IASLonline

Im literarischen Souterrain der Goethezeit

  • Dirk Sangmeister / Martin Mulsow (Hg.): Subversive Literatur. Erfurter Autoren und Verlage im Zeitalter der Französischen Revolution (1780-1806). Göttingen: Wallstein 2014. 496 S. 17 Abb. Gebunden. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 978-3-8353-1439-9.
[1] 

Kunstvoll verfremdete Titel, erfundene Verfassernamen, fehlende oder kuriose Druckorte: So verschleiert kommen Drucksachen daher, die in einer verlegerischen Doppelstrategie den Leser neugierig, aber den Zensor ratlos machen sollen: Am Ende des 18. Jahrhunderts eröffnen derart heimlich-öffentliche Verlagsprodukte den Blick in die Untergründe des Buchverkehrs, aber auch in die Hintergründe der Leseinteressen. »Vorzüglich freimüthig geschriebene Werke« wurden, so getarnt, von geschäftstüchtigen Druckern und Verlegern hergestellt, von Winkelhändlern, Lesegesellschaften und Leihbibliotheken, aber auch im offiziellen Buchhandelsnetz verbreitet und von einem interessierten und zahlenden Publikum begierig aufgenommen. Die Zensur konnte umlaufende Exemplare konfiszieren, aber die verdeckte Quelle nicht ohne weiteres ermitteln. Mit diesem Phänomen befasste sich im November 2011 eine mehrtägige Konferenz des Forschungszentrums Gotha, aus der das vorliegende Buch hervor gegangen ist. Den Gastvortrag hielt Robert Darnton, dessen Werk The Business of Enlightenment (1979) längst zum Pilotbuch geworden ist.

[2] 

Das umfangreiche Thema ließ sich mit guten Gründen regional eingrenzen. Erfurt, als kurmainzische Enklave Thüringens bis 1802 von seiner Zentralregierung weit genug entfernt und von dem Statthalter Dalberg liberal genug verwaltet, empfahl sich zu dieser Zeit Verlegern und Autoren als besonders geeigneter Standort für ihr verdecktes Tun, und galt daher in der konservativen Kritik als berüchtigte »Giftboutique«.

[3] 

Die Beiträger des Bandes kamen, was leider nicht notiert wird, aus unterschiedlichen Disziplinen und Orten zusammen. Buchwissenschaftler, Medien- und Philosophiehistoriker, Literatur- und Kulturwissenschaftler sorgten für wechselnde Aspekte, allerdings auch für wechselnde Vortragsweisen. Die Medien um die es geht – Bücher, Flugblätter und Zeitschriften – enthalten affektgeladene Texte der unterschiedlichsten Art und Qualität, Enthüllungsgeschichten aus der Welt des Adels und des Klerus, politische und religionsphilosophische Streitschriften, aber auch Romane, Räubergeschichten und Erotica, Genres also, von denen sich die offizielle Literaturgeschichtsschreibung lange ferngehalten hat. Die Beiträge dieses Bandes sind jedoch eher an der Produktion, Distribution und Rezeption solcher Texte interessiert, als an ihrer literarhistorischen Dokumentation. Die Quellen- und Forschungslage war hierbei schwierig, Archive der beiden verlegerischen Hauptakteure Vollmer und Hennings sind nicht erhalten; Akten tauchen bestenfalls in Zensur- und Beschlagnahmeverfahren auf; Nachlässe der produktivsten Autoren fehlen; die fingierten Titelblätter vorhandener Exemplare helfen kaum weiter; und von der Rezeptionsforschung ist bisher wenig zutage gefördert worden. 1 Umso willkommener müssen uns Erkundungsunternehmen wie dieses sein.

[4] 

Verbotswidriges Treiben

[5] 

Nach dem instruktiven, 64-seitigen, mit sprechenden Beispielen und Illustrationen versehenen Einführungsartikel »Erkundungen in einem wilden Feld« von Dirk Sangmeister gliedern sich die folgenden Beiträge in zwei Hauptgruppen: »Drucker, Verleger und Buchhändler« sowie »Autoren und Texte«. Die erste Gruppe wird eingeleitet von einer historischen Vermessung der vielgestaltigen thüringischen Medienlandschaft. Werner Greiling (Jena) macht darin deutlich, dass im Schnittpunkt des allgemeinen Verkehrs die Bedingungen für den Transfer heikler Güter besonders günstig waren. Reinhard Wittmann fügt danach die Erfurter Literaturproduktion als wichtigen Baustein in die noch immer lückenhafte Buchhandels-Geschichtsschreibung ein. Dabei wird ihre Bedeutung für die Spätaufklärung überzeugend belegt. Es folgen Einzelbeiträge zu den handelnden Personen, zunächst zu dem Verleger Gottfried Vollmer, der besonders mit seinen radikaldemokratischen Zeitschriften an wechselnden und manchmal erfundenen Standorten, nicht zuletzt im dänischen Altona, die Zensur herausforderte (Holger Böning). Wie der Mainzer Kurfürst die zögerlichen Erfurter Regierungsräte schließlich bestimmte, gegen Vollmer, seinen Drucker Cramer und seinen Herausgeber, den Publizisten Georg Friedrich Rebmann, zu ermitteln und Maßnahmen gegen alle drei zu ergreifen, berichtet Ute Schneider nach einer in Wernigerode aufgefundenen Untersuchungsakte. Über Vollmers Konflikt mit den Zensoren der Bücherkommission am Zentralplatz Leipzig und insgesamt über deren Arbeitsweise und Sanktionsmöglichkeiten (und wie man sie umging) berichtet Katrin Löffler.

[6] 

Darauf folgt die Verlagsgeschichte von Wilhelm Hennings (Thomas Kaminski), einem früheren Mitarbeiter von Heinsius in Gera, danach in Erfurt großzügig etabliert, auf dem Buchmarkt wohlbewandert und zuletzt noch mit einer Niederlassung in Philadelphia – aber eben auch als Verleger heikler Schriften notorisch geworden (Hennings wie Vollmer sind dem Leser auch schon im Beitrag von Reinhard Wittmann begegnet). Constantin Beyer, ein anonymer Autor, in seinen überlieferten Tagebüchern Erfurter Chronist und späterer Käufer von Vollmers Buchhandlung mitsamt Lesezirkel und Leihbücherei, präsentiert sich als wichtiger Zeitzeuge (Felicitas Marwinski). Als gelegentliche Produktionsstätte maskierter Literatur, darunter zahlreicher Erotica, wird schließlich die aus merkantilen Gründen von der Zensur befreite Rudolstädter Hofbuchdruckerei vorgestellt, hier auch mit Proben galanter Kupfer (Claudia Taszus).

[7] 

Angesichts der Diversität dieser Literatur aus Erfurt – von Schads Briefroman aus dem Klosterleben Paradies der Liebe bis zu Rebmanns umstürzlerischem Journal Das neue graue Ungeheuer – kann der zweite Hauptteil des Sammelbands, der sich mit Autoren und Inhalten befasst, nur ein Mosaik aus exemplarischen Einzeluntersuchungen darstellen, und daher auch nur andeutungsweise referiert werden, so berichtenswert viele Archivfunde sind. Das beginnt mit Chr. Ludwig Paalzow, einem Verlagsautor Vollmers, der sowohl als renommierter Jurist unter eigenem Namen veröffentlichte als auch verdeckt als Verfasser religionskritischer Schriften (Martin Mulsow, Gotha). Weiter geht es mit der nach Aktenfunden revidierten, peinlichen Geschichte des Schriftstellers und Redakteurs Peter Adolph Winkopp, dem vorgeblichen Opfer einer »Churfürstlich Mainzischen Gelehrtenjagd« (Wolfgang Griep), und mit den schriftstellernden Mitgliedern der Erfurter Loge und deren aufklärerischen Schriften, die zum Teil bei Hennings erschienen (Hermann Schüttler).

[8] 

Noch bunter wird das Bild, wenn es sich um die Geschicke einzelner Publikationen handelt, etwa des mehrbändigen adelskritischen Romans Die privatisirenden Fürsten bei Hennings, der seinem wahren Autor Johann Conrad Schiede anhaltende Verfolgungen einbrachte (Klaus-Peter Decker). Behandelt werden zwei obskure Kant-Ausgaben bei Vollmer, nämlich eine zweifelhafte Version der Physischen Geographie und die anonyme, Kant nachempfundene Kritik der reinen Unvernunft (Werner Stark), heterodoxe Schriften und ein Klosterroman in Briefen von dem Ordensmann und ketzerischen Philosophen Johann Baptist Schad (Guido Naschert) oder die deutsche Bearbeitung des Faublas, als Schule der Liebe aller philosophischen Intentionen beraubt und dafür durch Eindeutigkeiten bereichert: Ein »pornosophisches Paradoxon« (Ursula Pia Jauch), beides bei Hennings. Unter dem Titel »Die Rache schläft nicht!« beschließt Holger Dainat, sichtlich angeregt von seiner Lektüre, den Reigen mit Einblicken in die wirklich schaurigen, anonym erschienen Erfurter Räuberromane von Albrecht und Arnold.

[9] 

Ein wildes Feld

[10] 

Man sieht, an interessantem Stoff für detaillierte Untersuchungen ist kein Mangel. Unverkennbar ist bei allen Beiträgern aber auch der analytische Blick für die absurde Logik einer heimlich-öffentlichen Literatur und für den Witz ihrer Maskierung. So entsteht eine erfreuliche Balance zwischen gelehrter Archivforschung und scharfsinniger Beobachtung, nicht nur in den einleitenden Beiträgen, aber vor allem dort. Dass die Autoren ihre Arbeit in einem wenig erkundeten »wilden« Feld betrieben haben, wird unter anderem deutlich, wenn man die hier auftretenden Namen und Stichwörter in den Registern von Band 3 der Sozialgeschichte der deutschen Literatur von 1980 sucht: »Jakobinismus« ist die einzige gefundene Antwort.

[11] 

Der positivistische Ansatz, der den besprochenen Band durchzieht, unterscheidet sich wohltuend von voreiligen sozialwissenschaftlichen Spekulationen, aber wie in den meisten Sammelbänden führt er zu Separat-Studien, die dann vor allem im zweiten Hauptteil unverbunden aufeinander folgen und jeweils ihre eigene Zeitrechnung verwenden. Querverweise sind selten. Immerhin erlaubt ein kumulatives Personenregister das vor- und zurückgreifende Nachschlagen. Der operative Leser ist gefordert, er wird durch viele Funde entschädigt. Abbildungen sind unregelmäßig über die Beiträge verteilt, immer aber sinnvoll ausgesucht. So fand Dirk Sangmeister als Vorlage die Dechiffrierung eines Schlüsselromans (»Panalvin – Fürst Potemkin«), handschriftlich nachgetragen in einem Wolfenbütteler Exemplar von J. F. E. Albrechts Roman Panalvin Fürst der Finsternis.

[12] 

Die Erfurter Bestandsaufnahme steckt im Übrigen voller Beispiele für das Funktionieren (und Nicht-Funktionieren) der mit dem »entfesselten« Markt wachsenden Zensur. Sie ermöglicht Einsichten in die verborgenen Wege des Literaturverkehrs zwischen den zahlreichen Kleinstaaten einerseits und mit den Buchhandelszentren andererseits sowie insgesamt in das unruhige politische Klima der »Freyheitsperiode«. Erstaunlich bleibt das Treiben von Verlegern und Buchhändlern, die doch auf ihre Rechtschaffenheit im Verkehr untereinander und im Verkehr mit den Schriftstellern so ausdrücklich Wert legen, und hier wissentlich gegen die Zensurvorschriften der weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten, aber auch gegen die guten Sitten verstoßen, sei es aus eigener politischer Überzeugung, wie Vollmer, oder um den Markt zu bedienen, wie Hennings.

[13] 

Erwiesen ist jedenfalls: Während in Weimar und in Jena die deutsche Hochliteratur weithin sichtbar blühte, fand im nahen Erfurt der Literaturbetrieb eher im »literarischen Souterrain« (Sangmeister) statt. Aber vielleicht waren diese Milieus in ihrer Gleichzeitigkeit und Kleinräumigkeit durchlässiger, als wir denken? Die Rudolstädter Drucker machten jedenfalls bei dem, was sie druckten, keinen Unterschied zwischen den literarischen Klassen, und Wilhelm Hennings verlegte als eines seiner ersten Erfurter Werke, wie der Leser gleich zu Anfang erfährt, Das Kampaner Thal oder über die Unsterblichkeit der Seele von Jean Paul – mit korrekter Titelei.

[14] 

PS. Der Verlag dankt der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung für ihre Unterstützung. Das dürfte, angesichts von Ausstattung und Umfang des Buches, dem Preis zugute gekommen sein.

 
 

Anmerkungen

Eine Doppel-Verlagsbibliographie haben zwei kenntnisreiche Sammler vorgelegt: Franz-Ullrich Jestädt: Verlagsverzeichnis Gottfried Vollmer 1790–1806/Thomas Kaminski: Verlagsverzeichnis Wilhelm Hennings 1797–1806. Erfurt: Ulenspiegel 2011.   zurück