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Poetik jetzt und hier

Review article zu

  • Silke Horstkotte / Leonhard Herrmann (Hg.): Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000. (spectrum Literaturwissenschaft / spectrum Literature 37) Berlin u. Boston: Walter de Gruyter 2013. 360 S. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-033642-9.
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Der vorliegende Band geht zurück auf eine Tagung, die im März 2012 kooperativ von der Leipziger Buchmesse und dem Institut für Germanistik der Universität Leipzig veranstaltet und von der Fritz-Thyssen-Stiftung finanziert wurde. Eingeleitet wird der die Tagungsvorträge dokumentierende Band durch ein instruktives Vorwort der beiden Herausgeber, das, ausgehend von der schon öfters gestellten Frage nach der Relevanz der Gegenwartsliteratur für die Literaturwissenschaft, den Gegenstandsbereich des vorliegenden Bandes einkreist. Sein Ziel sei es, »explizite wie immanente Poetologien deutschsprachiger Erzählliteratur seit der Jahrtausendwende systematisch zu untersuchen und die Frage nach unmittelbaren Themen- und Gegenstandsbezügen von Literatur dahinter zurückzustellen.« (S. 5). Die Beiträge des Bandes seien dabei im Kontext einer »Gegenwartsliteraturwissenschaft« zu sehen, worunter die Herausgeber »diejenige Sparte literaturwissenschaftlicher Hermeneutik« verstehen, »die sich selbst innerhalb des von ihr beobachteten Feldes befindet« und die mithin »teilnehmende Beobachtung« (S. 4) ist.

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Die hier dokumentierte Tagung stand unter dem programmatischen Titel »Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier« – ein Zitat, das am Anfang von Terézia Moras Alle Tage steht und, so Horstkotte und Herrmann, »paradigmatisch für das Wagnis Gegenwartsliteratur« stehe. Und dies aus vielen Gründen, wie die Herausgeber in einer mehrseitigen Exegese dieses einen Satzes anschaulich belegen (S. 5 ff.). Die Ausführungen Nathan Taylors (S. 16 ff.) und Dirk Werles (S. 155 ff.) setzen Reflexionen über Moras Programm des hic et nunc fort; interessanterweise kommt aber niemand auf diejenige Quelle zu sprechen, die möglicherweise der eigentliche Ursprung des Satzes ist. Für die US-amerikanische Popkultur ist diese Quelle von erheblicher Bedeutung, steht sie doch am Anfang einer der einflussreichsten Mystery/Fantasy/Science Fiction-Serien: »The place is here, the time is now, and the journey into the shadows that we‘re about to watch could be our journey« leitet 1959 die Pilotfolge von The Twilight Zone ein, die den (auch für den Kontext von Moras Zitat) bezeichnenden Titel »Where is everybody?« trägt. Terézia Mora zitiert also schon selbst, wobei es unerheblich ist, ob sie dies bewusst oder unbewusst tut.

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Der gemeinsame Ansatz der einzelnen Beiträge sei »beobachtend und deutend, nicht wertend« (S. 7), stellen die Herausgeber fest, was freilich nicht ganz zutrifft: Denn erstens handelt es sich doch bereits bei der Auswahl der Untersuchungsgegenstände um signifikante Wertungshandlungen, und zweitens teilen beileibe nicht alle Beiträger des Bandes diese Art der Zurückhaltung. Aber das Ziel ist klar, es geht ihnen um die Inventarisierung von Schreibweisen der letzten fünfzehn Jahre. Herausgeberin und Herausgeber gliedern den Band nach drei poetologischen Fragekomplexen, nämlich (I) Realismus und Fantastik, Norm und Ordnung, (II) Literarische Formen von Geschichtlichkeit sowie (III) Markt und Literatur. Diese inhaltlichen Schwerpunktsetzungen sollen im Folgenden anhand der Besprechung einzelner Beiträge genauer erläutert werden, wobei ich mich – angesichts der Menge der vorliegenden Beiträge – lediglich mit dem letztgenannten Punkt ausführlicher auseinandersetzen kann.

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Der erste Abschnitt (Realismus und Fantastik, Norm und Ordnung) widmet sich in erster Linie poetologischen Konzepten einzelner Autorinnen und Autoren. Bei Nathan Taylor (»Am Nullpunkt des Realismus«) steht die schon erwähnte »Poetik des hic et nunc« Terézia Moras im Vordergrund, Moritz Baßler unternimmt unter den drei Schlagworten »Realismus – Serialität – Fantastik« den Versuch einer »Standortbestimmung gegenwärtiger Epik«. Leonard Herrmann widmet sich in seinem Beitrag »Andere Welten – fragliche Welten« dem fantastischen Erzählen der Gegenwart, wobei er sich eingehender mit Clemens J. Setz, Daniel Kehlmann und Georg Klein beschäftigt. Silke Horstkotte setzt sich in »Heilige Wirklichkeit!« ebenfalls mit fantastischem Erzählen auseinander, legt den Akzent dabei jedoch auf den religiösen Gehalt neuerer fantastischer Texte, was sie an Texten von Benjamin Stein, Thomas Glavinic und Sibylle Lewitscharoff illustriert. In Anne Fleigs Aufsatz »Lesen im Rekord« steht Uwe Tellkamps Roman Der Turm im Vordergrund, den die Autorin vor den literarischen Paradigmen Realismus und Fantastik analysiert. Rolf Parr zeigt in seinem Beitrag »Normalistisches Erzählen in der Gegenwartsliteratur« anhand zahlreicher literarischer Beispiele ein fünf Muster umfassendes Panorama ästhetisch relevanter Strukturen auf, in denen Normalität (im Unterschied zu Normativität verstanden als kontextbezogene, flexible Aushandlung von sozialen Erwartungen) von Bedeutung ist. Monika Schmitz-Emans geht in »Alphabetisch-lexikographische Schreibweisen und Kriterien der Postmoderne« der Frage nach, wie sich das Alphabet als eine kulturelle Bezugsgröße für (nicht nur deutschsprachige) postmoderne Schreibverfahren ausgewirkt hat. Bernadette Malinowski und Jörg Wesche (»Synchrones Lesen«) zeigen an Texten von Michael Wüstefeld und Daniel Kehlmann den vielschichtigen Einfluss der Mathematik auf aktuelle literarische Texte. Dirk Werles Beitrag über »Christoph Ransmayrs Poetik der Zeitlosigkeit im Fliegenden Berg«, der dessen Changieren zwischen Tradition und Postmoderne veranschaulicht, schließt den ersten Abschnitt des Bandes ab.

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Die Beiträge des zweiten Abschnitts setzen sich mit der Verarbeitung von Geschichte und Geschichtlichkeit in literarischen Texten auseinander. In »Literarische Konzepte von Zeit nach dem Ende der Postmoderne« untersucht Erik Schilling Texte von u.a. W.G. Sebald, Ulrike Draesner und Helmut Krausser. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzung für die Etablierung von Paradigmen einer sich an die Postmoderne anschließenden Epoche (wie »neuer Realismus, eine neue Authentizität, vielleicht gar eine neue Religiosität« (S. 187)) die Situierung eines linearen Zeitverständnisses ist. Ein großes Verdienst stellt Daniel Fuldas Aufsatz »Zeitreisen. Verbreiterungen der Gegenwart im populären Geschichtsroman« dar, stehen hier doch Texte und kulturelle Phänomene im Vordergrund, die die Literaturwissenschaft nur selten zum Thema macht, obwohl sie in Hinblick auf Rezeptionsphänomene und nicht zuletzt in Hinblick auf die Ökonomie von einiger Relevanz sind: Nicht nur die Bestsellerlisten spiegeln das Faible des Publikums für historische Romane wider, auch das Fernsehen nimmt sich gerne (dies eine reziproke Folge des Verkaufserfolges) der Wanderhure, dem Medicus und allerlei Magiern, Hebammen, Dombaumeistern und Mönchen an. Fulda zeigt zunächst mit einer Umfrage unter seinen Studierenden, dass diese Texte durchaus auch von (angehenden) Germanist/innen gelesen werden, ja noch mehr als das: Es lassen sich richtige Kenner/innen von Autoren/innen wie Ken Follet, Tanja Kinkel oder Iny Lorentz auch im akademischen Milieu identifizieren – und die Ergebnisse von Fuldas kleiner Umfrage dürften in vielem durchaus übertragbar sein. Nach Fulda steht dieses Genre einerseits im Zeichen der Beschleunigung (werden die Texte doch schnell konsumiert und eng getaktet produziert); andererseits vermitteln sie als »Gegengewicht zu diesem Vorbeirauschen« (S. 199) die Sicherheit einer geordneten, wenn auch nicht immer durchschaubaren Welt. Sie liefern eine »Vergangenheit mit Kompensationseignung«, indem sie den Konsumentinnen Identifikationsangebote machen, die sich zwar von den Rollenmustern der Trivialliteratur früherer Jahre unterscheiden, gleichwohl aber das gängige Weltbild bedingungslos affirmieren: Allerlei Fremdartiges wird als mittelalterliches Dekor und Kostümierung aufgefahren, Denk-, Verhaltens- und Redeweisen, moralische und soziale Normen der Gegenwart werden aber in vormoderner Kulisse ausagiert, als handele es sich um anthropologische Konstanten. In diesem Punkt scheint sich innerhalb der Kulturindustrie also nicht besonders viel getan zu haben. Neu dagegen ist, dass das geglückte Identifikationsangebot des Genres »aus jeder Vergangenheit eine Gegenwart ›bloß im historischen Kostüm‹«(S. 205) machen kann, was Fulda u.a. mit dem Erfolg von Mittelalterspektakeln als Teil einer populären »Living History-Szene« belegt.

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Anne Fuchs zeigt in ihrem Beitrag »Poetiken der Entschleunigung in Prosatexten Wilhelm Genazinos, Julia Schochs und Judith Zanders« die Vielfalt einer »heterochronen Gegenwartspoetik« (S. 214), indem sie zunächst die persistente Diskussion um die Relevanz der Beschleunigung nachzeichnet und anschließend die erzählerischen Strategien der genannten Autor/innen an diese Diskussion rückbindet. In ihrem Beitrag »Große Form – kleine Form. Gegen den Strich der Familiensaga« untersucht Astrid Köhler die seit langem erfolgreiche Subgattung des Familienromans, der (ausgerichtet am Idealtypus Buddenbrooks) entlang einer Generationenfolge erzählend die Familiengeschichte zum historischen Beispielfall macht. Nicht ganz unproblematisch, da nur wenig differenziert, erscheint mir hier jedoch das Untersuchungskorpus zu sein: Dass sich mit Geiger und Köhlmeier auch zwei Österreicher unter den Beispielen finden, deren Erfolg ebenso wie der der deutschen Autoren darauf zurückgeführt wird, dass sie »Teil einer paradigmatisch neuen und erweiterten Erinnerungskultur […] der vereinigten Bundesrepublik« (S. 230) wurden, unterschlägt die Besonderheit der österreichischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Dies mag vielleicht in Hinblick auf die ökonomische Relevanz des deutschen Buchmarkts für österreichische Autor/innen noch angehen; wenn es aber heißt, dass in den neueren Familienromanen die individuelle Erinnerung von deutlich geringerer Relevanz sei als bei den Buddenbrooks, so trifft dies mit Sicherheit weder auf Köhlmeiers Abendland, noch auf Tellkamps Turm zu. Dies ist allerdings, wie sich dann zeigt, auch gar nicht das Thema Köhlers, denn sie untersucht am Beispiel von Jenny Erpenbeck und Kathrin Gerlof, wie diese Autorinnen mit kleineren Formen an die eben beschriebene Subgattung Familienroman anschließen, indem sie mit Techniken der Verkürzung (d.i. Ellipse, Fragmentierung, Verdichtung) arbeiten und als Ergebnis die Selbstverständlichkeit realistischen Erzählens zugleich affirmieren wie in Frage stellen. Den zweiten Abschnitt des Bandes beschließt – modisch auf der Höhe der Zeit – die Untersuchung von Armen Avanessian und Anke Hennig (»Der altermoderne Roman«), die sich mit »Gegenwart von Geschichte und contemporaneity von Vergangenheit« auseinandersetzt.

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Die Beiträge des dritten Abschnittes lassen sich thematisch gesehen auf den Nenner »Markt und Literatur« bringen. Norbert Otto Ekes Aufsatz »Wenn ihr zufrieden seid, so ist’s vollkommen« liefert zu Beginn des Abschnitts resümierende Überlegungen zum Thema ›Autor und Literaturbetrieb‹. Er geht dabei von der Grundsatzfrage aus, ob sich die »Verfassung von Gegenwartsliteratur« (S. 269, nach David-Christopher Assmann) aus den Betriebsumständen kausal ableiten lasse. Mit einer Vielzahl von Beispielen illustriert Eke die unterschiedlichen Positionierungen zum Betriebsgeschehen zwischen Abscheu und Affirmation und arbeitet heraus, wie stark der Literaturbetrieb von einem normativen Wertungskonzept geprägt ist, das den kontingenten Geschmack einer Elite repräsentiert. Anschließend widmet er sich dem literarischen Topos der Literaturbetriebsliteratur, der sich entweder als Leiden am Betrieb (R. Goetz, Th. Bernhard) oder als lustvolle Affirmation der Betriebsbedingungen zeigt, wobei sich der Autor als Dienstleister der Unterhaltungsindustrie versteht und damit das aus seiner Sicht überkommende Selbstbild des Dichters als poeta vates ersetzt. Gelegentlich blitzt aber auch bei solchen Autoren (Eke verweist auf Stuckrad-Barre) die Sehnsucht durch, sich in den Elfenbeinturm zurückziehen zu dürfen. Eke zeigt abschließend sehr überzeugend, dass der Begriff ›Literaturbetrieb‹ als polemischer Sammelbegriff für all das dient, was (angeblich) schief läuft im literarischen Feld. Vor diesem Hintergrund analysiert er die Renaissance des Autor-Begriffs und die Re-Auratisierung des ›Autors‹, wohinter, wie Eke abschließend andeutet, freilich auch die verkappte Aufwertung all derjenigen steht, die die Netze der Literaturvermittlung spinnen und in diese eingesponnen sind.

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Zu diesem Kreis sind u.a. auch Mitglieder von Preisjurys zu zählen, mit denen sich Christoph Jürgensen in seinem Beitrag »Würdige Popularität? Überlegungen zur Konsekrationsinstanz ›Literaturpreis‹ im gegenwärtigen literarischen Feld« auseinandersetzt. Jürgensen sieht die ›klassischen‹ Funktionen von Literaturpreisen (die er weitgehend von Dücker übernimmt) durch zunehmende Medienkonkurrenz und eine voranschreitende Ausdifferenzierung des literarischen Feldes bedroht, was u.a. dazu führe, dass es eine unübersichtliche Masse an Literaturpreisen gebe, die miteinander um das wertvolle Gut der Aufmerksamkeit konkurrieren. Zwei Preise nimmt Jürgensen genauer in den Blick, den Preis der Leipziger Buchmesse und den Deutschen Buchpreis; beide beeinflussten »in neuartiger Weise sowohl den Literaturbegriff als auch die Konzepte von Autorschaft unter den Bedingungen einer nachbürgerlichen, auf Erlebnisqualität abonnierten Gesellschaft, d.h. einer Gesellschaft, in der sich die Prominenz und der Erfolg von Büchern nicht mehr einem bildungsbürgerlichen Kulturwert, sondern einem Kultwert verdankt.« (S. 288)

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Im Folgenden zeigt Jürgensen, wie die beiden Preise entstanden sind und worin sie sich unterscheiden. Wenig überzeugend fällt dabei allerdings seine Interpretation der einzelnen Preisverleihungen aus: Weil 2005 mit Terézia Mora eine Debütantin ausgezeichnet worden war, habe man, damit der Preis nicht zum »Debütantenball« verkomme, 2006 mit Trojanow einen arrivierten Autor ausgezeichnet, und 2007 sei mit Ingo Schulze ein »populärerer Autor« (S. 293) prämiert worden. 2008 folgte dann Clemens Meyer – zusammengenommen, so Jürgensen, eine »offenkundig eher disparate als kohärente Zusammenstellung« (S. 293). Aber welcher Preis hätte je zum Ziel gehabt, Kohärenz zwischen den prämierten Autoren zu schaffen? Dass 2011, wie Jürgensen fortfährt, Clemens J. Setz ausgezeichnet wurde, sei Zeichen eines »autonomie-ästhetischen Restbestand[s]« (S. 294) – bei wem eigentlich? Dem Publikum oder vielleicht doch der Jury, über deren jährliche wechselnde Zusammensetzung Jürgensen freilich kein Wort verliert. Für die von ihm festgestellte fehlende »Kohärenz« ist dies jedoch ein wichtiges Detail.

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Über das Selbstverständnis des Deutschen Buchpreises schreibt Jürgensen, dass dieser »vor allem ein Preis für den Markt ist« und er »nicht einmal mehr zum Schein auf eine zu schützende bzw. zu fördernde Autonomie der Literatur oder auf formale oder ästhetische Innovationen« abziele (S. 296). Einer Institution den Zweck einer von ihr geschaffenen Einrichtung vorzuhalten, mutet freilich etwas merkwürdig an: Der Börsenverein hat nie behauptet, eine Dichterakademie zu sein. Ästhetische Werte, Autonomie der Literatur können ihm herzlich egal sein. Er ist ein Wirtschaftsverband – und ihm als solchen vorzuhalten, er wolle mit dem von ihm gestifteten Preis gerade diejenigen Ziele verfolgen, für die er ins Leben gerufen worden ist – nämlich die ökonomischen Interessen seiner Mitglieder – ist paradox.

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Karin Röhricht wertet in ihrem Beitrag über den Bachmann-Preis (»Wettlesen am Wörthersee«) das Korpus der in den »Klagenfurter Texten« erschienenen Wettbewerbsbeiträge aus. Dieses an sich verdienstvolle und interessante Vorhaben kann in der hier präsentierten Form freilich nicht recht überzeugen. Schon die Ausgangsfrage, der zufolge innerhalb des Korpus nach »Tendenzen und Häufigkeiten« gesucht werden solle, ist nicht unproblematisch. Als Ergebnis möchte Röhricht eine »Poetologie der Klagenfurter Texte« (S. 305) herausarbeiten. Wie aussagekräftig kann diese allerdings sein, wenn man sich vor Augen hält, dass auch hier die Jurys meist jährlich umbesetzt werden? Dass als thematische Schwerpunkte dann »Familie«, »Krankheit/Tod« und »Liebe, Partnerschaft, Ehe« dominieren, kann nicht überraschen. Hätte man die literarischen Neuerscheinungen der vergangenen 50 Jahre ausgewertet, wäre man wahrscheinlich zum selben Ergebnis gelangt. Unerwartet ist dagegen das Ergebnis der sprachlichen Analyse: »Sprachlich zeigen sich die Wettbewerbstexte homogen. Bezüglich der stilistischen Verfasstheit weisen 90 Prozent mittleren Stil auf.« Das hätte man freilich gerne etwas genauer gehabt. Und auch die Folgerungen bleiben blass: Dass Wertungshandlungen auf »unterschiedlichen Kriterien und individuellen Vorlieben« basieren, wie Röhricht als Ergebnis festhält, ist innerhalb der analytisch ausgerichteten Wertungsforschung längst Konsens.

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Ewout van der Knaaps Beitrag »Die Rückkehr des Gesellschaftsromans« ist eine wertungsanalytische Fallstudie über die eher zurückhaltende Rezeption von Thomas Brussigs Roman Wie es leuchtet in der deutschsprachigen Literaturkritik. Er stellt sich die Frage, ob die Abwehr gegen den »Diskurs der Postmoderne« (S. 319) ausschlaggebend für die ablehnende Haltung der Literaturkritik gewesen ist. Dabei bleibt die Studie weitgehend deskriptiv und verlässt sich auf pauschale Verurteilungen der deutschen Rezensenten wie etwa diese: »Auch noch im 21. Jahrhundert stößt ein Schriftsteller, der auch für das Medium Film schreibt, auf die Torwächter des alten Mediums, für die Tradition und Konsistenz wichtig sind im Urteil.« (S. 335) So schlimm ist es, möchte ich meinen, um das deutsche Feuilleton dann aber doch nicht bestellt. Da van der Knaap meist nur die unterschiedlichen Positionen der Literaturkritik referiert, statt sie zueinander in Beziehung zu setzen, gelingt es ihm nicht, die Rezeption von Brussigs Roman wertungsanalytisch zu verdeutlichen.

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Der den Band beschließende Aufsatz von Benjamin Specht (»Neuigkeiten ›vom Ende des Kapitalismus‹. Markt und Poetik bei PeterLicht«) kann dagegen in jeder Hinsicht überzeugen: Specht zeichnet klar die Feldposition des Sängers/Autors nach, wobei er zwei Schwerpunkte setzt: einen bei der »Autorfiktion«, die elementarer Bestandteil des (Selbst-)Marketings von PeterLicht ist, und einen weiteren auf PeterLichts Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, die eine doppelte Subversion darstellt. Specht zeigt, dass dahinter ein zwar nicht in allen Punkten überzeugendes, aber in Vielem doch durchdachtes und raffiniertes Künstlerkonzept steht, indem er die poetologische Strategie veranschaulicht, mit der PeterLicht seine teils doch recht verschrobenen Theoreme konstruiert. Dass diejenigen, die er am meisten kritisiert, gleichzeitig diejenigen sein dürften, die seine Platten kaufen, lässt sich indes wohl weniger auf den Masochismus dieser Gruppe zurückführen, als vielmehr auf die Machart von PeterLichts Kritik: Weil sie mal harmlos, mal wirr daherkommt, lässt sie jedem noch die Möglichkeit offen, sich nicht angesprochen zu fühlen. Es bleibt abzuwarten, welche Rolle PeterLicht, der mittlerweile durchaus unverpixelt und en face im Fernsehen auftritt, auch in Zukunft (wie Specht schreibt) die Popkultur instrumentalisieren kann, um einen »Möglichkeitssinn für Alternativen« (S. 340) zu wecken: Zielobjekte für eine profunde Kapitalismuskritik gäbe es ja genug.

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Mit dem eingangs erwähnten Mora-Zitat »Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier« haben Horstkotte und Herrmann eine griffige Formel für ihren Plan einer Inventarisierung aktueller Poetiken gefunden, die insgesamt sehr gelungen ist. Und auch wenn, wie bei der Dokumentation von Tagungen unvermeidlich, das Niveau der einzelnen Beiträge schwankt, so ist doch festzuhalten, dass der von Horstkotte und Herrmann herausgegebene Band in mehrfacher Hinsicht einen Glücksfall darstellt: Das mit dem Titel gegebene Versprechen, über unterschiedliche literarische Verfahren der Gegenwart zu informieren, wird in den allermeisten Beiträgen auf anspruchsvolle Weise eingelöst, nehmen doch die meisten Autor/innen die Mühe auf sich, Gegenwartsliteratur nicht lediglich zu beschreiben, sondern wirklich deutlich zu veranschaulichen, worin die literarische Gemachtheit dieser zum größten Teil höchst aktuellen Texte besteht. Das bereits eingangs genannte Konzept, das »Wie« dem »Was« vorzuziehen, also die Analyse von Schreibverfahren und nicht von mehr oder weniger kontingenten thematischen Setzungen ins Zentrum zu stellen, hebt diesen Band aus einer Vielzahl vergleichbarer Veröffentlichungen heraus, die allzu schnell hinter meist flüchtigen Trends eine literarische Strömung, eine Schule oder Gruppe vermuten. Weil darüber hinaus in der Regel darauf verzichtet wird, wohlfeile Prognosen zu treffen, stellt der von Silke Horstkotte und Leonhard Herrmann herausgegebene Tagungsband eine für die weitere Forschung sehr wichtige Bestandsaufnahme zeitgenössischer Poetiken, poetologischer (Selbst-)Positionierungen im literarischen Feld und zentraler Diskurse über die Gemachtheit von Literatur dar.