IASLonline

Wechselwirkungen von Literatur und Literaturwissenschaft

  • Jan Behrs: Der Dichter und sein Denker. Wechselwirkungen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft in Realismus und Expressionismus. (Beiträge zur Geschichte der Germanistik. 4) Stuttgart: S. Hirzel 2013. 332 S. EUR (D) 49,00.
    ISBN: 978-3-7776-2305-4.
[1] 

Die Ende letzten Jahres in der Reihe Beiträge zur Geschichte der Germanistik veröffentlichte Dissertation von Jan Behrs ist dem Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft gewidmet, das sich, wie die Arbeit eindrücklich zeigen kann, durchaus »komplex und vielschichtig« (S. 9) gestaltet. Das im Titel angeführte Konzept von »Wechselwirkungen« enthält dabei die Grundthesen der Arbeit: Spätestens mit der zunehmenden Aufmerksamkeit der institutionellen Literaturwissenschaft gegenüber der Gegenwartsliteratur seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen beide Felder in einem gegenseitigen Beobachtungsverhältnis, das nicht unidirektional, sondern wechselseitig ist und keineswegs folgenlos für das jeweils beobachtete Gebiet bleibt (vgl. S. 9–12). Diesem Verhältnis und vor allem den Spuren einer »zunehmend intensive[n] Durchdringung des Literatursystems mit germanistischem Wissen« (S. 12) geht die Arbeit in ausgewählten Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert nach. Dabei kann die Perspektive sowohl für einzelne Texte als auch für literarische Strömungen neue und wichtige Einsichten liefern.

[2] 

Aufbau und Zielsetzung

[3] 

Der Hauptteil der Arbeit besteht aus zwei chronologisch angeordneten Großkapiteln mit Fallstudien zum Realismus und zum Expressionismus im Hinblick auf ihr jeweiliges Verhältnis zur Literaturwissenschaft. In der vorangestellten Einleitung finden sich Überlegungen zur Gliederung und Methode, ein Forschungsüberblick und eine systematisierende Übersicht möglicher Interaktionsformen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft. Diese Übersicht, welche keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, macht vor allem die Relevanz und die Spannbreite der Untersuchungsperspektive ersichtlich und veranschaulicht die vielschichtigen potentiellen Durchdringungen von Literaturwissenschaft und Literatur. Da diese unterschiedlichen Interaktionsformen selten isoliert, sondern vielmehr »in spezifische literarische, soziale und institutionelle Kontexte eingebettet« (S. 22) auftreten, optiert Behrs für exemplarische Fallstudien, in denen er das Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft in seiner Komplexität für jeweils distinkte historische Konstellationen analysiert. Obwohl die chronologisch angeordneten Untersuchungen aus über 100 Jahren Literatur- und Fachgeschichte nicht darauf angelegt sind, einer »großen Erzählung« untergeordnet zu werden, sondern jeweils für sich stehend »spezifische Umgangsweisen der Literatur mit der Literaturwissenschaft« (S. 24) veranschaulichen, kann die Arbeit durchaus zu einer Verhältnisbestimmung von Literatur und Literaturwissenschaft überhaupt beitragen. In der Schlussbemerkung werden dann die zentralen Aspekte der Verhältnisbestimmung gebündelt und mit Blick auf die Gegenwart erweitert. Die Ergebnisse der Einzelstudien werden aber bereits innerhalb der einzelnen Kapitel an strategischen Stellen für den Leser übersichtlich und konzise zusammengefasst. Zur Klarheit der Argumentation trägt ebenfalls Behrs‘ unprätentiöse und ansprechende Wissenschaftsprosa bei.

[4] 

Methodische Ausrichtung

[5] 

In Anlehnung an Bourdieus Feldtheorie, aber ohne diese zur methodischen Grundlage der Arbeit zu machen, werden das wissenschaftliche und das literarische Feld als autonome Bereiche mit eigenen Regeln und Strukturen aufgefasst. Im Zentrum der Arbeit steht dann – in der bourdieuschen Beschreibungssprache ausgedrückt – die Frage nach der feldübergreifenden Interaktion und den Bedingungen und Möglichkeiten eines ›Umtauschens‹ des feldspezifischen symbolischen Kapitals. Die Trennung der beiden Felder Literatur und Wissenschaft, die in der Arbeit durchgehend beibehalten wird, wird einerseits aus heuristischen, andererseits aus historischen Gründen angenommen: Die Kommunikation zwischen Literaturwissenschaft und Literatur vollzieht sich, so Behrs, im wesentlichen in Anerkennung einer vorhandenen Trennung und Differenz der beiden Tätigkeitsfelder (vgl. S. 26). Dementsprechend konzentriert sich die Arbeit auf die institutionalisierte Wissenschaft und zwar ihrem eigenen Selbstverständnis nach. Als Wissenschaftler gilt in diesem Sinne jemand, der zumindest für eine gewisse Zeit eine Position im akademischen Feld innehatte. Näherhin bezieht sich die Verhältnisbestimmung auf die Konstellation zwischen Literaturwissenschaft und der jeweiligen Gegenwartsliteratur, nimmt also den »direkten Austausch zwischen beiden Instanzen« (S. 30) in den Blick. Dabei geht es Behrs auch darum, die Auswirkungen eines solchen Austauschs auf die fiktionalen Texte nachzuzeichnen. »[U]nproblematisch zuschreibbares germanistisches Wissen« (S. 12), so Behrs, ist im Gegensatz zu anderen Wissensbeständen allerdings nur schwer in literarischen Texten festzumachen, nicht zuletzt aufgrund der thematischen und methodischen Überschneidungen zwischen beiden Feldern. Um diese Schwierigkeiten einzudämmen, kombinieren die Fallstudien unterschiedliche Herangehensweisen: Die literarischen Texte selbst werden einer intensiven Analyse unterzogen, um enthaltenes germanistisches Wissen aufzuzeigen und dessen Bedeutung für die Interpretation darzulegen. Als Ergänzung werden auch textexterne, sozialgeschichtliche Kontexte herangezogen und rekonstruiert, oftmals auf Grundlage von Archivmaterialien. Um das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft im Hinblick auf die bestimmenden Normen und Strukturen dieser Interaktion genauer zu erfassen, bedient sich Behrs außerdem literatursoziologischer Instrumentarien.

[6] 

Die Fallstudien zum Realismus und Expressionismus zeigen jeweils unterschiedliche Ausprägungen dieser Interaktion. Während in der Epoche des Realismus zunächst die »Kommunikationsregeln« (S. 23) zwischen Literatur und einer sich zunehmend institutionalisierenden Wissenschaft ausgehandelt werden, kann die Literaturwissenschaft für den Expressionismus bereits als ein von der literarischen Bewegung stets »antizipierter Rezeptionshorizont« 1 gelten. Um die Untersuchungsperspektive zu erweitern und die einzelnen Fallstudien besser zu kontextualisieren, werden jedem Kapitel knappe, in der Forschung bereits aufgearbeitete ›Modelle‹ der Kunst-Wissenschaftskommunikation vorangestellt, wie sie einzelne Autoren oder Wissenschaftler geprägt haben

[7] 

Realismus – »Konfliktreiche[s] Kennenlernen[]« 2

[8] 

Mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nimmt die Arbeit im ersten Teil einen Zeitraum in den Blick, in dem sich die Literaturwissenschaft als eigenständige Disziplin herauszubilden beginnt und auch der Gegenwartsliteratur mit zunehmender Aufmerksamkeit begegnet. Die dem Kapitel vorangestellten Modelle zu Ludwig Uhland, Gustav Freytag und Paul Heyse demonstrieren, dass die für Uhland noch relativ harmonisch realisierbare Möglichkeit einer Personalunion von Schriftsteller und Wissenschaftler im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer weniger gegeben ist. Während der ›Schriftstellerwissenschaftler‹ zwar als Ideal durchaus noch weiter Bestand hat, werden die beruflichen Laufbahnen von Schriftsteller und Literaturwissenschaftler in der gesellschaftlichen Realität zunehmend unvereinbarer (vgl. S. 47). Mit der Etablierung der Literaturwissenschaft als Beruf, so Behrs, entwickelt sich im 19. Jahrhundert ein »Standardmodell der Interaktion: Schriftsteller und Literaturwissenschaftler begegnen sich auf dem gemeinsamen Feld der […] Literatur« (S. 47). Diese Interaktion wird in Fallstudien zu Klaus Groth, Theodor Storm und Gottfried Keller genauer bestimmt.

[9] 

Drei spezifische Interaktionsmuster arbeitet Behrs in den einzelnen Fallstudien heraus, die hier nur skizziert werden können: Erstens kann die Germanistik Einfluss auf Lebenswelt und Texte der Autoren nehmen, zweitens kann Literaturwissenschaft als Beruf in der Fiktion dargestellt werden und drittens können die Verfahrensweisen der Literaturwissenschaft in der Literatur thematisiert und kritisiert werden (vgl. S. 106). Die Fallstudien veranschaulichen dabei, dass diese unterschiedlichen Formen nicht in einem direkten Bedingungsverhältnis zueinander stehen: Beispielsweise hinterlässt die wohl einzigartig enge Zusammenarbeit von Klaus Groth mit ›seinem‹ Germanisten Karl Müllenhoff, die teilweise bis in die konkrete Gestaltung der Gedichte hineinreicht, kaum thematische Spuren in Groths Werk. Demgegenüber spielen bei Keller, auch wenn dieser zeitlebens keine derart enge Zusammenarbeit mit Literaturwissenschaftlern pflegte, die »Textumgangsformen der Literaturwissenschaft« (S. 106) eine für das Verständnis seiner Texte wesentliche Rolle, wie in der Interpretation der Novelle Hadlaub exemplarisch vorgeführt wird.

[10] 

Grenzverhandlungen

[11] 

Durch die präzise und materialreiche Rekonstruktion der Beziehung zwischen einzelnen Schriftstellern und Wissenschaftlern sowie durch die Analyse der literarischen Texte im Hinblick auf die literarische Repräsentation der Literaturwissenschaft kann die Arbeit überzeugend nachweisen, dass sich bereits im 19. Jahrhundert relativ strenge Grenzen zwischen beiden Tätigkeitsfelder herauskristallisierten und zunehmend verfestigten (vgl. S. 106 f.). Auch wenn Literatur und Literaturwissenschaft sich gegenseitig anerkennen, bleiben die Produktion von Literatur und deren deutende Auslegung prinzipiell getrennte Tätigkeiten und Fähigkeiten. Die Literaturwissenschaft wird dabei als eine privilegierte Deutungsinstanz angesehen (im Gegensatz zur Literaturkritik), die wichtige öffentliche Anerkennung verleihen kann. Eine konkrete Zusammenarbeit an der Textproduktion ist allerdings die Ausnahme; üblicherweise wird erwartet, dass die Germanistik ihre Fähigkeiten an ›fertiggestellten‹ Texten ausübt. Auch gibt es nur selten Versuche einer Wiedervereinigung der sich ausdifferenzierenden Felder gemäß dem Ideal einer ursprünglichen Einheit von Kunst und Wissenschaft. Vielmehr kommt es bei Grenzüberschreitungen beiderseits zu heftigen Abwehrreaktionen, etwa dann, wenn ein Literaturwissenschaftler zu sehr in das Kunstwerk eingreifen möchte oder wenn sich der Schriftsteller um akademische Posten wie Professuren bewirbt. Teilweise haben solche »Grenzkonflikte« (S. 107) die Beendigung der persönlichen Beziehungen zur Folge.

[12] 

Expressionismus – »Antizipierte[r] Rezeptionshorizont« 3

[13] 

Der zweite Teil der Arbeit zum 20. Jahrhundert ist analog aufgebaut. Als Modelle dienen hier die in ihrer Beziehung zur Germanistik relativ gut erforschten Schriftsteller Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Thomas Mann. Die Fallstudien widmen sich dann prominenten Expressionisten wie Kurt Pinthus, Walter Hasenclever, Kurt Hiller, Georg Heym, Kurt Wolff, Ernst Stadler und weiteren Vertretern der literarischen Bewegung in den Zentren Berlin und Leipzig. Behandelt wird ebenfalls die Expressionismusrezeption in der Literaturwissenschaft bis 1976, dem Todesjahr von Kurt Pinthus.

[14] 

Hat der erste Teil für das 19. Jahrhundert vor allem eine wechselseitige Kenntnisnahme und eine Verhandlung der Grenzen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft festgestellt, thematisiert dieser zweite Teil die »Ausdifferenzierung und Diversifizierung« (S. 109) der Interaktionsmodelle im 20. Jahrhundert. Die Verfestigung der Grenzen und die Etablierung von Kommunikationsstandards im gegenseitigen Umgang ermöglichen es manchen Schriftstellern, konkrete Strategien zu entwickeln, um »die nunmehr konstant auf sie gerichtete Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft für sich zu nutzen und zu kanalisieren« (S. 109). Nachdem mit George, Hofmannsthal und Thomas Mann die wohl bekanntesten Modelle einer solchen »aktive[n] Wissenschaftspolitik« (S. 127) zusammenfassend dargelegt worden sind, liegt der Schwerpunkt des Kapitels auf dem bisher nur unzureichend erforschten Verhältnis von Expressionismus und Literaturwissenschaft. Während im ersten Teil eher einzelne Schriftsteller und Texte in den Blick genommen wurden, wird damit die Untersuchungsperspektive auf eine literarische Bewegung ausgeweitet. Mittels einer genauen Rekonstruktion des expressionistischen Milieus in den Zentren Berlin und Leipzig sowie der Interpretation zentraler Texte kann so eine »Neubewertung des Gesamtphänomens Expressionismus« erfolgen, »die den antibürgerlichen und antitraditionellen Gehalt dieser Richtung in einem anderen Licht erscheinen lässt« (S. 130). Vor allem der Widerspruch, dass die expressionistische Bewegung als »Opposition gleichsam gegen die eigene gesellschaftliche Voraussetzung« verstanden werden muss, wird genauer in den Blick genommen. 4 Dabei zeigen die Fallstudien in unterschiedlicher Ausprägung die »lebensweltliche[] Überschneidung« (S. 186) zwischen den Vertretern des Expressionismus und der akademischen Literaturwissenschaft, etwa in der Nähe zur literarhistorischen Anschauungsweise bei Walter Hasenclever oder in der impulsgebenden Funktion der Universität für expressionistische Werke, wie sie insbesondere die ›Gegenuniversität‹ um Karl Lamprecht hatte. Aber auch umgekehrt wirkt der Expressionismus, wie Behrs konzise zeigen kann, maßgeblich und ziemlich erfolgreich an seiner wissenschaftlichen Rezeption mit. Dies verdeutlichen etwa die Selbstbezeichnung als ›Expressionisten‹, die zahlreichen selbstauslegenden Manifeste oder Kurt Pinthus‘ Menschheitsdämmerung, deren Angebot einer Kanon- und Epochenkonstituierung relativ umstandslos in die Literaturwissenschaft Einzug findet. Diese aufmerksamkeitslenkenden Strategien werden vor allem im Kapitel zur Expressionismusrezeption behandelt und auch hier ist die enge Verknüpfung von Wissenschaft und Literatur augenfällig. Demnach ist »eine Reaktion auf die Existenz der Germanistik nicht das Privileg einzelner etablierter Autoren [...], sondern bei der Formung dieser Bewegung [des Expressionismus] von Anfang an zu beobachten« (S. 291).

[15] 

»[K]omplementäre Abhängigkeit« 5

[16] 

»Spätestens mit dem Expressionismus haben die Dichtung und ihre Wissenschaft also einen Zustand der wechselseitigen Konstituierung erreicht, der bis in die Gegenwart hinein andauert« (S. 291), konstatiert Behrs in den Schlussfolgerungen seiner Arbeit. In der nachfolgenden Rekapitulation und Ausweitung der Ergebnisse stellt er sechs Aspekte heraus, die das Verhältnis von Literaturwissenschaft und Literatur besonders prägen. Ohne diese Ausführungen hier vollständig wiederzugeben, seien einige dieser Überlegungen abschließend aufgegriffen.

[17] 

Einem engen Verhältnis zur Literaturwissenschaft beziehungsweise zu einzelnen Literaturwissenschaftlern wohnt aus der Sicht der Literatur, so Behrs, immer eine gewisse Doppelbödigkeit inne (vgl. S. 292 f.). Zum einen bedrohe die Literaturwissenschaft gewissermaßen die Souveränität der Autoren über ihr Werk, etwa durch das Aufzeigen von Einflüssen und Vorlagen. Gleichermaßen gelte die Literaturwissenschaft aber auch als eine »oberhalb der Tageskritik positionierte Instanz« (S. 292), deren Aufmerksamkeit durchaus Vorteile bieten kann. So sei die Literaturwissenschaft in der Lage, eine »Korrektur von Wahrnehmungsroutinen der Öffentlichkeit« oder auch die »Etablierung eines [...] Werkganzen« zu leisten (S. 292). Für den Zeitraum der Untersuchung konstatiert Behrs dabei »eine Verschiebung und Intensivierung« (S. 293) dieser Aufmerksamkeitsdisposition. Während Schriftsteller im ausgehenden 19. Jahrhundert bereits einigermaßen etabliert seien, wenn sie ins Blickfeld der Germanistik geraten, sei beim Expressionismus die Präsenz der Germanistik von vorneherein mitbedacht. Es gehe den Autoren demnach nicht mehr primär um ein ›Nachlassbewusstsein‹, sondern vielmehr darum, sich in der unmittelbaren Interaktion mit der Germanistik als Autoren bzw. literarische Strömung im literarischen Feld zu etablieren.

[18] 

Vorrangstellung der Wissenschaft?

[19] 

In Bezug auf die Hierarchisierung des Verhältnisses von Literatur und Literaturwissenschaft spricht Behrs der Wissenschaft eine Vorrangstellung zu (vgl. S. 296 f.). Die in seiner Untersuchung geschilderte »freundschaftliche[] Phase« (S. 296) im 19. Jahrhundert löse sich zugunsten der Germanistik in ein Ungleichverhältnis auf, das bis in die Gegenwart fortdaure. So entscheiden Vertreter der Germanistik etwa als Juroren über die Vergabe von Literaturpreisen oder Stipendien; Schriftsteller hingegen sind in der Regel nicht an akademischen Berufungen beteiligt. Gegenwärtige Tendenzen wie die Etablierung von universitären Schreibschulen oder auch Poetikdozenturen interpretiert Behrs als den Versuch der Germanistik, »sowohl die poetische Produktion als auch die Reflexion über sie in einer weiteren Weise an die Universität [zu binden]« (S. 296). Mit Blick auf diese Asymmetrie gebe es, zumindest was den untersuchten Zeitraum betrifft, nur vereinzelte »Emanzipationsbemühungen« (S. 296) seitens der Literatur, etwa Stefan Georges literaturgeschichtliche Anthologien, wobei solche Bemühungen, so Behrs weiter, allerdings nie zu einem wirklichen Aufbrechen der Verhältnisstrukturen führten. Ob dieses Analyseergebnis auch anders hätte ausgelegt werden können, etwa aus der schriftstellerischen Perspektive, sei dahingestellt.

[20] 

Systematische und historische Perspektiven

[21] 

Zum Schluss sei noch auf Anknüpfungspunkte an die germanistische Forschung hingewiesen, die sich zwar gewissermaßen aus der Untersuchungsperspektive ergeben, gleichzeitig aber auch über den selbstgesetzten Anspruch der Studie hinausreichen. Gegenwärtig werden in der deutschsprachigen Germanistik die zunehmende Integration von Gegenwartsliteratur in die akademischen Curricula und die damit einhergehenden methodologischen Probleme vermehrt und kontrovers diskutiert. 6 Dass dabei der historischen Perspektive eine zunehmende Bedeutung zukommt, verdeutlicht auch die zeitgleich entstandene Habilitationsschrift von Alexander Nebrig. 7

[22] 

Durch die gewählte Untersuchungsperspektive und die über die Ergebnisse der Einzelstudien hinausgehenden und tendenziell bis an die Gegenwart heranreichenden Reflexionen liefert Behrs‘ Dissertation gewinnbringende Erkenntnisse und Anschlussstellen im Hinblick auf diese aktuelle Auseinandersetzung. Die konkreten Fallstudien zeigen nicht zuletzt exemplarisch, wie in der Germanistik in bestimmten historischen Konstellationen jeweils mit Gegenwartsliteratur umgegangen worden ist, wie Versuche der gegenseitigen Einflussnahme ausgesehen und wie sich bestimmte Interaktionsmuster herausgebildet haben. Inwiefern die Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur die Literaturwissenschaft vor spezifische und methodologisch ernst zu nehmende Herausforderungen stellt, kann insbesondere das Kapitel zur Expressionismusrezeption zeigen. Dort werden zum einen diverse Rechtfertigungsstrategien angeführt, mit denen die epistemische Dignität des Gegenstandes ›Expressionismus‹ belegt werden sollte, aber auch fragwürdige Zirkelschlüsse aufgezeigt, etwa wenn das literaturgeschichtliche Wissen in den Werken Ernst Stadlers von der Literaturwissenschaft als Beleg der eigenen Epocheneinteilung genutzt wird, ohne zu bedenken, dass dieses Wissen selbst mit großer Wahrscheinlichkeit aus Stadlers literaturwissenschaftlichem Studium stammt (vgl. S. 227). Die sozialgeschichtliche Rekonstruktion zeigt aber auch, wie komplex sich diese Interaktionsformen bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert gestalten beziehungsweise in welchem Grad sich literaturwissenschaftliches und literarisches Feld gegenseitig durchdringen. Gottfried Kellers Drohungen, seinen Nachlass »mittels Ofen und Papierkorb« zu bereinigen, 8 kann so erst im Wissen um Kellers tatsächlich sorgfältige Konservierung aller seiner Briefe und Manuskripte retrospektiv als Teil einer Selbstinszenierung verstanden werden (vgl. S. 86–89), die erst innerhalb des vielschichtigen Interaktionsmodells ihre Brisanz gewinnt.

[23] 

Fazit

[24] 

Die Arbeit ist demnach zweifellos ein wichtiger Beitrag zur Realismus- und Expressionismusforschung sowie zur Fachgeschichte der Germanistik. Sie liefert durch die systematischen Reflexionen der Untersuchungsperspektive aber auch Bausteine und historische Ausweitungsmöglichkeiten zur aktuell virulenten methodologischen Diskussion über die Möglichkeiten eines wissenschaftlich reflektierten Umgangs mit Gegenwartsliteratur.

 
 

Anmerkungen

Diese Formulierung übernimmt Behrs von Steffen Martus: »In der Hölle soll sie braten«. Zur Literatur der Literaturwissenschaft mit einem Seitenblick auf Mathias Polityckis »Weiberroman« und die Computerphilologie. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 17 (2007), S. 8–27, hier S. 10. Zitiert nach Behrs, Der Dichter und sein Denker, S. 19.   zurück
Behrs, Der Dichter und sein Denker, S. 31.   zurück
Behrs, Der Dichter und sein Denker, S. 108.   zurück
Peter Gust: Georg Heym in der Zirkelbildung des Berliner Frühexpressionismus. In: Literarisches Leben in Berlin 1871–1933, hrsg. von Peter Wruck. Berlin: Akademie-Verlag 1987, Bd. 2, S. 7–44, hier S. 15. Zitiert nach Behrs, Der Dichter und sein Denker, S. 131.   zurück
Behrs, Der Dichter und sein Denker, S. 291.   zurück
Zu nennen wären etwa Paul Brodowsky, Thomas Klupp (Hrsg): Wie über Gegenwart sprechen? Überlegungen zu den Methoden einer Gegenwartsliteraturwissenschaft. Frankfurt a. M.; New York: Peter Lang 2010; Mark Bierwirth, Anja Johannsen, Mirna Zeman (Hrsg): Doing contemporary literature. Praktiken, Wertungen, Automatismen. (Schriftenreihe des Graduiertenkollegs »Automatismen«) München: Fink 2012; Carlos Spoerhase: Literaturwissenschaft und Gegenwartsliteratur. In: Merkur. Deutsche Zeit­schrift für Europäisches Denken 68.1 (2014), S. 15–24. Diskutiert wurde die Fragestellung auch in zahlreichen Beiträgen auf der Tagung Text, Literatur, Geschichte. Perspektiven für das 21. Jahrhundert: III. Literatur/Wissenschaft vom 13–14.02.2014 am ZIF in Bielefeld.   zurück
Alexander Nebrig: Disziplinäre Dichtung. Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 77 (311)) Berlin [u.a.]: de Gruyter 2013.   zurück
Brief von Gottfried Keller an Jakob Bächtold vom 2. Februar 1885. In: Gottfried Keller, Gesammelte Briefe, hrsg. von Carl Helbling, Bd. 3.1, Bern: Verlag Benteli 1952, S. 314. Zitiert nach Behrs, Der Dichter und sein Denker, S. 88.   zurück