschung der See wurde der Kosmos zum leitenden Paradigma des anderen Raumes. Der ›space-change‹ der Metapher von Literatur und Seefahrt lag insofern nahe; er zeigt nun die Odyssee des modernen, vereinzelten Subjekts als inneres Erlebnis seiner Grundlosigkeit. Der permanenten Produktion von Weltbildern (Heidegger’schen Ge-Stellen) dient die Unausweichlichkeit der Zentrifuge als Symbol (vgl. S. 372); das »Reale gerät dabei in einen Kreislauf mit dem Imaginären […]«(S. 376). Erscheint in diesen technischen Welten jedwede anthropogene Selbstbehauptung und Identität gleichermaßen ephemer und prekär, so wird die Entscheidung über den Ausnahmezustand davor zum Scheidepunkt menschlicher und künstlicher Intelligenz (vgl. S. 381 / 388). Das Eintreten des nie restlos auszuschließenden Stör- beziehungsweise Notfalls entlarvt die Kybernetik des Computers als Mythos. 8 ›Manifest‹ wird dies mit der menschlichen Hand als intuitiver Verbindung von Kenntnis und Tätigkeit – sie ist Rezeptor und zugleich Agens des Erfahrungswissens als menschlicher »Potentialität« (S. 389), die keiner systemgeregelten Kontingenz bedarf.

[17] 

Eine Betrachtung des konservierenden Potentials von Hölderlins »geopoetischen« Bergungsversuchen gibt Wolf Gelegenheit zur Schließung der Metapher von Literatur und Seefahrt (S. 394f.). Das Wattenmeer mit seinen verschluckten Dörfern (an die Vinetasage ließe sich denken) liegt als natürliches Archiv bereits achtern. Der letzte Wandel des tertium comparationis von Seefahrt und Literatur führt auf den Meeresgrund, zum »Chronotopos Schiffswrack«, an dem sich nach Bachtin die »Merkmale der Zeit offenbaren« (S. 403). Man darf poetologisch wohl folgern: die wagemutigsten Versuche dieser »symbolischen Gründung des Offenen und Künftigen in der Schrift« (S. 397) erlitten Schiffbruch, dem als Symbol man auch Hölderlins späte Oden und Fragmente subsumieren dürfte. Mit einer nochmals rechtsgeschichtlich ausholenden Ellipse kehrt die Studie ein letztes Mal zu ihrem Bezugspunkt zurück. Die der Wissenschaft verfügbare See und die Literatur könnten gleichermaßen als Wissensspeicher erscheinen, den eine ›maritime Archäologie‹ der Kultur zu erforschen hat.

[18] 

Hier ist jedoch Differenzierung gefragt, und Wolf gibt seinem Fokus gemäß Gelegenheit dazu. Denn ob das »gemeinsame Erbe der Menschheit« (S. 409) der »vergangene[n] und jetzige[n] Welt« »in seiner bloßen Kontingenz und schieren Positivität« sich computergestützt in »geistigen Besitz […] verwandeln« (S. 414) lässt, wie Jacob Burckhardt zitiert wird, dies erscheint dem Rezensenten fraglich. In Anbetracht der anwachsenden Kontingenz moderner Speichermedien sind die Aussichten höchst unbeständig; und die Formulierung Burckhardts wirkt geradezu widersinnig, seit das (kulturelle) Gedächtnis der Menschheit im wesentlichen dem Outsourcing an die Maschinen unterliegt. Überdies: Datenagenturen im Internet (das als anderer Raum des Virtuellen merkwürdig unerwähnt bleibt) werden zunehmend auch des Unbewussten habhaft, 9 von dem der »Fachmann für imaginäre Kollektivmythen auch des Maritimen«, Sigmund Freud, vor 100 Jahren noch als terra incognita des »ozeanischen Gefühls« (S. 417) sprechen konnte. Uwe Johnsons »unergründliches Schiff« (S. 425f.) gerät in diesem Zusammenhang geradezu zum Symbol der Sehnsucht nach einer menschlichen Unausschöpflichkeit – versinnbildlicht ausgerechnet an einem auf den Themsegrund gesunkenen Bombenschiff, das aufgrund seiner Ladung nicht gehoben werden darf – ein rostiger Zeuge für die Schiffbrüche der modernen Menschheit.

[19] 

Wenn nun zum Ende dieser Betrachtung noch Kritik auszusetzen bleibt, dann kann sich diese nur auf das eigentümlich defensive Fazit beziehen: 10 »Vielleicht vermag es gerade die Literatur, jenen unfesten und unsicheren Orten auf die Spur zu kommen, die sich der Landtreter Mensch im Ortlosen des Meeres, auf der Heterotopie des Schiffs und inmitten der ›Akteur‹-Netzwerke nautischer Kulturen immer wieder zu erobern hatte« (S. 427). Dies zu erweisen, darauf ging Wolfs Unternehmung doch gerade aus – mit beachtlichem Erfolg. Er ergänzt daher: »Denn anders als die Narrative des ›kulturellen Gedächtnisses‹ untergraben die der Literatur das archivarische Wissen archäologisch, indem sie das Stocken von Beobachtung und Einbildungskraft in ihrem eigenen Erzählverfahren vorführen« (S. 428). Zurückhaltend bleibt der Schlussteil auch gegenüber dem politischen Gehalt der verhandelten Themen – schon die zuletzt behandelten Eigentumsfragen des internationalen Seerechts sind nur so lange unpolitisch, bis sich ein gekentertes Flüchtlingsboot hinzugesellt. Meuterer und Outlaws etwa bleiben ein historisches Phänomen: Die bestens vernetzten gegenwärtigen Piraten am Golf von Aden hätten erwähnt werden können, wie auch der Geist der Revolte generell, der mit den modernen Massen quasi an Land gekrochen ist. Die hochpolitische maritime Metaphorik des Volks (an Walt Whitman und seine Erben hätte sich denken lassen), die noch in den Landnahmen der occupy-Bewegung wiederkehrt, wird allein im Kafka-Kapitel mit dem unsicher werdenden Boden angetippt. Die politische Konsequenz aus diesen Symptomen des gesellschaftlichen Ausnahmezustands, eine Rückübertragung der nun maritim entgrenzten Herrschaftskonzepte auf das Festland – dieses lupenreine re-entry politischer Sumpflandschaften hätte durchaus weitere Berücksichtigung verdient. Die Dissertation des Autors zur Sorge des Souveräns lässt hier auf Fortsetzung hoffen. Das gilt auch für andere der vielfältigen Unabschließbarkeiten dieser Proteus-Materie insgesamt – so könnte man zum Beispiel mit (Denk-)Figuren wie Baudelaires »greisem Kapitän« oder Rimbauds »trunkenem Schiff« an die Studie anschließen oder Ausblicke auf Jahnns »Fluß ohne Ufer« nehmen.

[20] 

All dies sind aber Belege dafür, dass Wolfs Arbeit bestens dafür geeignet ist, einen maritim orientierten Diskurs in den Kultur- und Literaturwissenschaften einzuläuten. Dass dieser kürzlich der Berliner Scherer-Preis verliehen wurde, ist ein gutes Signal. Jakob Grimms berühmte Feststellung, dass Literatur und Recht aus demselben Bette stammen, lässt sich nun dahingehend kommentieren, dass es sich bei diesem wohl um ein Meeresbecken handeln müsse. Der beste Abschlusssatz findet sich diesbezüglich noch im Vorwort des Bandes: »Nur ein Strandgut also ist die Literatur, nur eine Gabe der fortuna di mare. Doch als eben solcher ›Zufall‹ führt sie hinaus ins Offene und in die Möglichkeit, die das Meer selbst ist« (S. 21). So bewahrt und initiiert dieses Strandgut auch eine Unzahl an Geschichten über den Umgang mit dieser Möglichkeit – humane Rückversicherungen für die sich wagende, im anthropologischen Spiel begriffene Menschheit.

 
 

Anmerkungen

Wolfs letzte Monographie, »Die Sorge des Souveräns«, erschien 2004 ebenfalls bei diaphanes.   zurück
»[…] Seefahrt als Daseinsmetapher: In dieser Problematisierung wird der Mensch überhaupt erst als disponibles Wesen anerkannt, das weder auf einen einzigen Ort, noch auf eine einzige Lebensform festgelegt ist.« (Michael Makropoulos: Modernität und Kontingenz. München: Fink 1997, S. 8.   zurück
Wolf gibt hier Ausblicke auf die Prädestinationslehre seit Calvin. Dass übrigens der Kompass auf Dürers Melencholia I (1514), immerhin mit Meerblick und Kugel, fehlt, ist daher ein guter Beleg für die auch maritime Verspätung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation.   zurück
Der Schiffbruch des seit Dante rettungslos verschlagenen Odysseus »[…] wird nunmehr zum poetischen Problem, da er das Problem der Poetik selbst betrifft.« (S. 47) Auch Wolfgang Koeppens Tauben im Gras grüßen von Ferne, Wolf nimmt diese spätere ›städtische Linie‹ jedoch nicht auf.   zurück

Vgl. Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt/M.: Fischer 1980. S. 357ff.

   zurück
(Kubin, Musil, auch Robert Walser nicht zu vergessen, die in der Auswahl aber fehlen)   zurück
Dagegen ist etwa Herder mit einem sehr schönen Zitat zur elementaren Ausnahmesituation der Schifffahrt präsent.   zurück
Bei diesem Befund setzt auch Frank Schirrmachers mutiges und wichtiges Buch Ego – Das Spiel des Lebens (Berlin: Blessing 2013) an. Vgl. die Kapitel ›Alchemisten‹, S. 219f., ›Big Data‹, S. 190f., sowie S. 285–287 und S. 127f.   zurück
Vgl. ebd., Kapitel ›Mind’s Eye‹, S. 175f.   zurück
10 
Eine Schlunzigkeit des Lektorats fällt nebenbei auf – gleich zu Beginn geht ein Verweis auf Blumenberg ins Leere (S. 10) – und nicht weiter ins Gewicht. Anzumerken ist auch, dass die konsequent durchgeführte Zitierweise aus den Originaltexten zuweilen einen fast »denglischen« Duktus erzeugt (vgl. v.a. S. 314).   zurück