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Der Nachlass Robert Neumanns - Einblicke in die Werkstatt eines literarischen Zeit-Genossen

  • Franz Stadler (Hg.): Robert Neumann. Mit eigener Feder. Aufsätze, Briefe, Nachlassmaterialien. Innsbruck: Studienverlag 2013. 928 S. zahlr. s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-7065-5081-9.
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I.

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Ein gewaltiger Steinbruch scheint dieser Nachlass, aus dem Franz Stadler in einem gigantischen Alleinwerk ein umfängliches, aber – auch dank der schönen und leichtgewichtigen Aufmachung des Innsbrucker Studienverlags – gut handhabbares und vor allem: beeindruckend inhaltsreiches Buch gemacht hat. Robert Neumann, 1897 in Wien geboren, 1975 in München verstorben, ein literarischer Zeit-Genosse und literarisch-autobiographischer Zeitzeuge der Verwerfungen des gewalttätigen 20. Jahrhunderts par excellence, war 1927 mit einem kleinen Band literarischer Parodien unter dem Titel »Mit fremden Federn« schlagartig berühmt geworden. Wenn auch die Parodie stets ein wichtiger Bestandteil seines Schreibens bleiben, der ihr zugrunde liegende analytisch-kritische Blick ein Hauptcharakteristikum seiner literarischen Herangehensweise an die Welt wie an sich selber ausmachen wird, hat die (oft verharmlosende) Reduktion Robert Neumanns auf den Parodisten oder gar »Humoristen« immer wieder den Blick auf die Vielfalt und die literarische wie politische Brisanz seines Werks verstellt. Nicht »fünfzehn«, wohl auch nicht nur »fünfundzwanzig« Bücher, wie Rudolf Walter Leonhardt in seinem Neumann-Nachruf in der ZEIT vom 10. Januar 1975 schreibt (S. 21), eher doppelt so viele Bände würde Neumanns literarisches Œuvre umfassen, wenn alles einmal gedruckt erscheinen würde. Nur ein – wenn auch beachtlicher – Teil davon ist zu Lebzeiten erschienen, nur ein kleinster, zwei Romane nämlich und eine Film-DVD, sind momentan im Buchhandel erhältlich (ebd.). Wer Neumann lesen will, ist auf antiquarische Ausgaben angewiesen, einige der zu Lebzeiten in englischer oder französischer Sprache gedruckten Werke sind bis heute nicht ins Deutsche übersetzt.

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Diesem Missstand – dass es ein solcher ist, lehrt jeder kurze Blick in eines von Neumanns Büchern wie auch in Stadlers Nachlass-Edition – kann der neue Band freilich nicht abhelfen. Doch trägt er, gleichsam von der anderen Seite her, ganz entscheidend dazu bei, den, wie es in Stadlers Vorwort eher bescheiden heißt, »›ganzen RN‹ […] wieder zugänglich zu machen« – den »satirisch-polemischen Prosaisten« ebenso wie »den rührigen Akteur und Zeitgenossen« und damit einen Autor, dessen literarische Karriere im Wien der Zwischenkriegszeit begann, der schon 1934 vor den Nazis in ein langes, bis 1958 dauerndes, Exil in England floh, wo er zu einer der wichtigsten Integrationsfiguren der deutschsprachigen und vor allem der österreichischen Exilschriftsteller wurde und auch auf Englisch zu schreiben begann, und der spät, vor allem seit seiner Übersiedelung in die Schweiz Ende der 1950er Jahre, nochmals mit deutsch geschriebenen Büchern und einer Fülle politischer und literaturkritischer Einlassungen in der deutschsprachigen Öffentlichkeit Fuß fassen konnte und wollte. Mit seiner Nachlass-Auswahledition ist Franz Stadler ein in höchstem Maß spannender und vielgestaltiger Einblick nicht nur in die literarische »Werkstatt«, sondern auch in die Vielzahl politischer und kulturpolitischer Aktivitäten und in das breite literarisch-biographische Netzwerk des Schriftstellers und Zeitgenossen Robert Neumann gelungen. Dazu trägt die ausführliche bio-bibliographische Einleitung (»Einladung zu Robert Neumann«, S. 21–67) ebenso bei wie die Auswahl der Texte, welche auf der Basis einer erstmaligen systematischen Sichtung von Robert Neumanns in der Handschriftenabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrtem Nachlass versucht, »die Spezifik und die Kontinuität der ›drei erfolgreichen Karrieren‹ Neumanns in drei disparaten ›Öffentlichkeiten‹ adäquat sichtbar« zu machen (S. 69), was gleichwohl nicht ohne radikale Auswahl und bisweilen »schmerzhafte Aussparungen« (wie etwa die der Rundfunkserie »Ausflüchte unseres Gewissens« aus dem Jahr 1960; S. 70) umgesetzt werden konnte. Doch auch die Form, die Stadler für die Darbietung der Texte wählt, trägt mit ihrer Balance zwischen wissenschaftlich-philologischer Seriosität auf der einen und nutzerfreundlicher Schlichtheit auf der anderen Seite zum Gelingen des Bandes bei, indem sich Ergänzungen und Erläuterungen zu den einzelnen Texten (Briefen, Entwürfen, Rundfunkbeiträgen etc.) stets im direkten Anschluss daran finden lassen, sich zudem auf die Kürze des Notwendigen beschränken und dem Leser/der Leserin so das Hantieren mit einem separaten Anmerkungsapparat ersparen, das beim Umfang des Buches das Lesevergnügen durchaus beeinträchtigen würde. Mit nur sieben Abbildungen kommt das Buch eher bescheiden daher, doch bietet es ein umfangreiches Literaturverzeichnis mit einer (das journalistische Werk hier aussparenden) Werkbibliographie Neumanns und einer Auswahlbibliographie wissenschaftlicher Literatur zu Autor und Umkreis sowie eine Zeittafel zu Leben und Werk und ein Register. Eine weitaus detailliertere Material- und Datensammlung findet sich freilich auf der Internet-Homepage zur Edition 1 , ein wichtiger Hinweis, der im Buch durchaus etwas prominenter hätte platziert werden können.

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II.

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Insgesamt folgt der Band einer so einfachen wie einleuchtenden Systematik. Stadler hat die Fülle des Materials in nur zwei große Abteilungen untergliedert. Erstens in »Publizistik«, die poetologische, literaturkritische und literaturpolitische wie auch politische Schriften umfasst. Zweitens in »Briefe und Lebensdokumente«: Hierher gehören – wohltuend unprätentiös in den erläuternden Text eingebettet – die üblichen Schnipsel erster schriftlicher Äußerungen und elterlicher Berichte, Dokumente zu Schulzeit und Studium (z.B. Meldezettel und Meldungsbuch der Universität Wien, die Neumanns universitäre Ausbildung in den Fächern Medizin und Germanistik belegen), vor allem aber, mit den Lebensdokumenten überraschend und doch sinnvoll in einem chronologischen Zusammenhang präsentiert, die rund 350 ausgewählten Briefe, die meisten von Robert Neumann geschrieben, in kontextuell begründeten Fällen aber auch solche, die an ihn gerichtet sind. Das beginnt mit einem Schreiben von Emil Berté jun. aus dem Jahr 1915 an den damals 18-jährigen Neumann, mit dem der Schreiber bedauernd eine Vertonung von dessen ihm offenbar zu dem Zweck zugesandten »Kuplets« ablehnt. Das geht weiter über erste Verlagskorrespondenzen, namentlich mit dem Drei Masken Verlag und dem Erich Reiss Verlag, die Neumanns mühsame Anfänge als Autor und einige schon seit dem Beginn des Exils in den 1930er Jahren verschollene literarische Versuche, darunter ein Versdrama und ein Trauerspiel, dokumentieren. Beeindruckend rasch gelangt man damit in das imponierende Netzwerk vor allem literarischer Kontakte, die Neumann Zeit seines Lebens auch als Briefschreiber gepflegt hat mit einem Brief vom Juli 1923 an Hermann Hesse, dem Neumann seinen ersten eigenen Gedichtband zusendet und zu dem er eine »schwärmerische Jugendliebe« hegt (S. 434). Es folgen Waldemar Bonsels und Ernst Lissauer, dann Stefan Zweig, dessen autobiographische Reflexion »Flüchtiger Spiegelblick« Neumann als Wiener Korrespondent der »C-V-Zeitung für deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens« für die Mai-Ausgabe 1925 als Aufmacher einwirbt. Wenig später bringt der kleine Novellenroman Die Pest von Lianora (1927) Neumann erste literarische Beachtung, dann kommt mit den »Fremden Federn« der Durchbruch. Eine erste Krönung hierfür der Brief von Thomas Mann, dem Neumann seine Parodien zugesandt hatte und der sich darin »selbst sehr gut getroffen« findet (S. 440). Unmittelbar danach schon, in einem Brief an Oskar Maurus Fontana vom Februar 1929 anlässlich des ersten großen Romans, der erste Schatten des Faschismus, der wenig später (nicht nur) Neumanns Schicksal und das seiner Bücher nachhaltig aus der Bahn werfen wird: »›Sintflut‹ ruft alle Hakenkreuzler und Oberlehrer gegen mich auf den Plan […].«(S. 441) Der zweite Teil der von Neumann mit »Sintflut« begonnenen Roman-Trilogie »zur Naturgeschichte des Geldes«, der 1932 erscheinende Roman Die Macht (1932), wird den unmittelbaren Anlass dafür geben, dass seine Bücher 1933 zu den ersten der von den Nationalsozialisten verbotenen und verbrannten gehören. Mit dem 1934 eingeschlagenen Weg ins englische Exil kommt der rapide sich beschleunigende Verlust von Buchmarkt und Lesepublikum und damit der erste Bruch von Neumanns literarischer Karriere, der seine Rezeption bis heute beeinträchtigen wird; der zweite folgt mit der Rückkehr auf den Kontinent, der Übersiedelung ins Schweizer Tessin nach dem frühen Tod der dritten Frau Evelyn im Jahr 1958, welche auch die »Rückkehr« des fast zum englischen Autor gewordenen Neumann in die deutsche Sprache und auf den deutschsprachigen Literaturmarkt bedeutet.

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III.

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Allein mit der Auswahl der Briefe, die in dem Nachlass-Band versammelt sind, hat der Herausgeber Franz Stadler eine Herkulesaufgabe bewältigt: Sind doch die rund 350 hier abgedruckten nur ein kleiner Teil jenes gewaltigen Konvoluts von mehr als 10.000, die sich vor allem im Nachlass in der Wiener Handschriftenabteilung, aber auch im Deutschen Literaturarchiv Marbach, im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, im Deutschen Exilarchiv und anderen Archiven in Österreich, der Schweiz und Großbritannien befinden und deren Adressaten und Absender sich wie ein Who is Who der (über fast fünf Jahrzehnte hinweg) zeitgenössischen Literatur und Kulturpolitik lesen – von Wolfang Abendroth, Alfred Andersch, Ulrich Becher, Hermann Broch, Richard Crossman, Alfred Döblin über Lion Feuchtwanger, Erich Fried, Stefan Hermlin, Rudolf Olden, Hermon Ould, Marcel Reich-Ranicki, Dorothy Richardson, Hilde Spiel, Friedrich Torberg bis zu Thomas Mann, Arnold Zweig, Stefan Zweig und vielen anderen. Auch hier leuchtet das von Stadler gewählte Auswahlkriterium ein und trägt zugleich einmal mehr dazu bei, diesen Nachlass-Band zu einem unschätzbaren Werkzeug der Neumann-Philologie zu machen, indem es vor allem der Intention verpflichtet ist, »die Lebensstationen und biographischen Bruchlinien von RN möglichst vollständig sichtbar und verstehbar« werden zu lassen (S. 421). Gerade in der strengen, dem begrenzten Umfang dieser Nachlass-Edition geschuldeten Auswahl liest sich das in der zweiten Abteilung versammelte Brief- und Dokumentenmaterial wie ein individuell fokussierter Bericht über das »Elend der Literatur in deutscher Sprache nach dem Beginn des ersten Weltkrieges«, jene »säkulare Störung des literarischen Lebens in der Mitte Europas«, zu deren »bemerkenswertesten Opfern« Hans Weigel in seinem Nachruf gerade Robert Neumann gezählt hat. 2 Zu den Verwerfungen einer immer wieder unterbrochenen, von widrigen Umständen geprägten literarischen Entfaltung und Rezeption vermitteln die Briefkorrespondenzen und biographischen Dokumente eine spannende, bisweilen erheiternde, oftmals aber auch bestürzende Innen- und Detailsicht. Wie Franz Stadler einleitend zur zweiten Abteilung des Buches anmerkt, war Neumann »spätestens seit 1933 ein […] äußerst agiler Kommunikationsnetzwerker«, der nicht nur die eigene literarische Karriere hartnäckig und verhandlungsstark beförderte. Im englischen Exil wird er zum engagierten Literaturorganisator: Als Mitgründer, Sekretär und »Acting President« des österreichischen Exil-PEN (Präsident Franz Werfel, Ehrenpräsident Sigmund Freud), der mit dem zugehörigen PEN Refugee Writers´ Fund eine lebenswichtige Anlaufstation für bedrohte und/oder flüchtige Schriftsteller aus Österreich darstellt wie als Mitinitiator des Free Austrian Movement und als Mitorganisator der »1. österreichischen Kulturkonferenz«. Nach dem Ende des Krieges nimmt Neumann maßgeblichen Einfluss auf die Neukonstituierung des österreichischen PEN-Zentrums, das er einer antifaschistischen Grundhaltung verpflichtet sehen will und engagiert sich in seiner Funktion als einer der Vizepräsidenten des internationalen PEN-Clubs (seit 1950) für eine Vermittlung zwischen den PEN-Zentren in West- und Osteuropa. All dies wird in den Dokumenten und Korrespondenzen des Nachlasses in der klugen Auswahl Stadlers sichtbar und gewährt Einblicke nicht nur in Neumanns Schicksal sondern auch in zentrale Diskussionen und neuralgische Ereigniszusammenhänge einer äußerst bewegten Zeit.

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Es ist in diesem Zusammenhang noch einmal zu betonen, wie sehr gerade der Verzicht auf eine weitere Systematisierung des Brief- und Dokumentenmaterials und ihre Präsentation entlang der einfachen Chronologie eine besondere Stärke dieses Nachlassbandes ausmacht. Natürlich lässt sich mithilfe des Inhaltsverzeichnisses gezielt nach Namen resp. Themen suchen. Das Buch lässt sich aber auch aufs Geradewohl aufschlagen und führt, auch dank der schon erwähnten, direkt am jeweiligen Dokument befindlichen Erläuterungen, stets in einen breiteren Themenkontext, der immer neue Facetten des vielfältigen Kontakt- und Tätigkeitsspektrums Robert Neumanns beleuchtet. Man kann die zweite Abteilung aber auch einfach fortlaufend lesen, als lebensvolle Chronik eines Schriftstellerlebens, in dem das literarische Schaffen nicht vom politischen Engagement und beides nicht von der privaten Person zu trennen sind, die zugleich bis in die Intimität ihrer familiären und Liebesbeziehungen von den Zeitumständen geprägt ist. Gerade so wird diese Sammlung zum faszinierenden Zeitdokument, das immer wieder Überraschungen birgt: Etwa, wenn man aus einem Brief an Friedrich Torberg vom November 1939 ins französische Agde lernt, dass Neumann ihm auf dringenden Hilferuf hin zu einer International Membership Card des PEN verhilft, in deren Folge Torberg das lebensrettende Visum für die USA ausgestellt wird (S. 523). Bestürzend der Brief an Stefan Zweig vom 21. Februar 1942, in dem Neumann dem im brasilianischen Petrópolis Exilierten schreibt: »Ich bin sicher, daß Sie nicht gut daran tun, in solcher Isolation zu leben. […] Man darf, glaube ich, dem Leben nicht so weit davonzufahren versuchen. Man zahlt dafür zu teuer.« Der Brief, mit Kuvert in der Österreichischen Nationalbibliothek erhalten, trägt neben dem englischen einen brasilianischen Poststempel mit dem handschriftlichen Zusatz: »Retour. Is dead.« Zweig, der im vorherigen Brief an Neumann über Vereinsamung geklagt hatte, hatte sich am 22. Februar 1942 das Leben genommen. Als vorweg genommener Kontrast dazu liest sich Neumanns Brief an Arnold Zweig vom 4. Februar 1942, wo es heißt: »Wir sind sehr entschlossen, zu überleben und am Ende dabeizusein. Man wird uns brauchen.« (S. 550) Erwähnt sei aus sehr viel späterer Zeit auch das Telegramm, mit dem Ulrike Meinhof im Februar 1968 Robert Neumann aus Berlin über den »absolute[n] und kaum schlimmer vorstellbare[n] Terror gegenueber den Studenten« informiert. Neumann reagiert mit einem Protesttelegramm an den Berliner Bürgermeister Klaus Schütz, in dem er den Sozialdemokraten an die »tragische rolle« erinnert, »die unsere partei immer wieder bei der niederwerfung nonkonformistischer linkssozialistischer bewegungen gespielt hat« und ihn dringend auffordert, Polizeieinsätze und Restriktionen auf das Notwendigste zu beschränken (S. 827). Und anrührend schließlich der letzte der abgedruckten Briefe 14. Juni 1974, rein privater Natur, an »Mein geliebtes Kind«, nämlich den neunzehnjährigen Sohn Michael, dem Neumann einerseits mit ironisch-anekdotischer Leichtigkeit den Ernst seiner Erkrankung an einem Tonsillar-Karzinom beruhigend zu verheimlichen sucht, dem er aber gleichzeitig mitteilen muss, dass er in Locarno sein »Abitur ganz ohne ›elterlichen Zuspruch‹« absolvieren, da er, Neumann, selbst sich in Bern einer sechswöchigen Chemotherapie unterziehen müsse.

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Am 3. Januar 1975 stirbt Robert Neumann in München. Eine Mitteilung an Franz Stadler aus Neumanns engstem Familienkreis teilt im Dezember 2006 mit, dass er sich selbst das Leben genommen hat (S. 891). Das letzte Buch Neumanns, das nach dem Zerwürfnis mit dem Hausverleger Desch im Jahr 1974 beim Piper Verlag erschien, ist der Roman Die Kinder von Wien, den Neumann zuerst 1946 in englischer Sprache geschrieben und veröffentlicht hatte und dessen experimentierenden Sprachduktus er nun in einer eigenen neuen Übersetzung auch im Deutschen umzusetzen sucht. Die letzten Arbeiten gelten der Übersetzung des 1951 in englischer Sprache fertiggestellten und 1952 lediglich in französischer Übersetzung bei Calmann-Lévy erschienenen Romans In the Steps of Morell und einer weiteren Bearbeitung dieses Buches unter dem Titel Absalom – oder die Ermordung eines Sohnes, außerdem einem satirischen Rundfunk-Dialog mit dem Titel »König David«, der Neumanns auch in anderen publizistischen Schriften zum Ausdruck kommende kritische Auseinandersetzung mit dem Palästina-Israel-Konflikt insbesondere seit dem Sechstagekrieg dokumentiert.

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IV.

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Lediglich der letztgenannte Rundfunkdialog findet sich unter den in Stadlers Nachlass-Band abgedruckten Materialien (S. 417 ff.). Im Hinblick auf den literarischen Nachlass Neumanns sind der Auswahl-Edition ganz offensichtliche Grenzen gesetzt, die auch auf ein unübersehbares Missverhältnis in der gegenwärtigen Rezeption Robert Neumanns hindeuten. Während seit 2007 mit Hans Wageners Neumann-Biographie (die freilich noch nicht auf der gründlichen Aufarbeitung und Detailkenntnis von Franz Stadlers Nachlass-Edition fußt und daher einige Ungenauigkeiten enthält), immerhin eine erste biographische Gesamtdarstellung Robert Neumanns vorliegt 3 ; während sich 2006 endlich auch ein erster Sammelband der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung von Robert Neumanns Werk gewidmet hat 4 , ist, wie schon oben erwähnt, dieses Werk selbst so gut wie nicht im Buchhandel greifbar. So kann man bei der Lektüre zumal des ersten Teils von Stadlers Edition durchaus den Eindruck bekommen, als nähere man sich dem Autor gleichsam durch die Hintertür. Doch zeugen schon die ersten hier abgedruckten literaturkritischen Essays davon, dass hier ein so begabter wie ambitionierter Autor seinen Platz in der literarischen Welt zu erobern sich anschickt – auch wenn etwa der erste der Texte über »Deutschland und Heinrich Heine« aus dem Jahr 1927 (S. 72 ff.) einen deutlichen Einfluss von Karl Kraus nicht verleugnen kann. Literaturkritische Essays der Folge sparen nicht mit dezidierten Aussagen und Urteilen; die Qualität der eigenen Bücher wird das durchaus rechtfertigen. Und dann wird es doch recht bald zentral: Nämlich mit dem 1927/28 geschriebenen Text »Zur Ästhetik der Parodie« (S. 85 ff.), der zu den genialen Literaturparodien der Fremden Federn die theoretische Reflexion liefert und deren Kenntnis für die Theorie des Parodistischen allgemein wie für seine Bedeutung und seinen Stellenwert in Neumanns Werk einen unverzichtbaren Grundlagentext darstellt. Nicht umsonst hat Neumann ihn in den 1960er Jahren überarbeitet seinen neuen Parodiensammlungen beigegeben, und sollte die Parodie nächstens als ernstzunehmende Gattung, als zugespitzte Realisation der grundlegend intertextuellen Verfasstheit von Literatur und herausragendes kritisches Medium, von der Literaturwissenschaft wieder entdeckt werden, dann dürfte auch dieser Text des so gern als »Meister der Parodie« titulierten Robert Neumann die gebührende Beachtung finden. Dass er hier endlich wieder abgedruckt und als Einzeltext greifbar gemacht ist, ist kaum genug zu begrüßen.

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Gleiches gilt auch für den kleinen autobiographischen »Bericht über mich selbst« (S. 104 ff.) und den Aufsatz »Sintflut: Eine Selbstdarstellung des Dichters« (S. 107 ff.). Beide im Jahr 1929 erschienen, repräsentieren sie einen ersten Kern der autobiographischen und werkautobiographischen Reflexion, der Engführung von Leben und Schreiben, von Selbstreflexion und literarischer Produktivität, die Neumanns spätere autobiographische und in diesem Sinn eben auch: werkautobiographische Schriften der späteren Jahre prägen werden und zu ihrer Aufschlüsselung unverzichtbar sind. Dass wenig später der kritische politische Text »Dreyfus aus Innsbruck« aus dem Jahr 1930 über den Justizfall des angeblichen Vatermörders Philipp Halsmann (S. 119 ff.) direkt neben einem scharfsinnigen Essay über »Den jüdischen Witz« (1930/31; S. 123 ff.) zu stehen kommt, mag, wenngleich auch diese Anordnung dem chronologischen Prinzip der Edition geschuldet ist, ein weiteres Mal sinnfällig darauf hinweisen, dass Neumanns Verständnis von Witz, Parodie und Satire zugleich literarisch wie aber auch grundsätzlich politisch grundiert ist und dass – wie etwa sehr viel später im Fall des zeitkritischen Romans Der Tatbestand oder der gute Glaube der Deutschen von 1964 – Parodie und Satire auch noch am (in der Hinsicht scheinbar sakrosankten) Thema der Aufarbeitung der Auschwitz-Verbrechen eine moralisch wie literarisch begründbare Rolle spielen dürfen.

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So gibt also auch in der ersten Abteilung von Stadlers Nachlass-Edition die Chronologie einen auch systematisch immer wieder produktiven Lektüreleitfaden ab. Wobei wiederum zu betonen ist, dass der kurz nach den genannten Schriften beginnende Komplex der Exil-Texte schon für sich genommen eine Edition wert ist. Die hier versammelten Texte aus dem Umkreis des Exil-PEN, des Free Austrian Movement und der German resp. Austrian Transmissions der BBC sind unschätzbare Zeitdokumente und verdienen »als zeitgeschichtliche Quellen besonderes Interesse« (S. 69). Zugleich beeindrucken sie aber auch wegen des in ihnen manifest werdenden unermüdlichen politischen und kulturpolitischen Engagements des Schriftstellers Robert Neumann unter den Umständen des Exils, des seit Kriegsbeginn 1939 geltenden Generalverdachts gegenüber den ausländischen Flüchtlingen und den immer drohenden Zerwürfnissen auch innerhalb der Exilgemeinschaft, die ja so oft zu den »Krankheiten des Exils« (Hilde Spiel) gehören. Beeindruckend sind diese Texte zudem wegen der Varietät der Töne und der literarischen Mittel, die Neumann verwendet: Da sind einerseits die satirischen Rundfunkfeatures für die BBC, vor allem um die Figuren von Frau Wernicke, Frau Oberg und Frau Sopherl und des berühmten Schweyk. Da ist, ganz anders konzipiert, aber auch die düstere Radionovelle »Kaspar Hauser« (S. 169 ff.), in der Neumann die Brutalität des deutschen Überfalls auf Polen am 2. September 1939 in einem prägnant zugespitzten Geschehen individualisierend fokussiert. Da ist die eindringlich mahnende »Message to Frau Heydrich« (wie auch, implizit, an alle deutschen Hörerinnen und Hörer), geschrieben 1942 (S. 184 f.) nach dem deutschen Massaker von Lidice. Da sind die Reihen »Postscript[s] to Austria« und »An Austrian to Austrians«, in denen sich Neumann speziell an ein österreichischen Radiopublikum wendet und, wie in anderen Aktivitäten in seinem Londoner Exil auch, nicht allein auf der kulturellen, sondern vor allem auch auf der politischen Identität und Verantwortung Österreichs in einem Europa nach dem Ende des Krieges beharrt – auch solche Äußerungen immer wieder kontrovers und gerade so zeitgeschichtlich besonders instruktiv (Neumanns Rede zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der Republik Österreich auf einer Kundgebung des Free Austrian Movement im November 1943 [S. 228 ff.] wird heftige Proteste nach sich ziehen und Neumanns Rückzug aus dem »Movement« einläuten). Schließlich sind da aber auch die – wenigen – Auszüge aus der Schrift »Journal and Memoirs of Henry Herbert Neumann edited by his father« aus den Jahren 1944/45 (S. 232 ff.), jenes seltsamen Dokuments biographisch-autobiographischer Trauerarbeit, das Neumann nach dem plötzlichen Tod seines 22-jährigen Sohnes Heinrich beginnt und in dem er unter der Prämisse eines »Buchs, vom Gesichtspunkt des Kindes [also des Verstorbenen] gesehn«, dessen hinterlassene »Tagebücher, Briefe und Schriften« (ebd.) zu einer umfangreichen biographischen Arbeit auszuarbeiten versucht, die, mit den Worten von Neumanns späterer Frau Evelyn Neumann, »in tragischer Weise ins Autobiographische« umschlägt 5 und deren Teile sich variierend sowohl in Neumanns späteren autobiographischen Schriften als auch in verschiedenen Romanen wiederfinden. Wenigstens ein kleiner Teil der realen Basis von Neumanns schmerzhafter Auseinandersetzung mit dem Tod des Sohnes im Kontext von Exil und Krieg wie mit der eigenen Vaterrolle ist in Stadlers Band zugänglich. Zusammen mit der hier ebenfalls erstmals abgedruckten Briefkorrespondenz zwischen Robert und Heinrich Neumann gibt er eine unverzichtbare Grundlage für die literarische und literaturpsychologische Bewertung eines der zentralen Bewegmomente von Neumanns autobiographischem Schreiben ab. Umso bedauerlicher erscheint gerade unter diesem Gesichtspunkt Stadlers Verzicht auf wenigstens einen Teilabdruck anderer unveröffentlichter Tagebuchtexte, vor allem des Internierungstagebuchs aus dem Jahr 1940 und des Tagebuchs von 1944, dem Todesjahr von Sohn Heinrich. Doch hätten solche Texte eindeutig den Rahmen dieser Nachlass-Edition gesprengt. Umso mehr ist zu hoffen, dass sie nächstens in anderem Zusammenhang gedruckt zugänglich gemacht werden.

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Besonders strikt auszuwählen war, wie Stadler in der Vorbemerkung zum ersten Teil anmerkt, aus dem publizistischen Œuvre der Jahre nach der – bedingten – Remigration und der damit verbundenen endgültigen Rückkehr in den deutschen Sprachraum ab 1958, das sich »wesentlich umfangreicher (aber auch redundanter)« (S. 70) darstellt als die beiden anderen Teilbereiche des Nachlasses. In den hier abgedruckten Materialen, die immer wieder instruktive Schlaglichter auf prägende politische und literaturpolitische Debatten in Österreich (insbes. PEN), vor allem aber in der Bundesrepublik werfen, kommen ein weiteres Mal die Vielfalt der Themen, denen sich Neumann hier zuwendet, wie zugleich der stets kritische und – im Kontext des Kalten Krieges – politisch unangepasste Fokus seiner Stellungnahmen zum Ausdruck. Neben literaturkritischen Essays, auch zu »massenkulturellen Phänomenen« (ebd.) wie dem aus dem Jahr 1972 stammenden Aufsatz über »Das Hintergründige in Herrn Simmel« (S. 393 ff.), finden sich Einlassungen zum eigenen Selbstverständnis als Jude vor dem Hintergrund der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung wie auch der Politik Israels seit dem Sechstagekrieg (»Ich bekenne mich zu meinem Volk« [1972]; S. 404 ff.). Für eine Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit hat Neumann sich seit seiner Rückkehr auf den Kontinent unermüdlich engagiert: Angefangen mit einem (dann mehrfach veröffentlichten) Beitrag über »Die Protokolle der Weisen von Zion« (1958; S. 242 ff.), der in späteren großen Arbeiten über diese antisemitische Verschwörungstheorie erstaunlicherweise nie aufgegriffen und hier nun endlich wieder zugänglich gemacht worden ist. Von Neumanns zahlreichen Beiträgen für konkret und Pardon, für ZEIT, Spiegel oder die Süddeutsche Zeitung, die das Nachleben des Faschismus in bundesdeutschen Institutionen und Personalien betreffen, sind in Stadlers Sammlung eher wenige, doch sicher aussagekräftig exemplarische abgedruckt, darunter »Haben wir nichts gewusst?« aus dem Jahr 1961 (S. 258 ff.) oder »Konspiration des Schweigens – Ein Lübke zuviel« von 1966 (S. 344 ff.), aber auch die Überlegungen zum »Antisemitismus in Ostdeutschland« (1963; S. 299 ff.). Damit kommen die in der Auswahl breiteren Raum einnehmenden literaturkritischen Texte wie auch die Dokumente polemischer Auseinandersetzungen mit Schriftstellerkollegen, insbesondere der vielbeachtete Streit mit der Gruppe 47 im Jahr 1966 (»Spezis: Gruppe 47 in Berlin«; S. 332 ff.), in eben dem Kontext zu stehen, in den sie in Neumanns Selbstverständnis grundsätzlich gehören, in dem das Literarische immer auch das Politische, das eine nie vom andern getrennt zu verstehen ist.

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V.

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Eines der herausragenden Dokumente der Verbindung von literarischem Anspruch und aufklärerischem politischem Impetus im Hinblick auf den deutschen Umgang mit der Nazivergangenheit stellt Neumanns Roman Der Tatbestand oder Der gute Glaube der Deutschen aus dem Jahr 1965 dar, der am Rande und mit Materialien des Frankfurter Auschwitz-Prozesses ein eindrückliches Panorama des deutschen und des deutsch-deutschen Umgangs mit der Nazivergangenheit entwirft und damit nicht zuletzt ein hochinteressantes Gegenstück zur Bearbeitung des Auschwitz-Prozesses in Peter Weiss´ Ermittlung darstellt. Neumanns »Voraus-Information« zu diesem Roman hat Stadler ebenfalls in seine Auswahl aufgenommen (S. 319 f.). Das Buch selbst, obgleich einer der spannendsten wie auch kontroversesten Versuche einer literarischen Auseinandersetzung mit Auschwitz und dem Auschwitz-Prozess, fehlt weiterhin im Buchhandel. Auch dies, so könnte man sagen, ist ein Verdienst von Stadlers Nachlass-Edition: Die Diskrepanz zwischen dem – höchst erfreulicherweise endlich – Veröffentlichten, das aber, neben den Briefen, doch »nur« kleinere Arbeiten, Seitenstücke und Entwürfe umfasst, und der großen Menge des gegenwärtig Ungreifbaren, nämlich beinahe des ganzen literarischen Werks Robert Neumanns, sichtbar zu machen. Es ist nicht genug zu hoffen, dass Franz Stadlers Buch dazu beitragen wird, diesem Misstand abzuhelfen und auch Neumanns Bücher endlich wieder auf den Buchmarkt zu bringen.

 
 

Anmerkungen

Hans Weigel: »In memoriam Robert Neumann (1897–1975).« In: Österreichische Autorenzeitung 1/1975, S. 15 f.    zurück
Hans Wagener: Robert Neumann. Biographie. München: Wilhelm Fink 2007.   zurück
Anne Maximiliane Jäger (Hg.): Einmal Emigrant – immer Emigrant? Der Schriftsteller und Publizist Robert Neumann (1897–1975). München: Edition text+kritik 2006.   zurück
Evelyn Neumann: »Versuch einer Bibliographie«. In: Robert Neumann. Stimmen der Freunde. Der Romancier und sein Werk. Zum 60. Geburtstag am 22. Mai 1957. Überreicht vom Verlag Kurt Desch. Wien/München/Basel 1957, S. 132–142, S. 141.   zurück