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Komplizenschaft als postindustrielle Arbeitsform

  • Gesa Ziemer: Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität. (X-Texte zu Kultur und Gesellschaft) Bielefeld: transcript 2013. 200 S. Paperback. EUR (D) 19,99.
    ISBN: 978-3-8376-2383-3.
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Blickkontakte auf dem Hof eines Frauengefängnisses, eine Insassin zieht eine der Wärterinnen vorübergehend auf ihre Seite, wodurch sie ihren Gefängnisalltag verbessern kann – ein Machtgefüge kippt, Polarisierungen von Schuld und Unschuld werden unscharf – dies sind Momente von Komplizenschaft. Lassen sich diese komplizitären Taktiken in einem machtvollen Verwaltungsapparat mit jenen von Künstlerkollektiven und Autoren in Beziehung setzen, die kein vergleichbares Gegenüber haben? Um diese Frage kreist das Buch »Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität«. Die Autorin Gesa Ziemer widmet sich umfassend dem Konzept der Komplizenschaft, weil diese kollektive Handlungsform in ihren Augen eine bedeutende Aktualität gewonnen hat. Aus diesem Grund sei es Zeit, die negativen Konnotationen des strafrechtlich bestimmten Konzeptes neu zu überdenken und Komplizenschaft demgegenüber als eine Arbeitsform zu betrachten, die »von einer destruktiven in eine konstruktive, lustvolle Arbeit umgedeutet werden kann« (S. 11). Mit dieser Umdeutung macht Ziemer den Begriff fruchtbar für aktuelle Debatten um die Prekarisierung postindustrieller Arbeit. Ziemer lotet Komplizenschaft als Handlungsform zwischen Selbstermächtigung und Selbstausbeutung aus. Damit produziert sie hochaktuelle Standpunkte entlang eines umstrittenen Konzepts.

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Die Aktualisierung eines strafrechtlichen Konzepts

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Das Konzept der Komplizenschaft stellt für Ziemer nicht länger ausschließlich eine kriminelle Handlung dar, auch wenn die Autorin die Wurzeln ihres Konzepts in eben diesen Zusammenhängen sucht. Den Bedeutungswandel, dem sie dem Konzept der Komplizenschaft nun ausgehend von dieser strafrechtlichen Perspektive zuschreibt, gründet sie auf gesellschaftlichen Veränderungen. Eine Pluralisierung der Lebensformen hat die Handlungsform der Komplizenschaft in den Bereich alltäglicher legaler Praktiken erhoben. Ziemer verschiebt die strukturelle Verfasstheit von Komplizenschaft von repressiven, harten Strukturen und Systemen, wie sie eingangs mit dem Gefängnisbeispiel transportiert wurden, hin zu einer Instabilität und Strukturlosigkeit der aktuellen Lebensverhältnisse, denen ebenfalls bedrohliches anhaftet: »schwindende Sozialstrukturen können genauso bedrohlich werden (…), wie extrem homogene Gesellschaftsordnungen« (S. 57).

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Sie bezieht sich an dieser Stelle in ihrer Argumentation auf den Soziologen Richard K. Merton, der repressive Ordnungen als ausschlaggebend für die Produktion abweichenden Verhaltens benannt hatte. 1 Mit Ziemer produzieren stabile und instabile Gesellschaftsordnungen jedoch ähnliche Typen der Abweichung: »Ein stark transformierter Arbeitsmarkt, in dem sich traditionelle Berufsbilder aufgelöst haben, Vorbilder fehlen und der indirekte anstatt direkte Kontrollmechanismen ausgebildet hat, kann als ebenso repressiv empfunden werden wie massive, eindeutige und direkte Herrschaftsmechanismen« (ebd.). Ziemer betont mit Merton, dass abweichendes Verhalten durch soziale Strukturen bedingt ist, die bestimmte Ziele auf herkömmlich strukturierten Wegen unerreichbar machen können. Abweichendes Verhalten, so macht Ziemer deutlich, ist also Ausdruck einer machtlosen Position innerhalb einer Sozialstruktur. Doch wie verschiebt Ziemer an dieser Stelle das Mertonsche Argument repressiver Strukturen hin zu ihren eigenen Konzeptentwürfen von Komplizenschaft? Das repressive gesellschaftliche Moment ersetzt sie durch den Leistungsdruck einer nach Effizienz und Wachstum strebenden Gesellschaft (S. 59). Die Pluralisierung der Lebensformen haben Freiheit zur Folge, aber eben auch Verunsicherung (ebd.).

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Ziemer setzt das Konzept der Komplizenschaft mit ihrer Argumentation in die Nähe postmoderner Begrifflichkeiten, wie etwa zu Bruno Latours Begriff des Konnektivs, 2 das eine Kritik an den herkömmlichen Begriffen des Sozialen darstellt und diesen quasi entgrenzt (S. 64). Zudem vergleicht sie ihren Konzeptentwurf von Komplizenschaft mit Derridas Begriff der Freundschaft 3 (S. 81). Ziemer betont Nähen aber auch Distanzen zwischen beiden Begriffen. Vor allem die Nutzenorientierung der Komplizenschaft, welche die Freundschaft nicht kennzeichne, und die bewusste Intransparenz der Komplizenschaft, während die Freundschaft im Derridaischen Sinne zwischen privaten und öffentlichen Sphären angesiedelt sei (S. 86), sind folgenreich für Ziemers Konzeptualisierung. Die Nutzenorientierung der Komplizenschaft muss an dieser Stelle an einer Verwertungslogik gemessen werden und daher als Produktionsprozess analysiert werden. Ziemer verfolgt diesen Punkt konsequent, indem sie Komplizenschaft ausführlich als spezifische Arbeitsform betrachtet. Auch wenn sie die Produktionsverhältnisse, in denen diese Arbeitsform angesiedelt ist, eher in knapper Form behandelt, gelingt es Ziemer, die symptomatische Aktualität von Komplizenschaft in Hinblick auf nachindustrielle Produktionsformen deutlich zu machen.

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Komplizen als Arbeitskraftunternehmer

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Der Komplize entspricht mit Ziemer dem flexibilisierten Arbeitskraftunternehmer, der sich selbst reguliert und aktiviert, statt kontrolliert zu werden. An dieser Stelle macht Ziemer deutlich, dass Komplizenschaft zu Selbstausbeutung führen kann (S. 97). Um die Selbstausbeutung auszuloten, der die Komplizen unterworfen sind, setzt Ziemer mit Boltanski und Chiapello 4 einen Begriff der Kreativität an, die als Form der Kritik am Kapitalismus verstanden werden kann, die aber zugleich »konstitutiver Bestandteil kapitalistischer Mechanismen« ist, die somit »unbegrenzte Kapitalakkumulation mit friedlichen Mitteln ist« (S. 120). Diese Formen künstlerischer Kritik inspirieren, so macht Ziemer deutlich, neue Strategien des Unternehmensmanagements, statt in Sozialkritik zu münden (ebd.). Damit würde Komplizenschaft zu einem Modell für eine effizienzorientierte Arbeits- und Lebensorganisation, die ausschließlich nach ihrem Nutzen bewertet wird (ebd.). Komplizenschaft ist in diesem Sinne für Ziemer vor allem der Ausdruck für eine Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, die auch die gut ausgebildete Mittelschicht betrifft (S. 123). So stammen auch die meisten von Ziemers Beispielen aus dieser sozialen Mitte. Diese Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse entspricht einem Unterwerfungsregime, in dem sich das Subjekt vollständig der ökonomischen Logik unterwirft, was in Selbstausbeutung endet (ebd.). Doch auch an diesem kritischsten Punkt hält sich Ziemer an den Gedanken des Konstruktiven in komplizitären Verbindungen, denn diese seien eben nicht nur eine Lebenstaktik, sondern eine Überlebenstaktik, die ohne Spektakel, subversiv und kreativ Verhältnisse verändert, ohne revolutionär zu sein (S. 126).

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Wie Komplizenschaft kreativ Verhältnisse verändern kann, versucht Ziemer am Fall komplizitärer Autorschaft deutlich zu machen. Mit Foucault 5 stellt sie hier die interessante Frage heraus, welche »Kollektive an welcher Form von Autorschaft arbeiten und in die Öffentlichkeit gelangen« (S. 160). Ziemers Argumentation mündet hier schließlich in der Frage nach den demokratischen Dimensionen, die derartige Kollektive mit sich bringen. Indem sie zeigt, wie sich in ausgewählten Künstlerbeispielen die Grenze zwischen den Darstellenden und dem Publikum verschiebt, die Rolle der Mitglieder des Publikums und die der Darstellenden transformiert wird – sie werden Mitspieler, Forschende oder Beobachter – untermauert sie ihr Argument, dass komplizitäre Handlungsformen Verhältnisse transformieren (S. 163). Mit dem Genre des Begriffsfilms zeigt Ziemer, wie konsequent sie die komplizitären Taktiken für ihre eigenen Forschungen anzuwenden sucht. Sie öffnet das Buch im fünften Kapitel für einen Film, der durch die Autorschaft vieler gekennzeichnet ist. Die demokratischen Dimensionen von Komplizenschaft betrachtet Ziemer entsprechend dahingehend, dass sie das »Mit gegenüber dem Gegen« stark macht. Sie würde dabei zwar nicht alle »mitnehmen« aber »Ermächtigung« durch »ungewöhnliche selbst initiierte Verknüpfungen« ermöglichen (S. 182).

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Eingespannt sein

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Ziemer schließt mit einem Katalog von 15 Anzeichen für Komplizenschaft, die als Zusammenfassung gelesen werden können, aber auch die Aufforderung enthalten mit ihnen auf die eine oder andere Art fortlaufend zu verfahren, ja produktiv und konstruktiv mit ihnen umzugehen (S. 167). In Reaktion auf den Mangel der Möglichkeit die Liste zu verwerfen, die von der Autorin in der Aufforderung sich am Produktionsprozess um das Konzept der Komplizenschaft zu beteiligen, nicht eingeräumt wird, müsste die Liste um ein 16. Anzeichen ergänzt werden: Komplizenschaft bedeutet, in machtvolle Strukturen eingespannt zu sein. Dadurch hilft sie vorhandene Strukturen zu reproduzieren. Ziemer ist darauf bedacht zu fragen, wie Komplizenschaft Neues produziert, dabei vergisst sie die entscheidende Frage, wie Komplizenschaft Altes reproduziert. Sollte nicht die Auflösung von Komplizenschaft ebenso bedeutsam sein wie ihre Ausgangssituation? Komplizenschaft ist das Ergebnis eines Machtverhältnisses und etabliert in Auseinandersetzung mit diesem ein eigenes, jedoch untergeordnetes Machtverhältnis. Aufgrund dieser Vielschichtigkeit von Komplizenschaft sollten die negativen Aspekte des Konzeptes genauso ernst genommen werden, wie die hinzugewonnenen positiven.

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Was bedeutet es überhaupt, ob ein Begriff auf verschiedenen Ebenen entweder positiv/konstruktiv oder negativ/destruktiv gewertet wird? Könnte es nicht sein, dass diese Wertung vom Standpunkt abhängt? Komplizenschaft ist ein Strukturbegriff, der nicht nur aus sich selbst heraus verstanden werden kann, sondern dessen innere Strukturen und Qualitäten durch übergeordnete gesellschaftliche Kräfte determiniert sind. Komplizenschaft als Relation produziert nicht nur, sie ist auch produziert. Hierin liegt der Hauptgrund, warum sie nicht eingesetzt und angewendet werden kann, obwohl viele Unternehmer davon träumen dürften, ihr kreatives Potential abzuschöpfen (vgl. S. 105). Hierin liegt wohl auch der Grund für ihre Ambivalenz, denn während sie dem einen von Nutzen ist, kann sie einem anderen schaden. Sie kann Strukturen destabilisieren, während sie gleichzeitig Strukturen auf einer anderen Ebene stabilisiert. Konstruktivität und Destruktivität sind gleichzeitige Qualitäten von Komplizenschaft, denn sie kennt verschiedene Ebenen, auf denen sie wirksam ist, weil sie immer Ausdruck eines Machtverhältnisses ist. In Ziemer Konzeptualisierung war dieser Punkt mit der Nutzenorientierung von Komplizenschaft in einem Produktionsverhältnis bereits angelegt, jedoch nicht als eine ihrer wesentlichen Qualitäten reflektiert.

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In der ethnologischen Forschung haben derartige Strukturbegriffe, die auf verschiedenen Ebenen wirken, eine lange Tradition. Sie beschreiben die Abhängigkeit bestimmter gesellschaftlicher Konstellationen von einer Ordnung, in der sie aber gleichzeitig eine eigene Ordnung mit eigenen Wirkungen produzieren. Würde dieses komplementäre Zusammenspiel von Ordnungen gleichberechtigt analysiert werden, dann würde sich das Konzept zum Beispiel auch als eine Möglichkeit kritischer Selbstreflexion künstlerischer Produktion und anderer Aktivitäten eignen. Komplizenschaft, wie Ziemer sie sieht, läuft Gefahr zur ideologischen Handlungsform einer liberalen Bourgeoisie zu werden, die ihre Perspektive auf antagonistische gesellschaftliche Verhältnisse längst aufgegeben hat und die in ihrer eigenen gesellschaftlich etablierten Positionierung in der Mitte nicht im Stande ist, machtvolle Strukturen und ihre entsprechenden Produktionsprozesse wahrzunehmen. Aus der Perspektive von Ziemers Komplizen sind diese Aspekte nicht wahrnehmbar, da sie nur den Moment kennen und sich nicht um die Dauer kümmern. Sie verhalten sich zu einem konkreten Problem, den größeren Zusammenhang vernachlässigen sie. Die Stärke eines Konzepts von Komplizenschaft wäre jedoch auch darin zu suchen, dass es eine Relation zwischen verschiedenen Machtverhältnissen sichtbar macht, die auf unterschiedlichen Ebenen wirken. Dann muss immer auch gefragt werden, wer in der Lage ist wen einzuspannen und wie sich das Eingespanntsein konstitutiert. Komplizenschaft ist eine Form der kollaborativen Unterwerfung ohne Zwang und Widerstand. Derartige Machtrelationen wurden umfangreich in den Subaltern Studies 6 behandelt, an die sich der Begriff der Komplizenschaft auch fruchtbar anschließen ließe. Mit diesen Machtrelationen wird immer irgendwer von irgendwem in diese Kollektivität passiv eingespannt. Einige sind in der Lage jemanden einzuspannen, andere aber nicht. Ihnen bleibt nur, das Eingespanntsein zu ertragen und zu versuchen, daraus einen Nutzen zu ziehen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Robert K. Merton: »Sozialstruktur und Anomie«. In: Fritz Sack/ René König (Hg.): Kriminalsoziologie. Frankfurt/M.: Akademische Verlagsgesellschaft 1974, S. 283–313.   zurück
Vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007.   zurück
Vgl. Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.   zurück
Luc Boltanski / Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Paris: UVK 1999.   zurück
Michel Foucault: »Was ist ein Autor?« In: Fotis Jannidis / Gerhard Lauer / Mathias Martinez / Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000 [1969], S. 194–229.   zurück
Vgl. Ranajit Guha: Dominance without Hegemony. History and Power in Colonial India. Cambridge, London: Harvard University Press 1997.   zurück