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»Man muss dicht am Stier kämpfen«

Gottfried Benns Wissenspolitik

  • Marcus Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne. 1905-1932. 2 Bände. Göttingen: Wallstein 2011. 840 S. 41 Abb. Gebunden. EUR (D) 89,00.
    ISBN: 978-3-8353-0784-1.
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Poesie und Wissen

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Literaturwissenschaftliche Monographien erreichen nur eine geringe Anzahl an Leserinnen und Lesern – dies ist weidlich bekannt. Nicht für alle Schriften ist dies zu bedauern; bei einigen aber bedeutet die Nichtbeachtung einen ernstzunehmenden Verlust für die literaturwissenschaftliche Zunft. Dies ist bei der vorliegenden, bereits vor gut zwei Jahren erschienenen Habilitationsschrift von Marcus Hahn der Fall. In der zweibändigen, mit 840 Seiten wahrlich monumentalen Studie zu Gottfried Benn hat der zur Zeit an der Ghent University lehrende Germanist eine einerseits faszinierende, andererseits einschüchternde und auch ernüchternde Darstellung zu Gottfrieds Benns Verhältnis zum Wissen und zu den Wissenschaften seiner Zeit vorgelegt. Am Beispiel einer der zentralen Ikonen der modernen deutschen Literatur hat Marcus Hahn damit das seit geraumer Zeit wiederholt formulierte, aber selten ernsthaft verfolgte Versprechen der Literaturwissenschaften eingelöst, Literatur und Wissenschaft, Literaturgeschichte und Wissenschaftsgeschichte in einer hermeneutisch sensiblen, philologisch präzisen und wissenschaftshistorisch anspruchsvollen Weise aufeinander zu beziehen und für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung fruchtbar zu machen. Dies wird von Marcus Hahn nicht zuletzt dadurch erreicht, dass er Gottfried Benns poetologisches Bekenntnis zum Wissen und zu den Wissenschaften beim Wort nimmt – ein Bekenntnis, das der Autor programmatisch in seinem Marburger Poetik-Vortrag Probleme der Lyrik (1951) ausgebracht hat und das auszugsweise am Beginn der vorliegenden Monographie sowie auf dem Schutzumschlag des ersten Bandes zitiert wird:

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Der Lyriker kann gar nicht genug wissen, er kann gar nicht genug arbeiten, er muß an allem nahe dran sein, er muß sich orientieren, wo die Welt heute hält, welche Stunde an diesem Mittag über der Erde steht. Man muß dicht am Stier kämpfen, sagen die großen Matadore, dann vielleicht kommt der Sieg. 1
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Der arbeitsaufwändige, anspruchsvolle und riskante Kampf »dicht am Stier«, den Benn metaphorisch sowohl seiner poetischen Produktion als auch seiner ausgreifenden, Wissenschaftliches und Nichtwissenschaftliches umfassenden Lektürepraxis zuschreibt, lässt sich als Forderung unschwer auch auf seine Interpreten übertragen. Denn während die literaturwissenschaftlichen Apologeten der Kunstautonomie sich der wissenschaftlichen, größtenteils naturwissenschaftlichen Materialien und Inspirationsquellen ihres Dichters gar nicht erst annehmen, dispensieren sich die Vertreter der Literature & Science Studies, der literaturwissenschaftlichen Wissensgeschichte wie auch der Wissenspoetologie allzu oft von der Aufgabe, sich mit den von der Literatur beliehenen wissenschaftlichen Disziplinen und ihren Fachgeschichten eingehender auseinanderzusetzen und womöglich sogar den Rat wissenschaftshistorischer Fachvertreter einzuholen. Stattdessen beschränkt man sich bei der Aufbereitung der Wissenschaftsgeschichte gern auf populärwissenschaftliche Darstellungen und einige punktuell angelesene Aspekte des jeweiligen Wissensgebiets. Vermeintlich interdisziplinär ausgerichtete literaturwissenschaftliche Studien erschöpfen sich daher zumeist in einer oberflächlichen wissenschaftshistorischen Kommentierung literarischer Texte, begnügen sich mit motivgeschichtlichen Herleitungen und metaphorisch-analogischen Korrespondenzbeobachtungen – oder aber sie neigen zu hypertrophen, weil dilettantisch verallgemeinerten Thesen zur Interferenz oder gar Ununterscheidbarkeit von Literatur und Wissen.

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Benns ›sensationierender‹ Blick auf die Wissenschaften

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Marcus Hahn hingegen hat den besagten ›Kampf mit dem Stier‹ aufgenommen. Er lässt sich nicht nur auf die von seinem Autor theoretisch und praktisch bearbeiteten Wissenschaften ein. Da Benn relativ unbesorgt um wissenschaftstheoretische Standards seine Lektüre an Kriterien der Interessantheit und Neuheit statt an Kriterien der Wahrheit oder auch Nützlichkeit orientiert hat und er oftmals eher den weltanschaulichen statt den wissenschaftlichen Reizen zu erliegen scheint, muss auch sein Interpret Benn ins Panoptikum halbwissenschaftlicher, pseudowissenschaftlicher und weltanschaulicher Diskurse folgen. Ohne dies eigens zu erwähnen, hält sich Hahn in seinem Vorgehen dabei an die von Ludwik Fleck und anderen wissenssoziologisch instruierten Wissenschaftshistorikern formulierte Vorgabe, dass die Wissensgeschichte nicht als Geschichte eines geradlinigen kumulativen Wissensfortschritts, als »veni vidi vici«-Narrativ 2 geschrieben werden sollte, sondern richtige und falsche Wissensansprüche gleichermaßen ›erklärt‹ werden müssen. 3 Zur Geschichte des modernen wissenschaftlichen Wissens gehört demnach auch die Geschichte der retrospektiv als falsch, unwissenschaftlich oder pseudowissenschaftlich ausgesonderten Wissensansprüche. Aus heutiger Sicht scheinen die von Hahn rekonstruierten Hypothesen und Theorien zwar mitunter kuriose und abstruse, fremdartige oder phantastische Züge zu tragen, so beispielsweise Debatten über den »Hund ohne Großhirn« (S. 76f.), den »Zungen-Rachennerv bei Kaninchen« (S. 191) oder »fiktive Urmollusken« (S. 246). In den Jahren des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik aber zählten sie zum Bestandteil des bildungsbürgerlichen Wissenskosmos und fanden so auch die Aufmerksamkeit des obsessiven Lesers Gottfried Benn.

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Spurensuche im Archiv

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Spuren dieser ausschweifenden Lektüre finden sich nun nicht nur in Benns eigenen Texten, sondern auch in den Büchern seiner im Deutschen Literaturarchiv Marbach archivierten Bibliothek, deren wissenschaftlichen Teil Hahn für seine Studie erstmals systematisch ausgewertet hat. Die akribisch zusammengestellten Funde wissenshistorisch und poetisch relevanter Quellen reichen von den Großhirnuntersuchungen von Paul Flechsig, Friedrich Goltz und Theodor Meynert über die pathologisch-anatomischen Studien von Rudolf Virchow, Johannes Orth und Ernst Bumm, die Entwicklungstheorien von Oscar Hertwig und Semi Meyer, die antidarwinistischen Theorien von Max Westenhöfer, Hermann Klaatsch und Otto Kleinschmidt bis hin zu der esoterischen Paläontologie von Edgar Dacqué und der Wunderheilkunde von Erwin Liek – vielfältige und heterogene Kontexte, die in Hahns Monographie durch die Zentrierung auf den Autor Benn und sein Werk zusammengehalten werden (vgl. S. 16).

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Der Aufbau der Studie

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Jeweils gruppiert um eine wissenschaftliche Disziplin und ein sie jeweils bezeichnendes Motiv oder Thema führt Hahn in sieben Stationen beziehungsweise Kapiteln durch Benns literarische Auseinandersetzung mit der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, angefangen bei der Neurologie (S. 25–92), Anatomie (S. 93–145) und Psychologie (S. 146–233) der Jahre vor und während des Ersten Weltkriegs über die Biologie (S. 234–303) und Psychiatrie (S. 313–430) der Weimarer Republik bis hin zur Anthropologie (S. 431–707) und Medizin (S. 708–761) der frühen 1930er Jahre. Der Zeitraum von 1933 bis zu Benns Tod im Jahr 1956 wird in den zwei vorliegenden Bänden nicht abgebildet, der Leser wird jedoch auf einen in Planung befindlichen dritten Band verwiesen, der Benns Auseinandersetzung mit der Mutationstheorie und Eugenik, der Historiographie, der Rassentheorie, der jüdische Geschichte und Esoterik, der Geschlechterdifferenz und der Physik (S. 21) zu beinhalten verspricht. Für das somit aus nachvollziehbaren Gründen unabgeschlossen gehaltene Ende der bereits vorliegenden Wissensgeschichte wird der Leser allerdings durch ein ausführliches Literaturverzeichnis und ein ausgesprochen sorgfältig erstelltes Werk- und Personenregister (S. 818–839) entschädigt, das die beiden vorliegenden Bände zu einem wertvollen Hilfsmittel gerade auch für die Leser macht, die sich nicht primär für Benn, sondern vornehmlich für das Wissen und die Wissenschaften der Moderne interessieren.

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Allerdings sollte man keine traditionelle Wissens- oder Wissenschaftsgeschichte erwarten. Denn die durch Benns Leserblick geleitete Suchoptik des Verfassers erzeugt in Auswahl, Aufbau und Darstellung eine lebendige, teils gelehrte, teils anekdotische, teils zynische, teils voyeuristische, aber zugleich eben auch eine sehr Benn’sche Perspektive auf die Wissenschaften. Aus diesem Grund scheint mir der Vorwurf, dass in »der überbordenden Materialfülle [...] der Dichter Benn immer wieder hinter der Aufarbeitung wissenschaftlicher Debatten« verschwinde, 4 nur dann gerechtfertigt zu sein, wenn man in Marcus Hahns Studie Benn ausschließlich als Dichter und nicht auch als einen an den Wissenschaften interessierten Leser sehen will. Benn ist in Hahns Monographie gewissermaßen ›überpräsent‹, und zwar gerade auch in den wissenshistorischen Passagen.

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Benns Dilemma der Wissenschaftskritik –
am Beispiel der Psychiatrie

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Aus dem reichen Material, bei dessen Rekonstruktion Hahn immer wieder mit überraschenden Referenzen und faszinierenden Querverbindungen aufwarten kann, kann ich an dieser Stelle nur einen Analysestrang, Benns Auseinandersetzung mit der Psychiatrie, herausgreifen. Exemplarisch aber lässt sich daran ein kleiner Eindruck davon vermitteln, wie in der Untersuchung Rekonstruktion und Interpretation ineinander spielen und einen innovativen Blick auf Benns Texte freilegen.

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In dem »Zauberkausalität: Psychiatrie 1921« überschriebenen Kapitel rücken drei psychiatrische Wissensbereiche ins Zentrum der Aufmerksamkeit: erstens die auf Théodule Ribot und Pierre Janet zurückgehende, in Deutschland unter anderem von Traugott Konstantin Oesterreich vertretene Depersonalisationstheorie, zweitens die von Ernst Kretschmer, Wilhelm Lange-Eichbaum und anderen entwickelte charakterologische Typenlehre, die insbesondere auch auf die psychopathologischen Besonderheiten des ›Genies‹ fokussiert, und drittens die unter anderem von Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Gustav Bychowski und Heinz Hartmann entfalteten Theorien zur schizophrenen Regression und – damit zusammenhängend – zum psychiatrischen Evolutionismus. Benn bedient sich in seinen Essays großzügig aus den ihm zugänglichen psychiatrischen Quellen. Marcus Hahn zeichnet die mitunter Benn auch nur aus zweiter Hand (vgl. z.B. S. 385) bekannten psychiatrischen (und psychoanalytischen) Referenzen insbesondere in Epilog und Lyrisches Ich (1921/1927) und den 1930 entstandenen Essays Das Genieproblem, Genie und Gesundheit, Zur Problematik des Dichterischen, Der Aufbau der Persönlichkeit. Grundriß einer Geologie des Ich nach und kann auf diese Weise eindrücklich demonstrieren, wie das »Nebeneinander von medizinischem Brotberuf und künstlerischer Tätigkeit« (S. 314f.) in Benns Texten zu einem »gegenseitige[n] Übersetzungs- und Verwandlungspotential beider Diskurse« (S. 315), des literarischen und des psychiatrischen Diskurses, führt.

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Der Epilog beispielsweise, der in der Forschung wiederholt als retrospektiver Selbstkommentar zur Rönne-Figur gelesen worden ist, wird von Hahn umgekehrt als »Vorgriff auf künftige wissenspolitische Strategien« (S. 316) lesbar gemacht. Um Benns epilogische Selbstdiagnose nicht nur literaturgeschichtlich, sondern auch wissenschaftsgeschichtlich einordnen und exemplarisch als Dokument für die »diskursiven Durchlässigkeiten zwischen der Literatur und der Psychiatrie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« (S. 329) auswerten zu können, rekonstruiert Hahn im Rückgriff auf Darstellungen der Medizinhistoriker Edward Shorter und Henri Ellenberger zunächst die »Genealogie der Psychiatrie in doppelter Perspektive« (S. 320), das heißt zum einen im Hinblick auf die »eher kulturalistisch orientierte Psychotherapie« und zum anderen im Hinblick auf die eher biologisch orientierte »klinische Psychiatrie« (S. 320). Ausführlich folgt er dem Leser Benn sodann auf den in seinen Büchern hinterlassenen ›Lesezeichen‹, um so philologisch rigoros zu belegen, wie Benn »wissenschaftliche Lesefrüchte« (S. 346) in amplifizierender Absicht in seine essayistischen Reflexionen integriert und mit poetischen, im Epilog vor allem mit mythopoetischen Elementen zu einer Dichter-Imago verschmilzt. Die prospektiv, also zeitlich nach vorn gerichtete Analyseperspektive erlaubt es, den Epilog als Ausweis eines »dialektischen Dilemma[s] der Wissenschaftskritik« auszuweisen: Denn, wie Hahn pointiert, »auch die Negation stärkt die Autorität des modernen Wissens« (S. 346). Ideologiekritische Deutungen der Benn’schen Essays, die seine Wissenschaftskritik als »Antimodernismus« brandmarken, übersähen demnach ein »zentrales Kriterium« seiner Modernität: »die Berufung auf das Wissen« (S. 405). Zwar setze sich Benn in seinen Essays in wissenschaftskritischer Absicht von den psychiatrischen Positionen ab, nutze die Auseinandersetzung aber zugleich dazu, die »Außenseiterrolle des Künstlers in der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft« (S. 345) auf wissenschaftlichem Wege zu legitimieren, so dass die Wissenschaftskritik wie auch die Poesie unausweichlich durch Wissenschaft autorisiert (S. 371) und im Gegenzug die Rolle der Wissenschaft für die Moderne stabilisiert werde.

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Ähnliches kann Hahn für Benns essayistischen Rekurs auf die Charakterologie konstatieren, die der Dichter dazu verwende, dem politisch-gesellschaftlichen Nivellierungs- und Normierungsdruck bürgerlicher wie kommunistischer Provenienz eine emphatisch auf Differenz und Anormalität zielende, wissenschaftlich autorisierte Vorstellung des Genies entgegenzuhalten (vgl. S. 416). Die Berufung auf die Psychiatrie werde so zu einem Argument für die »Autonomie des Künstlers gegenüber bürgerlichen oder kommunistischen Gesellschaftsentwürfen, indem seine Anormalität als körperlich bedingt, d.h. als kulturell unverfügbar, legitimiert wird« (S. 405). Mit dem in der Psychiatrie ebenfalls intensiv diskutierten Schichtenmodell der Psyche, demzufolge sich auch im hochzivilisierten und gesellschaftlich domestizierten Europäer noch ein »primitives, d.h. poesiefähiges Erbteil« (S. 385) findet, kann Benn schließlich, wiederum wissenschaftlich gedeckt, dem Dichter der Moderne einen privilegierten Zugriff auf das Irrationale, das heißt auf einen der Ratio und damit auch dem wissenschaftlichen Diskurs unzugänglichen Bereich des Numinosen zuschreiben (S. 425). Es ist dieser vermeintlich gegenläufige Impetus von Wissenschaftsaffirmation und Wissenschaftskritik, der sich wie ein roter Faden durch die Darstellung von Hahn zieht: »noch die radikalste Absage an die Wissenschaft« kommt bei Benn »nicht ohne Wissenschaft« aus (S. 710).

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Implikationen für die Poesie

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Obgleich der Schwerpunkt des Textkorpus auf den Essays Benns liegt, in denen er in einer zwar poetisch aufgeladenen, aber argumentierenden Form Stellung bezieht, geht Hahn immer wieder auch auf die Implikationen ein, die die wissenschaftshistorischen und philologischen Befunde für die Lektüre des im engeren Sinne literarischen Benn’schen Werks haben. So kann er beispielsweise hinter Benns Gedicht Schöne Jugend (1912) »Verfahrensvorschriften für die Obduktion« (S. 112) und hinter dem satirischen Gedicht Durchs Erlenholz kam sie entlang gestrichen (1916) eine satirische Replik auf Theodor Ziehens assoziationspsychologisches Modell der Willensbildung sichtbar machen (S. 180); das Gedicht Synthese (1917) lässt sich als eine »Janet-Kontrafaktur« (S. 337), Orphische Zellen (1927) als Verarbeitung von Exzerpten aus Alfred Storchs Schizophrenie-Studien (S. 428) und die Rönne-Novellen als Parodie auf die Entwicklungspsychologie Semi Meyers interpretieren (S. 207).

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Lectio cursoria versus lectio stataria

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Methodisch setzt Marcus Hahn Benns lectio cursoria – die Hahn, aufgefasst in der Deutung von Georg Stanitzek, ›brutale Lektüre‹ nennt und zur Bezeichnung des blätternden, nicht um Verständnis bemühten, sondern auf Stimulation und ›Sensationierung‹ setzenden Lesens verwendet – ein »statarische[s] (verweilendes) Lesen ›ganzer‹ Bücher und Diskurse« entgegen (S. 350) und ermöglicht es auf diese Weise, Benns Lese-, Glossier-, Zitier-, Paraphrasier- und Collagepraxis en détail nachzuvollziehen. Die Kompilations- und Verschleierungstechnik Benns, die die Herkunft seiner wissenschaftlichen Ausdrücke, Bilder, Vorstellungen und Spekulationen oftmals unsichtbar gemacht hat, wird von Hahn zu diesem Zweck gewissermaßen rückgängig gemacht: In guter philologischer Tradition zerlegt er die von Benn mehr oder minder sorgfältig amalgamierten Elemente, die auf die eine oder andere Weise, das heißt als Ausdruck, Zitat, Paraphrase, Metapher, Bild, Argument, Narrativ oder Ähnliches Eingang in die poetische Produktion gefunden haben, in ihre Ausgangsbestandteile, identifiziert diese hinsichtlich ihrer ursprünglichen Herkunft und bettet sie wiederum in die Kontexte ein, denen sie einst von Benn entnommen wurden. Allein für diese immense Rekontextualisierungsarbeit – Hahn spricht selbst von einer »Re-Disziplinierung der Benn’schen Kompilationsarbeit« (S. 17) –, die eine stupende Belesenheit und genaue Kenntnis der wissenschaftlichen, pseudowissenschaftlichen und weltanschaulich-philosophischen Literatur der Zeit ebenso voraussetzt wie einen langen Atem, verdient Marcus Hahn größte Anerkennung. Seine Studie macht durch die konsequente Parallelführung von Literatur- und Wissenschaftsgeschichte erstmals die Vielfalt und Heterogenität der Wissensansprüche sichtbar, denen Benns Lese- und Schreibinteresse zwischen 1905 und 1932 galt. Der Autor erweist sich aus dieser Perspektive als ein höchst virulenter Wissenspolitiker, der sich souverän im »Wissenskosmos« (S. 27) der Moderne bewegt und die aufgelesenen Wissenspartikel geradezu schamlos direkt in seine poetische Sprache überführt. Einzelne Aspekte dieses Verfahrens sind in der Benn-Forschung seit einiger Zeit bekannt. Doch die von Hahn vorgelegte, um Akribie, Solidität und Vollständigkeit bemühte Zusammenschau der in Benns Werk nachweisbar präsenten wissenschaftlichen Diskurse ermöglicht es erstmals, Benns Schreibprojekt als ästhetisch-wissenschaftlichen Modernismus sichtbar werden zu lassen.

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Methodischer Indeterminismus

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Zugleich demonstriert die Studie von Marcus Hahn aber auch, vor welche heuristischen, methodischen und darstellerischen Herausforderungen sich ein literaturwissenschaftliches Forschungsprojekt gestellt sieht, das die Komplexität der in einem literarischen Œuvre verarbeiteten wissens- und wissenschaftshistorischen Kontexte weder kulturalistisch zu vereinnahmen noch auf populärwissenschaftliche Aussagen zu reduzieren oder metaphorisch einzuhegen versucht. Zwei kritische Punkte seien deshalb angemerkt: Erstens zwingt – um im eingangs gewählten Bild zu bleiben – die Nähe zum Stier den Matadoren zu einer Imitation seines Gegners. Auf der darstellerischen Ebene neigt Marcus Hahn zu einer wuchernden Diktion, die der Collage- und Kompilationstechnik seines Autors trotz der vielen akribischen Nachweise, die sich bei Benn gerade nicht finden, mitunter gefährlich nahe kommt. Ob man der Materialfülle allerdings durch eine alternative Präsentationsform, etwa durch die Wahl einer systematischen (statt der durchgängig gewählten chronologischen) Anordnung oder durch eine deutlichere Separierung von wissenshistorischer Rekonstruktion und Analyse auf der einen, literaturwissenschaftlicher Interpretation auf der anderen Seite, wirklich besser Herr geworden wäre, sei einmal dahingestellt. Die Verschränkung von Rekonstruktion und Interpretation aber führt zu einem zweiten Einwand, der nicht die Darstellung, sondern die Methode und das theoretische Selbstverständnis des Verfassers betrifft. Letzteres wird vor allem in der Einleitung (S. 7–21) und en passant auch in den Durchführungsteilen expliziert, in denen Hahn im Anschluss an Bruno Latour, Joseph Vogl, Nicolas Pethes und Walter Erhart für sein Vorgehen einen »methodische[n] Indeterminismus« (S. 20, vgl. auch S. 17) reklamiert. ›Indeterministisch‹ heißt hier wohl: nicht monokausal, nicht vorherbestimmt, sondern willkürlich und unvorhersehbar. Hahn möchte »die Wissenschaftsentwicklung wie die literarische Arbeit als indeterministische Prozesse in statu nascendi nachzeichnen«, um auf diesem Wege das »offene Verhältnis zwischen wissenschaftlicher und literarischer Formation« (S. 16) sichtbar zu machen und zu zeigen, wie sich im »gemeinsamen Erfahrungsraum« und »gemeinsamen Diskursraum« von Wissenschaftlern und Dichtern »die Erfindung der Grenze« (S. 48) zwischen Wissenschaft und Literatur gestaltet.

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Koproduktionen von Wissenschaft und Literatur?

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Für die »literarische[ ] Formation« gelingt dies, wie gesagt, auf überzeugende, wenn auch nicht unbedingt verallgemeinerbare Weise: Am Beispiel von Gottfried Benn, der als praktizierender Arzt und Dichter an beiden Formationen partizipiert, wird gezeigt, wie durch die Aufnahme naturwissenschaftlicher Elemente wissenschaftlich-poetische ›Hybride‹ erzeugt und diese wiederum zur Behauptung ›reiner‹, autonomer Kunst gegen die Wissenschaft gekehrt werden. Hätte man jedoch statt Benn einen Dichter mit einem intellektualistischeren Literaturverständnis gewählt wie beispielsweise Robert Musil, 5 wäre man vermutlich zu einer anderen Relationierung gelangt; und hätte man statt der hermeneutisch-philologischen, Autor und Werk fokussierenden Perspektive eine wahrhaft diskursanalytische Perspektive gewählt, 6 wären die Ergebnisse heterogener ausgefallen und hätten vielleicht auch disziplinenspezifische Differenzen offenkundig gemacht, die in Benns zynisch-modernekritischem Blick auf die Wissenschaften verschwimmen. In Benns wissenschaftlich getränkten »ästhetischen Freisetzungserzählungen« (S. 48) aber stehen Modernismus und Antimodernismus, Wissenschaft und Wissenschaftskritik, Wissen und Literatur – ganz wie Latours spiegelsymmetrisch angelegte Überlegungen dies für das Verhältnis von Natur und Kultur, Naturordnung und Gesellschaftsordnung allgemein behaupten – in einem gegenläufigen, sich aber zugleich wechselseitig stabilisierenden Bedingungsverhältnis. Die große Übereinstimmung, die sich in Hahns Befunden zwischen der Benn’schen und der Latour’schen Sicht auf die Wissenschaften abzeichnet, könnte sogar zu der Vermutung verleiten, dass auch Latours Sicht eine eher literarische Faktur aufweist.

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Wie aber stellte sich Benns poetische Wissenspolitik aus wissenschaftshistorischer Perspektive dar? Einige Formulierungen Hahns legen nahe, dass er Latours und Vogls universalisierenden Annahmen folgt und von einer Strukturhomologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Literaturgeschichte und Wissenschaftsgeschichte ausgeht. Man müsste sich folglich den Prozess der Hybrid-Erzeugung und Hybrid-Reinigung in den Wissenschaften analog zu dem in der Literatur beobachteten vorstellen und der Literatur eine ähnliche Funktion für die Wissenschaft zuschreiben, wie die Wissenschaft für die (Benn’sche) Literatur in Hahns Darlegungen zugeschrieben bekommen hat. Die »Gretchenfrage nach der ›Heteronomie‹ oder ›Autonomie‹«, heißt es denn auch bei Hahn, soll nicht nur für die Literatur, sondern explizit auch für die Wissenschaft durch den »konkrete[n], Schritt für Schritt begründete[n] Aufweis der Koproduktion der wissenschaftlichen und literarischen Arbeit und Lektüre« ersetzt werden – eine Koproduktion,

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die sich selbst historisch zwar immer wieder als Reinigungsarbeit im Sinne Latours (der Wissenschaft, der Literatur, der individuellen Poetologie) begründet hat, aber noch in den kollektivsten und individuell-idiosynkratischsten Begründungen auf die Koproduktion von dichterischer und wissenschaftlicher Legitimation, wissenschaftlichen Ergebnissen und literarischen Narrativen angewiesen blieb. (S. 21)
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Doch obwohl Wissenschaftler sich mit Dichtern (und vielen anderen Menschen) in einem »gemeinsame[n] Erfahrungsraum« bewegen, »auf das Medium Sprache« (S. 48) angewiesen sind und sich in der Darstellung ihrer Erkenntnisse rhetorischer Mittel und narrativer Strukturen bedienen, und obwohl sich im Kontext wissenschaftlicher Erkenntnisse auch fiktive Gegenstände auffinden lassen und die Imaginationskraft für wissenschaftliche Konstruktionen und Kreationen – etwa für das Formulieren von wissenschaftlichen Hypothesen oder für die Konstruktion von Modellen – eine entscheidende Rolle spielt, kann und darf man wissenschaftliche Epistemologie nicht auf wissenschaftliche Rede verkürzen 7 und so die Bedeutung der ›literarischen‹ Dimension der Wissenschaft nominalistisch überdehnen. 8 Bis heute sind die Literature & Sciences Studies wie auch die Wissenspoetologie ein wissenschaftliches Beispiel schuldig geblieben, das sich Benns poetischer und wissenspolitischer Kompilationspraxis gleichberechtigt an die Seite setzen ließe. Doch dieser Kritikpunkt spricht nicht gegen, sondern für Marcus Hahn, dem es letztlich gerade nicht um die Etablierung eines allumfassenden wissenshistorischen Relativismus und diskursanalytisch-antihermeneutischen Wahrheitsagnostizismus geht, sondern der in der praktischen Durchführung seiner Studie weit konsequenter, als die programmatischen Formulierungen der Einleitung dies erwarten lassen, strenge hermeneutisch-philologische Standards erfüllt.

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Fazit: Künftige Kämpfe –
Aufgaben für die Benn-Forschung

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In dem hermeneutisch-philologischen Ertrag gründet denn auch der bleibende Nutzen der beiden Bände wie auch ihr aktuelles Irritationspotential. Beispielhaft zeigt sich letzteres bereits in der Reaktion der Benn-Philologie, die, um das Aufrechterhalten und Aufpolieren des Bilds vom autonomen, genialen Dichter Benn bemüht, den Boten für die schlechten Nachrichten ignoriert oder abstraft. 9 Eine literaturwissenschaftlich angemessenere Reaktion bestünde darin, den innovativen und provozierend konsequenten Zugriff sowohl auf die Benn’sche Arbeitsweise wie auch auf sein Œuvre, den Marcus Hahn vorführt, ernst zu nehmen und für die Interpretation Benn’scher Texte wie auch für eine Revision der überkommenen Autor-Imago fruchtbar zu machen. Hahn hat uns mit seiner überaus verdienstvollen und beeindruckenden Studie diese Aufgabe nicht abgenommen. Er hält sich in seiner Untersuchung mit deutenden und wertenden Aussagen über die literarischen Effekte Benn’scher Dichtung eher zurück. Doch damit ermöglicht er künftigen Matadoren, den Kampf noch dichter am Stier aufzunehmen und vor dem nun auf das sorgfältigste rekonstruierten epistemischen Hintergrund das proprium 10 der Benn’schen Poesie neu zu bestimmen.

 
 

Anmerkungen

Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. In: G. B.: Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe), Bd. VI: Prosa 4. Hg. v. Gerhard Schuster und Holger Hof. Stuttgart: Klett-Cotta 2001, S. 36.   zurück
Vgl. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Hg. v. Lothar Schäfer. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1980, S. 114.   zurück
Vgl. Helge Kragh: An Introduction to the Historiography of Science. Cambridge University Press 1987, S. 47ff.; vgl. auch Nick Jardine: Whigs and Stories. Herbert Butterfield and the Historiographie of Science. In: History of Science 41 (2003), S. 125–140. Dies geht in die Neutralitäts- und Symmetrieprinzipien des strong program der Wissenssoziologie ein, formuliert von David Bloor: Knowledge and Social Imagery. 2. Aufl. University of Chicago Press 1991 (erstmals 1976), S. 7. Vgl. dazu auch Carlos Spoerhase: Zwischen den Zeiten. Anachronismus und Präsentismus in der Methodologie der historischen Wissenschaften. In: Scientia Poetica 8 (2004), S. 169–240.   zurück
Philipp David Heine: Marcus Hahn, Gottfried Benn und das Wissen der Moderne. In: Arbitrium 31 (2013), S. 380–384, hier S. 383.   zurück
Vgl. dazu Olav Krämer: Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry. Berlin: de Gruyter 2009; Benjamin Gittel: Lebendige Erkenntnis und ihre literarische Kommunikation. Robert Musil im Kontext der Lebensphilosophie. Münster: Mentis 2013.   zurück
Vgl. auch die Bemerkung von Philipp David Heine (Anm. 4), S. 384.   zurück
Vgl. die Kritik von Jens Löscher: Going Science: Emotionswissenschaften. In: Wirkendes Wort 63.2 (2013), S. 335–345.   zurück
Vgl. Gideon Stiening: Am ›Ungrund‹ oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man ›Poetologien des Wissens‹?, In: Kulturpoetik 7.2 (2007), S. 234–248.   zurück
Vgl. Christian Schärf: Der Unberührbare. Gottfried Benn – Dichter im 20. Jahrhundert. Bielefeld: Aisthesis 2006; ders., [Rez.] Hahn, Marcus: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.05.2012, S. 30. Anders Manfred Koch: Der Wissenschaftsverwurster. Aufsaugen und wieder vergessen – Spuren von Gottfried Benns Gelehrsamkeit. In: Neue Zürcher Zeitung, 21. Februar 2012. Anders auch Philipp David Heine (Anm. 4); und Jens Wörner: [Rez.] Marcus Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne. 1905–1932. 2. Bde. In: Benn Forum 3 (2012/13), S. 285–294.   zurück
10 
Vgl. Marcus Hahn: Heteronomieästhetik der Moderne. Eine Skizze. In: Nacim Ghanbari / Marcus Hahn (Hg.): Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2013), S. 23–35, hier S. 32.   zurück