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Doppelte Buchführung. Romantische Anleihen des Realismus in Gustav Freytags Soll und Haben

  • Irmtraud Hnilica: Im Zauberkreis der großen Waage. Die Romantisierung des bürgerlichen Kaufmanns in Gustav Freytags 'Soll und Haben'. (Diskursivitäten 14) Heidelberg: Synchron 2012. 225 S. Gebunden. EUR (D) 34,80.
    ISBN: 978-3-939381-44-0.
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Romantisierung wider die Geringschätzung

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Gustav Freytags Soll und Haben ist ein prekärer Text, der lange im Giftschrank der Literaturwissenschaft Staub angesetzt hat. Obwohl er einen der erfolgreichsten deutschsprachigen Romane des 19. Jahrhunderts darstellt, hat seine antisemitische, rassistische und xenophobe Imprägnierung das erst in den vergangenen Jahren erstarkte Interesse der Forschung für den ästhetisch vermeintlich minderwertigen Text bestimmt. Eine grundlegende Neuperspektivierung ist der Ausgangspunkt der Dissertation Irmtraud Hnilicas. Weniger die ideologischen Diskurse als die poetische Faktur von Gustav Freytags Soll und Haben stellt sie ins Zentrum ihrer Arbeit. Katalysator der Untersuchung ist der Protagonist des Romans, der – so der erste Lektürebefund – als Kaufmann ganz und gar nicht dem Modell des homo oeconomicus folgt, sondern erhebliche Anleihen von Künstlerfiguren der Romantik aufweist. Die Analyse dieser Anleihen macht sich die Arbeit zur Aufgabe, indem sie den Roman mit Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels konfrontiert. Mit der Analyse der Beziehungen zur Romantik geht eine deutliche Aufwertung des Textes einher: Hnilicas Lektüre tritt einen Schritt hinter die ideologiekritischen Positionen der vergangenen Jahre zurück und lässt Soll und Haben die gleiche interpretative Sorgfalt und Akribie angedeihen, mit denen man sich kanonisierten Texten der literarischen Hochkultur selbstverständlich nähert.

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Für das ästhetische Verfahren des Textes prägt Hnilica in ihrer systematischen Einleitung (Kapitel 1) den Begriff der Romantisierung, der hier ein Doppeltes bezeichnet: einerseits ästhetische Durcharbeitung, die durchaus im Sinne der ›Verklärung‹ dem poetischen Realismus zu integrieren wäre. Andererseits würde genau diese Integration die vielfältigen Bezüge auf Texte der Romantik ignorieren, die die Dissertation rekonstruiert. Mit Romantisierung meint Hnilica also »eine spezifische Strategie der Verklärung« (S. 12), die – und darin besteht die Sprengkraft der These – entgegen aller Abgrenzungsbewegungen des programmatischen Realismus auf die Romantik zurückgreift. Zwei thematische Felder in Soll und Haben werden daraufhin untersucht. Zum einen wird die literarische Topographie (Kapitel 2) analysiert, deren poetologische Funktion Hnilica in der Verbindung mit Heinrich von Ofterdingen herausarbeitet. Zum anderen widmet sich die Analyse der Gestaltung des Protagonisten (Kapitel 3), der über Die Elixiere des Teufels in die Nachfolge romantischer Künstlerfiguren gestellt wird, was sich in Freytags Umstellung von der romantischen Kunst- zur realistischen Kaufmannsreligion zeigt. Ein sehr knappes Fazit (Kapitel 4) bringt die Ergebnisse der Arbeit auf den Punkt.

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Intertextualität abseits von Einflussforschung

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Bevor ich auf die beiden Hauptaspekte der Dissertation eingehe, ist ihr konziser theoretischer Zuschnitt zu erörtern. Mehrere Fallen umgeht Hnilica bei dem dargelegten Projekt, die Romantisierung über intertextuelle Bezüge in Soll und Haben zu untersuchen. Über den Rekurs auf Julia Kristevas Intertextualitätstheorie weicht sie einerseits den Aporien klassischer Einflussforschung aus, die konkrete Nachweise intertextueller Bezüge etwa mittels der Textkenntnis des empirischen Autors herleiten. Das heißt aber nicht, dass Hnilica Nachforschungen in dieser Hinsicht scheut; diese waren allerdings nur wenig ergiebig: Freytags Nachlassbibliothek samt Inventarliste sind verloren, ebenso wenig fruchtbar sind biographische Dokumente. Andererseits umgeht sie die ästhetische Disqualifizierung, die etwa Bachtin noch zu der Gegenüberstellung von ideologisch affirmativen ›monologischen‹ und subversiven bzw. karnevalesken ›dialogischen‹ Texten verleitet – ein Schelm, wer in den monologischen Lektüren das Versäumnis der bisherigen Forschung erkennt, zumal bereits in der Figurenkonstellation des Doppelgängers implizit Dialogizität enthalten sei (vgl. S. 163). Eben indem Hnilica Soll und Haben mit Kristeva als »Mosaik von Zitaten« (S. 23) liest, werden die intertextuellen Referenzen zu Schlüsselstellen der poetischen Faktur des Romans.

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Gleichzeitig vermeidet Hnilica eine unreflektierte Übernahme des weiten und viel kritisierten Krivsteva’schen Textbegriffs, sondern operationalisiert ihre Intertextualitätstheorie über die thematische Verengung auf die literarische Topographie und auf Figurationen der Ökonomie. Darüber hinaus entscheidet sich die Arbeit für zwei spezielle Intertexte, die weniger als Einzeltexte romantische Referenzen in Soll und Haben nachweisen sollen, sondern repräsentativ als »Mustertexte der Romantik« (S. 27) stehen. Implizit wird dabei allen Lektüren, die den Roman auf seine antisemitischen, rassistischen wie xenophoben Anteile reduzieren, vorgeworfen, dass sie die poetischen Brechungen dieser Anteile – geblendet vom Verdikt der Mittelmäßigkeit und ›Monologizität‹ – verkennen. Hnilica negiert oder relativiert nun keineswegs diese Ergebnisse einer ideologiekritischen Lektüre, nimmt aber die poetische Faktur ernst. Gerade die intertextuellen Referenzen sind es, die die Inhalte des Textes – ganz im Sinne Kristeva’scher Doppelzeichen – mehrdeutig werden lassen. Soll und Haben hat also nicht nur Teil an normativen Diskursen des mittleren 19. Jahrhunderts, sondern reflektiert deren Ein- und Ausschlussprozesse.

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Architekturen der Romantik: Von grünen Stellen und anderen Orten

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Mit hoher Anschaulichkeit zeigt Hnilica genau diese in ihrer Analyse der literarischen Topographie. Theoretisch ist die Arbeit dem spatial turn verpflichtet, den sie gleichwohl kritisch betrachtet und in seinem performativen Einwand auf den Punkt bringt: Räume – zumal literarische – sind nicht nur topographischer Container der literarischen Welt, sondern Ergebnis spezifischer Praktiken. Die Skepsis, die dem spatial turn in der deutschen Forschungslandschaft widerfahren ist, führt sie nicht zuletzt auf das geopolitische Tabu in der Nachfolge des Nationalsozialismus zurück, das sie direkt in ihre Textinterpretation katapultiert. Denn wo andere Lektüren von einer strikt dichotomen Raumordnung mit eindeutigen, statischen normativen Zuschreibungen – hier die ›deutsche Raumordnung‹, dort die ›slawische Wüste‹ – ausgehen, plädiert Hnilica für eine Lektüre, die gerade die textinternen Widerstände gegen diese scharfe Trennlinie und das sie stützende statische Raumkonzept ernst nimmt. Der Rekurs auf romantische Texte offenbart die Dynamik in Freytags Raumgestaltung.

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Um diese Dynamik angemessen beschreiben zu können, greift die Arbeit vor dem Hintergrund des Begriffs der ›grünen Stelle‹, den Friedrich Theodor Vischer geprägt hat, auf Michel Foucaults Konzept der Heterotopie zurück. So überdehnt dieses Konzept in den vergangenen Jahren in Anspruch genommen worden sein mag und so wenig es von Foucault selbst ausgearbeitet wurde, vermag die Heterotopie gerade die in Soll und Haben so bedeutsamen Grenzgebiete zu beschreiben: eben nicht als dichotome Grenzlinie, sondern als peripheren, hybriden Raum, in dem Überlagerungen aufeinander treffen, die wiederum Rückwirkungen auf die jeweiligen Zentren zeitigen. Mit der Beschränkung auf die Grenzgebiete wendet sich die Arbeit dezidiert gegen eine inflationäre Anwendung des Begriffs, die »Heterotopien […] allerorten« (S. 89) veranschlagen würde. Zwei metaphorische Komplexe prägen die Darstellung der Grenzgebiete, die den utopischen Charakter der Heterotopie ausmachen. Zum einen werden die Grenzverschiebungen zwischen Polen und Deutschen über einen Rekurs auf mittelalterliche Bilder und zum anderen auf Amerika ausgetragen. Indem mittelalterliche Bilder eingeschaltet werden, der Protagonist zum »letzte[n] Ritter Europas« (S. 93, zit. Freytag) stilisiert wird, werden räumliche und temporale Transpositionen enggeführt, die eine nüchterne Raumbeschreibung unter das Programm der Romantisierung stellen. Neben der heterochronen Transposition ins Mittelalter werden – ganz im Zeichen der Heterotopie – mit Polen und Amerika verschiedene Räume übereinander geblendet: »Polen ist Amerika ist Heterotopia« (S. 101). Die Polenreise des Protagonisten wird nicht nur mit der Amerikareise seines Freundes Fink parallelisiert, sondern Polen wird zugleich zum Ort »homosozialer Intimität« (S. 101) – zu einem Ort also, wo sich Geschlechteridentitäten dynamisieren und der in seiner symbolischen Konfiguration als Gegenraum zur altväterlichen Stadt Ostrau gestaltet ist. Über das amerikanische Modell der ›Frontier‹ als beweglichen Grenzraum schließlich werden Heterochronie und Heterotopie auch begrifflich enggeführt; nicht zuletzt ist das sich nach Westen (Amerika) oder Osten (Preußen/Polen) verschiebende Grenzgebiet auch ein normatives Projekt unter zivilisatorischen Vorzeichen, das ein räumliches Nebeneinander in ein zeitliches Nacheinander überführt, das so dem einen Raum aufwertend Zukunft attestiert, während es den anderen abwertend in die Vergangenheit stößt, d.h. über kurz oder lang auslöscht. Diese Abfolge vom unzivilisierten zum zivilisierten Raum ist in Soll und Haben indes nicht ungebrochen haltbar, was Hnilica an der positiv codierten Rückständigkeit von Räumen – etwa des Kontors oder Ostraus – einerseits und an der Bedeutung der Grenzgebiete für die Entwicklung des Protagonisten andererseits illustriert. Dem Verlangen nach Ordnung – dargestellt an der Raumordnung – wird die »Feier der Unordnung und Gesetzesübertretung« (S. 148) gegenüber gestellt. Genau in diesem interdependenten Mechanismus von Ausgrenzung und Eingrenzung besteht das zentrale Moment des Romans.

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Figur und (Post)Figuration: der Kaufmann als Künstler

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Die argumentative Brücke zwischen Raum und Figur und damit zwischen dem zweiten und dritten Kapitel bilden Räume, die genderspezifisch codiert sind. Die literarische Topographie steht nicht nur als ›Seelenlandschaft‹ stellvertretend für die Psyche ihrer Figuren, auch die Körper der Figuren werden mit räumlichen Metaphern beschrieben, was wiederum – vor allem über die Koppelung von gender und desire – die regulative Matrix in Soll und Haben dynamisiert. Im dritten Kapitel der Arbeit steht die Hauptfigur im Zentrum der Untersuchung, in der Freytags Transposition von der romantischen Kunstreligion zur realistischen Kaufmannsreligion beschrieben wird. Ausgangspunkt der Argumentation ist das frühromantische Genre des Künstlerromans; Soll und Haben wird als Genremischung zwischen Kaufmannsroman und Künstlerroman analysiert. Zentrales Symbol dieser Mischung ist die für die Studie titelgebende ›große Waage‹, welche die ökonomische Symbolik mit der Seelenwaage der christlichen Heilsgeschichte verbindet. Im Rückgriff auf die Smith’sche Metapher der ›unsichtbaren Hand‹, die Gemeinwohl und Eigennutz stets austariert, kann Hnilica die Waage weniger als säkularisiertes Konzept einer kühl kalkulierenden Ökonomie, sondern mehr als Aneignung eines latent religiösen Prinzips in der vorgeblich postmetaphysischen Ökonomie des Kaufmannsromans interpretieren. Diese Aneignung zeigt sich nicht nur im Attribut der Sakralität, mit dem Soll und Haben Dinge als Waren genau so wie Figuren belegt. 1 Korrespondierend mit dieser Heiligkeit ist Keuschheit die Zentraltugend, aufgrund derer der realistische Kaufmann das Erbe des romantischen Künstlers antritt. Wie die zölibatäre Abstinenz den einen zur Kunst befähigt, lässt sie den anderen – erfolgreich – Handel treiben. Im Gegensatz zur sexuellen Enthaltsamkeit stehen – in unmittelbare Nähe zu den »Elixieren des Teufels« gerückt – die »Elixiere des Kaufmanns« (S. 165); mit Punsch und Kaffee grenzt sich Freytag einerseits von einer romantischen »Ästhetik des Rausches« (S. 168) ab, bleibt aber zugleich in dialektischer Weise auf diese bezogen. Nicht zuletzt verbinden Alkohol und Kaffee Produktion und Konsum, sind sie doch sowohl Genuss- als auch Handelsgüter. Gleichzeitig stellen sie die stereotypen Schablonen in Frage, die den Adel als konsumierende und das Bürgertum als produzierende Schicht gegeneinander ausspielen.

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Dass auch die privaten Beziehungen von ökonomischem Kalkül durchsetzt sind, zeigt Hnilica an den ökonomischen Begriffen, die auch Liebe zu einem Geschäft machen, in dem primär über weibliche Figuren als Handelsobjekte verfügt wird. Im Rahmen der amourösen Konstellation der Hauptfiguren Anton und Sabine erfolgt aber eine weitreichende Umstellung der Geschlechterhierarchie, indem die weibliche Figur in der männlich codierten Position des Kaufmanns die Verbindung begründet. Sie ist es, die Anton schließlich den Einblick ins »Geheimbuch« (S. 181) der Firma gewährt, in dem Soll und Haben verzeichnet sind. In der Inversion der Geschlechterhierarchie hat die Ökonomisierung der Liebe damit Rückwirkungen auf die Ökonomie, die so emotional aufgeladen wird.

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Mit dem Geheimbuch ist das Stichwort zum abschließenden Kapitel der Arbeit gegeben, das sich den »poetologischen Selbstreflexionen« (S. 188), die die Argumentation gleichwohl bereits die ganze Arbeit über getragen haben, in konzentrierter Form widmet. Explizite Medien dieser Reflexion sind zum einen die den Roman durchziehenden Arabesken und zum anderen das bereits eingeführte Firmenbuch, das als »totaler Roman« (S. 193) zum poetologischen Reflexionsmedium par excellence avanciert. Die Arabeske transformiert das Kapital in Gestalt der verzierten Pfandbriefe zum ästhetischen Objekt und materialisiert dergestalt die Abstraktion der Ökonomie. Dass diese Materialisierung eine trügerische ist, zeigt die Arabeske im doppelten Boden, den sie in den Roman einzieht: Stellt sie zwar für die Figur eine Art wertsteigernde Verklärung des Kapitals dar, so avanciert die Arabeske über negative Codierungen (insbesondere in Beschreibungen der literarischen Topographie) zum Warnsignal für den Leser, der in den Arabesken die trügerische Qualität der Pfandbriefe und bereits ihre spätere Wertlosigkeit verbunden mit dem Ruin der Figur voraussehen kann. Im Geheimbuch der Firma schließlich kulminieren die selbstreflexiven Elemente. Das Handelsbuch, in dem nur noch Zahlen verzeichnet sind, löst als »totaler Roman« (S. 193) – die Verbindung zu Mario Vargas Llosas Programm der novela total stellt Hnilica nicht her – die Literatur der Worte gleichsam ab:

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Roman und Geheimbuch sind also eng aufeinander bezogen; das Geheimbuch lässt sich als Nukleus des Romans verstehen, über den selbstreflexiv die Frage nach der künstlerischen Form verhandelt wird. Beide Texte werden über den Titel aber auch aufeinander abgebildet; der Roman lässt sich als Versuch verstehen, das Firmengeheimbuch als poetologisches Modell umzusetzen, eben ein Soll und Haben im Medium der Literatur darzustellen. (S. 196)
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Es handelt sich also um eine wechselseitige Übersetzungsleistung von Zahlen und Poesie: Wo das Handelsbuch die – immer über ihre Materialität symbolisch aufgeladenen – Waren verzeichnet und als »(bessere) Fortsetzung« (S. 196) des Romans gedeutet werden kann, muss der Abschied von den Worten als Darstellungsmittel, die in ihrer Auslegungsbedürftigkeit Zahlen stets unterlegen zu sein scheinen, erst paradoxerweise durch Sprache vermittelt und begründet werden. In der Widmung des Geheimbuches »Mit Gott« (S. 197) ist weniger die Suggestion der ethischen Qualität der im Handelsbuch verzeichneten Handlungen, als vielmehr die Signatur der Ablösung der Kunstreligion durch die Kaufmannsreligion Freytags zu sehen, die in der abschließenden Initiation des Protagonisten in das Geheimnis der Firma figuriert wird.

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Anschlüsse

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Wenn Realismus »nicht als pures Abbild des Vorfindlichen […], sondern als Bezug auf eine wesentliche und sinnstiftende Dimension der Wirklichkeit« 2 zu verstehen ist, dann analysiert Hnilica mit Romantisierung als spezifischer Form der Verklärung eine wesentliche Dimension des Textverfahrens von Soll und Haben. Dass Romantisierung dabei eine Instanz von Entmimetisierung und folglich Fiktionalisierung ist, wie die Arbeit wiederholt feststellt (vgl. exemplarisch S. 51), könnte – so mein Vorschlag – den Ausgangspunkt zu weiteren Analysen darstellen, die genau diese Begriffe analytisch fruchtbar machen. Ansatzpunkte dafür könnten zum einen Michael Riffaterres intertextualitätstheoretisches Konzept der Syllepse und zum anderen Elisabeth Bronfens Ansatz des Crossmappings bieten. Mit Riffaterres im deutschsprachigen Kontext kaum rezipierten Konzept der Syllepse avanciert Intertextualität zum Fundament einer allgemeinen Literaturtheorie; 3 es stellt das »Bindeglied zwischen Poststrukturalismus und Hermeneutik« 4 dar, indem es Kristevas Weiterentwicklung von Bachtin rezeptionsästhetisch wendet. Intertextualität ist nicht mehr nur eine Eigenschaft von Texten, die als »Mosaik von Zitaten« (S. 23) aufeinander bezogen sind. Auf den Punkt gebracht entspricht dem Kristeva’schen Doppelzeichen in Riffaterres Literaturtheorie eine doppelte Lektüre, die die verschiedenen, notwendig konfliktären Bedeutungsschichten eines Textes freilegt. 5 Wirklichkeitsbezug lehnt Riffaterre als referentiellen Trugschluss bei der Interpretation von Literatur ab. Realismus ist daher – auch zu den Bedingungen der literaturgeschichtlichen Epoche – weniger einer als Wirklichkeitsbezug verstandenen mimesis verpflichtet, sondern vielmehr der Effekt spezieller Darstellungstechniken, die es darum zu entschlüsseln gilt. Diese Differenzierung könnte das Problem der Arbeit, die systematische und historische Argumentation in der Verbindung von Selbstreflexivität und Romantik eng führt, insofern lösen, als auch realistische Texte selbstreflexive Elemente ausstellen, die darum aber nicht zwangsläufig einen Bezug auf die Romantik darstellen müssen. Soll und Haben wäre damit als ein Text zu analysieren, der verschiedene semiotische Strukturen aus der Romantik aufnimmt und sie in der Textstruktur des Romans verschiebt, entstellt und so neue Bedeutung schafft. Die Verschiebung von der romantischen Kunstreligion zur realistischen Kaufmannsreligion wäre genau eine derartige Transformation, die Ästhetik in Ökonomie überführt, was aber letztere nicht unberührt lässt. Verkürzt gesagt: In der Kaufmannsreligion ist die Kunst zumindest latent enthalten. Rekonstruieren lässt sich diese Latenz über intertextuelle Referenzen. Eine Möglichkeit, um diese Latenz angemessen beschreiben zu können, wäre Bronfens Vorschlag des Crossmappings. Damit bezeichnet sie ein Leseverfahren, das genau diese – mit Greenblatt gesprochen, der auch als Gewährsmann Hnilicas dient (vgl. S. 20, 37) – energetischen Transformationen strukturell über den Rückgriff auf unterschwellige Pathosformeln greifbar zu machen versucht. Den gemeinsamen Nenner der Umstellung Freytags von der Kunst- zur Kaufmannsreligion bildet, wie Hnilica konstatiert, eine Figuration des Sakralen. Diese Sakralisierung – oder abstrakter formuliert: diese Zuschreibung – würde etwa dem eine Anschauung geben, was Hnilica mit der Analyse der Raum- und Figurendarstellung untersucht: Der dritte, heterotope Raum und der zwischen Ökonomie und Sakralität schwankende, im Bannkreis des titelgebenden Symbols der »großen Waage« stehende Kaufmann hätten ein strukturelles Äquivalent in dem, was Bronfen den »dritte[n] Raum der ästhetischen Formalisierung« 6 nennt.

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Im Anschluss an Riffaterre und Bronfen – so schlage ich weiter vor – lässt sich das Erzählverfahren des Textes genauer beschreiben. Die Doppelbödigkeit des Textes zeigt sich nämlich nicht nur auf intertextueller Ebene, sondern bereits in der narrativen Struktur. Von einem doppelten Boden der Erzählung war schon bezogen auf die Arabeske die Rede, die einer eingeschränkten Figurenperspektive die weniger beschränkte »Kommunikation zwischen Erzähler und Leser« (S. 190) entgegenstellt. Erst letztere verdoppelt die Bedeutung der Arabeske, die zum einen »verklärend« (ebd.) den Wert der verzierten Pfandbriefe steigert und zum anderen als »Warnsignal« (ebd.) deren spätere Wertlosigkeit andeutet. Dieses Wissensgefälle zwischen Erzähler und Figur kehrt in einer zentralen Stelle des Romans wieder, die ins Zentrum der Argumentation Hnilicas führt: Wo der Erzähler der ökonomischen Sphäre »Schwärmerei« und »Leidenschaft« (S. 160) austreibt, deutet die Figur die ökonomische Sphäre genau mit diesen Konzepten, romantisiert also – in der Terminologie Hnilicas – die Ökonomie. Da sich Erzähler und Figur also in einer elementaren Bewertung der Ökonomie widersprechen, liegt der Verdacht nahe, dass die Textstruktur mit ihren intertextuellen Referenzen auf die Romantik von dieser Widersprüchlichkeit abhängt; ist doch ohne die Romantisierung die Erzählung nicht zu denken. Narratologisch gewendet läge damit – was genauer zu untersuchen wäre – ein unzuverlässiger Erzähler vor, der hier eben nicht mehr weiß als die Figur, sondern schlicht gegen die Textstruktur argumentiert, deren Handlung – figuriert im Protagonisten als »Kind der Handlung« 7 – notwendig auf diese romantisierte Ökonomie angewiesen ist. Dann wäre Romantisierung als Verklärung ein Zuschreibungsmechanismus, der nicht mehr allein von der »Romanperspektive« (S. 101), sondern von verschiedenen Instanzen auf verschiedenen narrativen Ebenen des Textes abhängt, die es zu differenzieren gilt.

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Fazit

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Ohne Frage setzt Hnilicas Dissertation Maßstäbe für die Freytag-Forschung, indem sie ein fundamentales Desiderat des erst kürzlich erstarkten Forschungsinteresses zu Soll und Haben identifiziert und zugleich über intertextuelle Referenzen bearbeitet. Sie lenkt den Blick auf eine Dimension des Textes, die – durchaus notwendige wie verdienstvolle – ideologiekritische Lektüren bisher vernachlässigt haben. Nicht nur bietet Hnilica eine souveräne wie hervorragende, theoretisch geleitete Zusammenfassung der Forschung zu Soll und Haben, sondern auch eine genaue und sensible Textanalyse. Dabei gelingen ihr eine Fülle von genauen Einzelbeobachtungen, die sie anschaulich in ihre vom Text und seinen Intertexten ausgehende Disposition integriert. Ihr systematischer Zuschnitt ist aufgrund der Weiterentwicklung des Kristeva’schen Intertextualitätsparadigmas nach wie vor aktuell; lediglich in der Proportionierung der Kapitel schlägt dabei ein gewisses Ungleichgewicht zu Buche: So ist das Raumkapitel mit über 90 Seiten fast doppelt so umfangreich wie das Kapitel der titelgebenden Umstellung Freytags von der Kunst- zur Kaufmannsreligion; ebenso ist das Zwischenergebnis (2.3.) fast doppelt so lang wie das Fazit (4.).

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Soll und Haben sind auch in Zukunft Leserinnen und Leser wie Hnilica zu wünschen, die sich von den antisemitischen, rassistischen und xenophoben Anteilen genauso wenig wie der Instrumentalisierung durch unterschiedlichste Lesarten abschrecken lassen, um gerade die poetischen Verfahren zu erkennen, die diese Anteile transportieren. Nach der Befreiung aus dem Giftschrank der Literaturwissenschaft kann Hnilica in ihrer akribischen Analyse der poetischen Faktur Soll und Haben als einem der prekärsten Texte deutschsprachiger Literatur des 19. Jahrhunderts gerecht werden, weil sie die beiden Seiten seiner Bilanz in den Blick nimmt: den Prototext des programmatischen Realismus und seine Rekurse auf die Romantik.

 
 

Anmerkungen

Hier erschiene ein Anschluss an Fritz Breithaupt gewinnbringend: Fritz Breithaupt: Homo Oeconomicus (Junges Deutschland, Psychologie, Keller und Freytag). In: Jürgen Fohrmann, Helmut J. Schneider (Hg.): 1848 und das Versprechen der Moderne. Würzburg: Königshausen und Neumann 2003, S. 85–112.   zurück
Christian Begemann: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Realismus. Epoche, Autoren Werke. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 7–10, hier S. 8.   zurück
Vgl. Michael Riffaterre: »Syllepsis«. In: Critical Inquiry 6. (1980), S. 625–638.   zurück
Frauke Berndt, Lily Tonger-Erk: Intertextualität. Eine Einführung. Berlin 2013, S. 100.   zurück
Vgl. ebd., S. 104–107.   zurück
Elisabeth Bronfen: Crossmappings. Essays zur visuellen Kultur. Zürich: Scheidegger und Spiess 2009, S. 18.   zurück
Gustav Freytag: Soll und Haben. Leipzig: Manuscriptum 2002, S. 778.   zurück