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»Erinnern ist Arbeit«

Eine Studie zu Einar Schleefs Roman Gertrud

  • Halina Hackert: Sich Heimat erschreiben. Zur Konstruktion von Heimat und Fremde in Einar Schleefs »Gertrud«. (Literaturforschung 16) Berlin: Kadmos 2013. 332 S. Broschiert. EUR (D) 26,90.
    ISBN: 978-3-86599-181-2.
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Gertrud/Gertrud – Erinnerung als Erzählung

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Es ist ein „Jahrhundertleben«, das in Gertrud seinen literarischen Ausdruck findet. Das Romanwerk stellt neben den Tagebüchern aus den Jahren 1953 bis 2001 1 und dem ästhetisch-biographisch-politischen Essay Droge, Faust, Parsifal eines der drei tatsächlich monumentalen literarischen Hauptwerke Einar Schleefs dar. Es zeigt wie kaum ein anderes das Ringen eines Autors darum, sich der eigenen sozialen, biographischen und nicht zuletzt geographischen Herkunft zu versichern. In Form eines schier endlosen inneren Monologs spricht Gertrud (Schleefs Mutter) als nunmehr alt werdende Frau über ihr Leben: »Meine Kindheit fiel ins Kaiserreich, der Sportplatz in die Weimaraner, die Ehe auf Hitler unds Alter in die DDR. Wohin mein Kopp. Viermal Deutsches Reich, das 5. ist 2 Meter lang. Das 1000jährige Gottes erleb ich nimmer.« 2 Einsam nach dem Tod ihres Mannes Willy (mit dessen Krankheit und Tod der erste Band des Romans beginnt) und ebenso alleingelassen von ihren beiden Söhnen, von denen der ältere bereits in den Westen geflohen ist und der zweite (Schleef) in Ostberlin an der Kunstakademie studiert, droht sie zu verwahrlosen.

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Die von ihr mehr sich selbst hingesprochenen, mehr gestammelten als gedachten Erinnerungen an Vergangenes sowie die Gedanken und Vorstellungen, ihre subtilen Zeitdiagnosen und unbewältigten Ängste, die ihren beschwerlichen Alltag begleiten, stellen dabei – wie Halina Hackert in ihrer Arbeit zeigt, die diesem beinahe tausendseitigen Romanwerk gewidmet ist – ein »subversives Gegengedächtnis« 3 zum offiziell-kollektiven Gedächtnis in der DDR dar. Beginnend im Jahr 1970 und endend 1980 spiegelt sich in diesem Werk nicht allein die allgemeine politische Geschichte Deutschlands wider, sondern ebenso die Geschichte der Region in der thüringischen Provinz wie die Familiengeschichte Gertruds. So stellt die Autorin in ihrer Dissertation, die nicht – wie man vermuten könnte – im Bereich der Literaturwissenschaft, sondern in dem der Europäischen Ethnologie angesiedelt ist, die These auf, dass Schleef sich mit diesem Werk gleich in mehrfacher Hinsicht Heimat ›erschreibt‹. Dies wiederum begreift sie – unter Bezug auf Elisabeth Bronfen – als Reaktion auf das »Trauma der Entortung« (S. 119) als Folge seiner ›Republikflucht‹ im Jahr 1976. Diese traumatische Erfahrung sei der Anlass, die eigene bedrohte Vergangenheit »aus dem Fragmentarischen heraus zu einem Ganzen [zu] rekonstruieren« (ebd.). So ist auch das vierte Kapitel (»Nie mehr zurück«), das der Darstellung seiner Erfahrungen im westdeutschen Exil gewidmet ist, eines der lesenswertesten des Bandes, verknüpft es doch die zentralen Themen und Motive, die Hackert in ihrer Arbeit herausarbeitet: Schleefs literarische Erinnerungsarbeit, die bald nach seinem Fortgehen aus der DDR einsetzt, ist nicht allein als Reaktion auf den Verlust von ›Heimat‹ (und aller psychopathologischen Folgeerscheinungen) zu betrachten, sondern ebenfalls als Reaktion auf den mit der Übersiedlung verbundenen Sprachkonflikt zwischen Ost und West, dessen sich Schleef zunehmend bewusst wird und den auch andere Schriftsteller bezeugen, die aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt sind (u.a. führt Hackert in diesem Zusammenhang auch Uwe Johnson an, der dieses Phänomen etwa in Das dritte Buch über Achim geschildert hat). Der vermeintlich gleiche Sprachraum in Ost und West erweist sich als ein Schein, verweist doch die Bedeutung von Wörtern stets auf die politischen, sozialen und kulturellen – letztlich ideologischen – Bedingungen, unter denen sich Menschen verständigen. Mit der Übersiedlung von Ost nach West und schließlich der Erfahrung der ›Wende‹ aber haben sich, so Schleef, für ihn die Bedeutungsinhalte »verschoben« 4 .

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Seine Prosatexte der späten 1970er und frühen 80er Jahre sind, so Hackerts Ausführungen, ebenso als ›Erinnerungsarbeit‹ aufzufassen wie sein in dieser Zeit entstehendes Romanprojekt Gertrud; sie verweisen immer wieder auf die Bedeutung der deutsch-deutschen Grenze, beziehungsweise der geradezu obsessiv vom Westen der Stadt aus erkundeten Mauer, die für Schleef gerade in dieser Zeit das wohl zentrale literarische Motiv darstellt. Die Erfahrungen dieser ›Übergangszeit‹ fasst die Autorin treffend unter der Wendung von »Liminalität als Lebensform« (vgl. S. 116–120).

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In dieser Situation des Exils ist Gertrud also in erster Linie als Versuch zu verstehen, seinen Wunsch zu realisieren, sich in der Fremde der eigenen Herkunft zu versichern »und seine verlorene Heimat durch die Stimme seiner Mutter hindurch nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen« (S. 163). Mit seinem Roman schafft Schleef einen Erinnerungs-Sprachraum, den er mit seiner Mutter teilt und der ihm zur Heimat wird. Es ist der familiäre Rahmen, genauer: die sich in dem edierten Briefwechsel zwischen Mutter und Sohn dokumentierende Beziehung zwischen beiden, innerhalb derer sich die persönliche und historische Vergangenheit Gertruds artikulieren kann und die das (Re-)Konstruieren einer regionalen wie familiären »Vergangenheitsheimat« ermöglicht, in die sich der Autor Schleef mit seinem Werk zugleich einschreibt (vgl. S. 167). Dass sich die Autorin in ihrer Auseinandersetzung mit Gertrud sehr stark auf die Tagebücher Einar Schleefs stützt sowie auf Droge, Faust, Parsifal, verdient insofern eigens Erwähnung, als diese Texte sehr umfangreich und dicht sind und ein durchaus nicht eben leicht zugängliches Material darstellen, durch das sie gleichsam eine Bresche schlägt. Gleichwohl ist mit einer starken Gewichtung der Tagebücher auch eine Vorentscheidung für eine biographisch-psychologisierende Lesart des Romans getroffen, der mitunter sogar mit Hilfe eines tiefenpsychologischen Begriffsinstrumentariums angeeignet wird.

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Literatur als Ethnographie

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In der Absicht, die Literaturwissenschaft im Sinne diverser kulturwissenschaftlicher Forschungsansätze zu erweitern und sie damit in den Stand zu versetzen, der »Interpretationsoffenheit der Texte« (S. 57) gerecht zu werden, geht Hackert theoriegeschichtlich flankiert und unter Bezug auf Theoretiker wie Roland Barthes davon aus, dass Literatur als Ethnographie aufzufassen sei und ein »wesentliches kulturelles Erkundungsorgan für das dreifach Fremde in der Gesellschaft [darstellt]: das eigene Ich, die Differenz der Geschlechter und die andere, unbekannte Kultur« (S. 44). Themen und Motive, die in dieser Perspektive privilegierte Zugänge zu literarischen Werken ermöglichen, sind aus Sicht der Verfasserin Medialität, Gedächtnis, Körper, Geschlecht, Performanz, aber auch Konzepte von ›Heimat‹ und ›Fremde‹, Theorien des Rituals und der Liminalität (vgl. S. 57). Besondere Bedeutung kommt im Rahmen ihrer Argumentation dem Konzept des ›kulturellen Gedächtnisses‹ zu, wie es durch die Arbeiten von Maurice Halbwachs, Aleida Assmann und anderen konturiert worden ist. Die kultur- beziehungsweise literaturwissenschaftliche Schlüsselfunktion dieser Konzepte wird allerdings mehr behauptet denn begründet, oder genauer: die Begründung bleibt zirkulär; sie ermöglichen, so die Verfasserin, eine »Neusicht literarischer Texte, in deren Folge Texte als kulturelle Darstellungsformen […] und Medien kultureller Selbstauslegung verstanden werden« (S. 57). So bleibt das zweite Kapitel, von dem sich der Leser Aufschluss erhofft über das begriffliche Analyseinstrumentarium der Verfasserin, in dieser Hinsicht enttäuschend. Sie kann zwar anhand verschiedener Beispiele illustrieren, dass Ethnographie und Literatur in gewisser Weise affin sind, welche analytischen Verfahren jedoch von der Ethnographie bereitgestellt werden, auf die die Literaturwissenschaft ihrerseits zurückgreifen kann, bleibt offen. Ebenso offen bleibt die Frage, welche literaturwissenschaftlichen Analyseverfahren es nun im Einzelnen sind, die jene von Hackert behaupteten Grenzen »einer ausschließlich philologischen Textinterpretation« (ebd.) offenbaren. Alles in allem kann sich der Leser nur eine sehr vage Vorstellung von jenen »›kulturellen Strategien der Aneignung‹«(S. 65) von Texten machen, die Hackert der aus ihrer Sicht überkommenen philologischen Analyse entgegenzusetzen sucht, da das methodische Vorgehen kulturwissenschaftlich-ethnographischer Textanalyse von der Verfasserin nicht eigens thematisiert wird.

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Und in der Tat, das verrät bereits ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der Arbeit, bestimmen die von ihr genannten kulturwissenschaftlichen Theoriekonzepte – Heimat (Provinz), Fremde (Exil), Liminalität, Alltag, Körper, Geschlecht und (kulturelles beziehungsweise kommunikatives) Gedächtnis – auch ihre Lektüre des Romans. Damit will die Verfasserin zeigen, wie sie im Nachwort erklärt, dass diese Konzepte »auch in literarischen Werken ausgehandelt und repräsentiert werden können« (S. 293). Diese Aussage impliziert, dass Hackerts Untersuchung des Romans Gertrud als in diesem Sinne beispielhafte Lektüre aufzufassen ist; eine Lektüre, welche die von ihr aufgegriffenen Konzepte illustriert und deren Relevanz an einem literarischen Beispiel diskutiert beziehungsweise belegt. Allerdings steht damit zugleich die von der Verfasserin behauptete »Interpretationsoffenheit« (S. 57) literarischer Texte in Frage, die sich spätestens dort in ihr Gegenteil verkehrt und verkehren muss, wo die am Text herauszuarbeitenden Konzepte ihrer Struktur nach bereits vorgegeben werden.

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›Oral history‹

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Bereits einleitend charakterisiert Hackert die sprachliche Gestalt des Romanwerks als eine »simulierte bzw. poetisierte, an ›oral history‹ erinnernde Erzählweise« (S. 17), mit deren Hilfe das autobiographisch-mündliche Erzählen zu einer »neuen Disziplin der Geschichtsschreibung« (S. 18) avanciere. In zu geringer kritischer Distanz gegenüber Positionen, denen zufolge Geschichtsschreibung sich allein durch das (Auf-)Schreiben von Geschichten, von Einzelschicksalen aus subjektiver Perspektive legitimiert, heißt es bei Hackert: Durch »Schleefs mikrohistorische Alltagsbeschreibungen und seinen geradezu sezierenden Blick auf die Lebenswelten der ›kleinen Leute‹ sowie deren dialektale Äußerungen, erscheinen seine Darstellungen beinahe aussagekräftiger als die eines Historikers« (S. 18). Eine solche Aussage, wie Hackert sie hier beiläufig trifft, ist jedoch nicht nur problematisch, sondern auch ärgerlich, da sich die Verfasserin auf das komplexe Verhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung sowie deren jeweiligen Gegenstand gar nicht einlässt (was bei einer derart starken These durchaus nahegelegen hätte).

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Im Verlaufe ihrer Arbeit (Kapitel 7.5: »Regionale Sprache = Muttersprache«) kommt Hackert noch einmal auf die sprachlichen Eigenheiten des Romans zurück und trifft in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen der Muttersprache (welche die Sprache des Dialekts mit einschließt) und der kultivierten Hochsprache (die Schleef mit seinem Vater assoziiert). Mit Bezug auf Schleef selbst stellt sie die These auf, das regionale Idiom als lokale Sprache (in der wiederum regionale Geschichte, Mythen und Legenden der Region gleichsam eingelagert sind und die mit Blick auf den einzelnen Sprecher auch in stärkerem Maße affektbesetzt ist) markiere den Gegensatz zur »Ideologiesprache« der medialen und politischen Öffentlichkeit, in der sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse widerspiegeln. Mit dieser Beobachtung korreliert die These der Verfasserin, Gertrud sei Ausdruck einer subversiven Geschichtsschreibung, die sich gegen die Übermacht des ›offiziellen‹ Gedächtnisses richte. Gerade im Zusammenhang ihrer Argumentation ist Hackerts These von der ideologischen Unberührtheit des regionalen Idioms aber problematisch, geht es ihr doch im Kern darum zu zeigen, wie sehr die individuelle Biographie Gertruds und die aller Angehörigen ihrer Familie von den allgemeinen politischen Ereignissen und Entwicklungen geprägt ist, die die regionale Sprache immer auch affizieren. Der Versuch, Gertrud als Aufzeichnung von ›oral history‹ zu lesen, ist nur sinnvoll, wenn man die (dialektale) Alltagssprache als etwas begreift, in dem sich Geschichte sedimentiert. Die an ›oral history‹ orientierte Erzählweise Schleefs im Sinne der Alltagsgeschichte oder einer Geschichte aus subjektiver Perspektive steht, so muss man allerdings ergänzen, auch für »eine explizite Absage an den Fortschrittsautomatismus« 5 , wie er gemeinhin mit der Staatsdoktrin der DDR in Verbindung gebracht wird. Darauf weist Ingeborg Gerlach hin, die bereits – was Hackert nicht erwähnt – recht bald nach Erscheinen des zweiten Bandes von Gertrud den Zusammenhang zwischen dem autobiographisch-mündlichen Erzählen Schleefs und der Tradition der ›oral history‹ thematisiert.

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Zum Verhältnis von Erinnerungs-
und Schreibprozess

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In der Analyse des Romans (beginnend mit dem fünften Kapitel »Erzähltes Leben«) erweist sich erstaunlicherweise die von Hackert eingangs so ausführlich behandelte ethnologische Sicht auf Literatur als geradezu obsolet; so kommt die Autorin erst wieder am Schluss ihrer Ausführungen darauf zurück. Ihre Gertrud-Lektüre, der es erklärtermaßen nicht um die Beschreibung narrativer Strukturen zu tun ist, wird vielmehr bestimmt durch die Auffassung, dass es sich bei diesem Text um »Erinnerung als Erzählung« (S. 156) handelt. Die gemeinsame archäologische Erinnerungsarbeit zwischen Mutter und Sohn ist, so macht Hackert deutlich, aufs engste mit dem Schreibprozess Schleefs verwoben. Ein dichter Briefwechsel zwischen den beiden bezeugt die intensive und bisweilen bis ins physische Erleben hinein schmerzhafte Auseinandersetzung Gertruds mit ihrer Vergangenheit, der sie sich auf Drängen ihres Sohnes stellt. Wo die Mutter in Briefen an ihren Sohn wie in Telefongesprächen mit ihm sich immer auch in »Zwischenräumen des Gesagten« (S. 152), an der Grenze des Verdrängten wie des nicht verbal Kommunizierbaren bewegt, wird die Arbeit des Romanautors zur Übersetzungsarbeit, die die »noch nicht integrierten Gefühle« der Mutter zu entschlüsseln sucht.

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Ausgehend von diesen durchaus interessanten Beobachtungen ergibt sich nun jedoch eine Reihe von Fragen, denen Hackert nicht nachgeht, die jedoch der Untersuchung bedürften, wie etwa die nach eben jenem ›Zwischenraum‹, der sich zwischen den Briefen, die Schleef und seine Mutter wechseln, und dem Schreiben des Romans auftut. Wenn die Autorin davon spricht, Erinnerung werde als Erzählung und damit auf ein Gegenüber hin konstituiert, dann drängt sich dem Leser die Frage nach den narrativen Verfahren solcher ›Übersetzung‹ auf, durch die die Strategien des Erinnerns, Vergessens und Erzählens verknüpft sind. Um Hackerts Ausführungen einmal weiterzuspinnen: Im Schreibprozess kommt es zu einer Verschiebung vom dialogisch inszenierten Erinnern – Hackert spricht verschiedentlich auch vom ›kommunikativen Gedächtnis‹ – zum monologischen Erzählen. Der Prozess des Schreibens folgt anderen Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten als das dialogisch-empathische Erarbeiten von Erinnerungen; nicht zuletzt führt er auch zu einer ›Verdoppelung‹ des Autors, der einerseits als Autor agiert, sich verschiedener sprachlicher, narrativer und strukturgebender Verfahren bedient, und der zugleich Gegenstand des eigenen Erinnerns wie Gegenstand der Erinnerung der Mutter wird. Die gesicherte Autorposition, sein Status als Urheber des Textes, wird also auch dadurch erschüttert, dass er sich selbst aus der Perspektive der Mutter betrachtet. Diesem Gedanken des für den Roman konstitutiven ›Perspektivwechsels‹ geht Ingeborg Gerlach in ihrem Beitrag Der Autor als Heldin nach (dem allerdings die zweibändige Edition des Briefwechsels zwischen Schleef und seiner Mutter, erschienen 2009 und 2011, noch nicht vorgelegen hat). Was das Verhältnis von Mutter und Sohn betrifft, kommt sie zu dem Schluss: »Im Grunde ›verweigert‹ Filius (Schleef, BC) sich noch immer der Kommunikation, die er offensichtlich für unmöglich hält. Niemals bezieht er Stellung zu Gertruds wütenden Beschimpfungen. So muß Gertrud unaufhörlich gegen die Wand reden; das Buch ist nicht mehr als ein Spiegel, der ihre Vorwürfe zurückwirft.« 6

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Halina Hackerts Entscheidung, anhand von Gertrud die Auseinandersetzung um das Thema der Erinnerung beziehungsweise des ›kulturellen‹ oder ›kommunikativen Gedächtnisses‹ zu führen, ist also nicht unplausibel, geht es doch nicht allein um das materialiter Erinnerte, Verdrängte und Vergessene, mit dem sich Gertrud plagt. Ebenso verhandelt der Text die Gesetzmäßigkeiten solcher Erinnerungs- und Selbsterkenntnisprozesse; in diesem Zusammenhang sind Hackerts Überlegungen zum »Körper als Einschreibefläche des Gedächtnisses« (Kapitel 8) hervorzuheben, in denen sie darstellt, dass der Körper nicht allein als Medium von Erinnerung fungiert, insofern er Erinnerungen ›speichert‹, sondern darüber hinaus Schauplatz jenes Krisenszenarios ist, an welchem sich, wie Hackert unter Bezug auf Gabriele Brandstetter bemerkt, »›permanent das vielschichtige Geschehen der Selbstbeobachtung und Selbstkonstruktion abspielt‹«(S. 253). Der Körper ist also nicht nur Speichermedium von Erfahrung, sondern er kann aufgrund dieser Eigenschaft zum Medium der Erinnerung werden und stellt damit schließlich den Austragungsort von Erinnerungsprozessen dar, denen immer auch subjektkonstitutive Bedeutung zukommt.

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Ausblick

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Halina Hackert zieht für die Analyse dieses in der Tat nicht leicht zugänglichen Romanwerks eine enorme Vielzahl von Reflexionen, Positionen und Theorien aus Literatur, Philosophie und verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen heran. So kann sich der Leser einerseits verschiedenfach anregen lassen und wird wohl auch den von ihr unternommenen Exkursen in die Gegenwartsliteratur mit Interesse folgen. Andererseits wäre zu bedenken, ob nicht – anstatt des sehr langen theoretischen Vorlaufs, der sich über fast 140 Seiten erstreckt – eine stärkere Anbindung des Wissenschaftsdiskurses an die konkrete Textanalyse sinnvoll gewesen wäre. Auf diese Weise wäre der innere Zusammenhang der Argumentation erhalten geblieben, der leider mitunter in der tendenziellen Verselbstständigung der Darstellung der verschiedensten Positionen verloren geht, was insbesondere im dritten Kapitel: »Heimat – was ist das?« deutlich wird. Eine stärkere Fokussierung auf den zu untersuchenden Primärtext hätte zudem eine immanente ›Quellenkritik‹ ermöglicht; allein die Fülle der angeführten Literatur hindert die Autorin nicht selten daran, sich die von ihr aufgenommenen Positionen gedanklich anzueignen, was nur in kritischer Distanz möglich ist.

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So bleiben wesentliche Fragen auch nach der Lektüre des Bandes offen; für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gertrud-Komplex ist eine genaue Untersuchung der Beziehungen zwischen dem Roman und dem Briefwechsel unerlässlich, anhand dessen das von Hackert in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung gerückte ›kommunikative Gedächtnis‹ eingehender zu befragen wäre. Außerdem – was Hackert überraschender Weise an keiner Stelle erwähnt – bleibt zu fragen, in welchem Verhältnis die zum Gertrud-Komplex zu rechnenden, aber nicht in das Romanwerk aufgenommenen Erzählungen und kürzeren Prosatexte dieser Zeit stehen. Gerade von hier aus müsste sich Aufschluss geben lassen hinsichtlich der verschiedenen Aneignungsverfahren des Gertrud-Stoffes, die Schleef erprobt; Aufschluss hinsichtlich der Frage also, wie er – im Prozess seines Schreibens – zu jener Schreibweise findet, für die er sich schließlich entscheidet (was die Erzählperspektive, also die Form des inneren Monologs betrifft, aber etwa auch den weitgehenden Verzicht auf all das dokumentarische Material, das er ursprünglich in den Text hatte integrieren wollen). Angesichts der von der Verfasserin vertretenen These, Schleef intendiere mit seinem Romanwerk die literarische Konkretion des Alltagslebens in der thüringischen Provinz, also die der »Lebensverhältnisse der jeweiligen Zeit« (S. 18); kurz: er beschreibe soziale Wirklichkeit und suche nach einer »Form der Authentizität« (S. 19) der Darstellung, indem er sich in seiner Schreibweise nicht nur am autobiographisch-mündlichen Erzählen orientiert, sondern auch die dialektalen Eigenheiten der gesprochenen Alltagssprache herausarbeitet, mag es erstaunen, dass die Verfasserin die Frage, inwiefern sich Schleef damit zugleich einer realistischen Schreib- und Erzählweise verpflichtet sieht, nur beiläufig streift (vgl. S. 283). An dieser Stelle zitiert sie Günther Rühle, der darauf hinweist, dass Schleef »die Realitäten« (Hackert) nicht nur abgebildet habe, sondern sie gleichsam »verdickte, verdichtete, vergrößerte« und auf diese Weise schmerzhaft überzeichnete. 7 Es wäre dann etwa weiter zu fragen, ob sich auch mit Blick auf Schleefs literarische Arbeiten von einem Realismus sprechen ließe, der – wie Heinrich Vormweg es mit Blick auf Rolf Dieter Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr formulierte – über sich selbst hinaus will, der also Realismus ist, reale Zustände abbildet und sie zugleich überwinden will. 8

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Hackert bietet mit ihrer Studie vielfache Anknüpfungspunkte – auch für die Auseinandersetzung mit dem übrigen literarischen Werk Schleefs und hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis seiner Arbeiten in den unterschiedlichen künstlerischen Bereichen. Aber die Arbeit »im Bergwerk« des Gertrud-Komplexes hat gerade erst begonnen.

 
 

Anmerkungen

Der Titel dieser Rezension bezieht sich auf Einar Schleef: Tagebuch 1981–1998. Herausgegeben von Winfried Menninghaus, Sandra Janßen und Johannes Windrich. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, S. 227.   zurück
Einar Schleef: Gertrud. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 285.   zurück
Halina Hackert: Sich Heimat erschreiben. Zur Konstruktion von Heimat und Fremde in Einar Schleefs »Gertrud«. Berlin: Kadmos 2013, S. 158. Sofern nicht anders gekennzeichnet, beziehen sich die Seitenangaben in Klammern auf diesen Band.   zurück
Einar Schleef: Tagebuch 1977–1980. Herausgegeben von Winfried Menninghaus, Sandra Janßen und Johannes Windrich. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 102.   zurück
Ingeborg Gerlach: Der Autor als Heldin. »Gertrud«, »Medusa« und andere – zu einem Trend in der Gegenwartsliteratur. In: Diskussion Deutsch 19 (1988), S. 292–307, hier S. 299.   zurück
Ingeborg Gerlach (Anm. 4), S. 302.   zurück
Günther Rühle: Theater muss weh tun. In: Theater heute 10 (2001), S. 4–21, hier S. 8; zitiert nach Hackert (Anm. 3), S. 283.   zurück
Heinrich Vormweg: Ein Realismus, der über sich selbst hinauswill. In: Heinz L. Arnold (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur aus Methoden. Frankfurt/M. 1972, S. 40–44.   zurück