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Wege zu einem 'dritten Raum' zwischen Bild und Text? - Eine Studie zum Verhältnis von Literatur und Fotografie

  • Anne-Kathrin Hillenbach: Literatur und Fotografie. Analysen eines intermedialen Verhältnisses. Bielefeld: transcript 2012. 280 S. zahlreiche Abb. Kartoniert. EUR (D) 33,80.
    ISBN: 978-3-8376-1970-6.
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Ausgangsfragen

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Was geschieht mit einem literarischen Text, sowohl auf struktureller, formaler, semantischer als auch allgemein bedeutungskonstitutiver Ebene, wenn er Fotografien einbezieht? Und was geschieht umgekehrt mit einer Fotografie, »die ihr mediales Spektrum durch die Kombination mit einem literarischen Text erweitert?« 1 Wie ist es möglich, dass beide Medien miteinander interagieren, und wie tragen beide zur Konstitution von (werkimmanenter) Bedeutung bei? Dies sind die wesentlichen Fragen, die Anne-Kathrin Hillenbach mit ihrer Studie zum intermedialen Verhältnis von Literatur und Fotografie in Theorie und Praxis zu beantworten sucht. Dabei geht sie grundsätzlich davon aus, dass das Zusammenspiel beider Medien eine Vervielfachung des Sinnangebots darstellt, in der Weise nämlich, dass das bipolare Spannungsverhältnis zwischen Literatur und Fotografie, in das beide Medien miteinander treten, wo sie einen gemeinsamen Werkzusammenhang bilden, ihren medialen Charakter in stärkerer Weise sichtbar macht. Die durch Konfrontation zweier Medien hervorgebrachte Selbstreflexion von Fotografie und Literatur und die Frage nach der spezifischen Differenz eines Mediums gegenüber anderen ruft darüber hinaus Fragen nach dem »ontologischen Kern« (S. 37) von Medien im Verhältnis zu den historischen Veränderungen ihres Gebrauchs und dem sich aus dieser historischen Wandelbarkeit ableitenden »relativen Konstruktcharakter« (S. 16) der Medien auf den Plan.

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Was ihr theoretisches Fundament und die Auswahl der zu analysierenden Werke angeht, stützt sich Hillenbach auf ein Konzept von Intermedialität, das nicht auf die bloße Thematisierung eines Mediums in anderem medialem Kontext zielt, sondern auf die »Inszenierung eines Fremdmediums in einem Werk (in Form von Imitation, Integration oder wenigstens Kombination)« 2 . Die konzeptionelle Synthetisierung zweier Medien (die gerade nicht mehr erkennen lässt, welches das originäre und welches das ›Fremdmedium‹ ist) ist nun weniger im Werkzusammenhang selbst verortet, als dass sie durch die kognitiven Prozesse der Verarbeitung und der Aneignung durch den Betrachter/Leser erzeugt wird und diesem so neue Dimensionen der Wahrnehmung und Erfahrung ermöglicht. Daher richtet die Verfasserin, wie sie einleitend erklärt, das Augenmerk nicht allein auf die Produktions-, sondern auch auf die Rezeptionsebene jener von ihr untersuchten künstlerischen Hybridformen.

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Eine stärkere Reflexion auf implizite (und möglicherweise individuelle) Strategien der Aneignung solcher Hybridformen erscheint gerade im Kontext einer Untersuchung intermedialer Werkzusammenhänge durchaus relevant; gerade dort, wo der Bildbetrachter in seiner Bild- und der Leser in seiner Textlektüre dadurch verunsichert wird, dass die (verschiedenen) Aussagegehalte von Bild und Text miteinander konfrontiert werden, bedarf es der Selbstreflexion des Lesers/Betrachters.

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Um dies an einem Beispiel zu erläutern, sei auf die von Hillenbach diskutierte Fotoserie Women of Allah verwiesen, die die in den USA lebende iranische Künstlerin Shirin Neshat in den Jahren 1993–1997 (also noch vor dem 11. September 2001) zusammengestellt hat. Anhand dieser Fotoserie verdeutlicht Hillenbach anschaulich das wort- und bildkünstlerische Spiel der Künstlerin mit den Erwartungen des Betrachters (vgl. Kapitel 3.4). Der Künstlerin geht es nach eigener Aussage um die Verunsicherung des westlichen Betrachters hinsichtlich seiner Vorstellungen und Bilder vom Orient und von islamischer Religion, Kultur und fundamentalistisch motiviertem Terrorismus. In den großformatigen, schwarz-weißen Fotoarbeiten, die der Serie Women of Allah zugeordnet sind, zeigt die Künstlerin verschleierte Kriegerinnen, die meist Waffen tragen und ihren Blick auf den Betrachter richten; jene Teile des Bildes, die nicht verschleierte Partien des Körpers zeigen, sind nachträglich mit persischen Schriftzügen versehen, die zunächst ornamentalen Charakters zu sein scheinen. Die Fotografie wird in ihrer Eigenschaft als Projektionsfläche für männliche Phantasien thematisiert und der Konstruktcharakter der Bilder selbst fotografisch inszeniert. Die auf die Fotografien aufgetragene Schrift trägt zur Kodierung der Bilder zusätzlich bei; die Schrift (dem westlichen Betrachter in der Regel nicht entzifferbar) wird zum bildhaften Bestandteil der Fotografie.

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Mit ihren Analysen von Foto-Texten, die die Verfasserin als ein Spiel mit den Möglichkeiten und Grenzen beider Medien begreift, geht es ihr weniger um den Versuch einer trennscharfen Definition des Medienbegriffs, als darum, Funktionsweisen, mediale Strategien und semiotische Formen des jeweiligen Kommunikationsmediums im intermedialen Werkzusammenhang zu beschreiben. Einerseits ist die begriffliche Unschärfe des Medienbegriffs, die auch in dieser Arbeit deutlich wird, ein allgemeines Phänomen innerhalb der Medien- und Kulturwissenschaften. Der von der Verfasserin ihren Analysen intermedialer Werke zugrunde gelegte Medienbegriff spiegelt diese Situation wider, macht sie andererseits aber fruchtbar. Wenn sie ihr eigenes Vorgehen unter Bezugnahme auf das Plädoyer Martin Seels für eine »Theorie der Differenz und des Verhältnisses der unterschiedlichen Medien« 3 erläutert, erweckt sie zwar implizit Erwartungen hinsichtlich einer an der konkreten Untersuchung intermedialer Werke erprobten Bestimmung des Medienbegriffs. Ein expliziter Rückbezug auf den Begriff des Mediums (oder das Konzept der Intermedialität) oder eine Arbeit am Begriff des Mediums erfolgt jedoch nicht. Rückblickend formuliert sie allerdings, es habe sich in ihrer Arbeit ein Verfahren herauskristallisiert, das sich auch zur Erforschung anderer offener Medienkombinationen in Anwendung bringen lasse (vgl. S. 257). Das Verfahren, das sie vorschlägt (wenngleich nicht strikt praktiziert), läuft auf die zunächst getrennte Analyse von Bild und Text anhand der »Möglichkeiten der jeweils passenden Disziplin« (S. 257) heraus, worunter sie die Methode des ›close reading‹ einerseits und der klassischen Verfahren der Fotoanalyse andererseits begreift. In einem zweiten Schritt, so erläutert sie das aus ihrer Sicht modellhafte Verfahren weiter, sollten die Ergebnisse dann zusammengeführt und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Für diesen Schritt schlägt sie einen Kriterien-Katalog vor (vgl. Kapitel 2.11 und 2.12), bestehend aus Leitfragen zur Analyse von Foto-Texten, die sowohl formale als auch funktionale Aspekte berücksichtigen.

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Gegenstand der Untersuchung

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Gegenstand der Studie Hillenbachs sind Werke, die Fotografie und Literatur auf eine Weise miteinander kombinieren, dass beide Medien im Werkzusammenhang materiell präsent sind. Darüber hinaus grenzt sie ihren Gegenstand insofern ein, als sie hauptsächlich Arbeiten untersucht, die nach 1980 erschienen sind. Diese Entscheidung begründet sie damit, dass nach 1980 das theoretische Interesse an der Fotografie stark zugenommen hat (wobei der theoretische ›Boom‹ in dieser Zeit wesentlich mit den Namen Roland Barthes und Susan Sontag verbunden ist). Die Situation, auf die Theorie und Philosophie der Fotografie reagieren, ist die »der rasant anwachsenden Bebilderung der Welt«, in der sich die Frage stellt, »ob nun die Wirklichkeit bebildert wird oder aber die Bilder sich an die Stelle der Wirklichkeit gesetzt haben.« 4 Hillenbach zufolge ist seit den 1980er Jahren auch eine zunehmende Zahl an literarisch-fotografischen Werken zu konstatieren, was sie zunächst auf ein gesteigertes Interesse an der Erinnerungskultur zurückführt, welches wiederum als Reaktion auf das Ende der DDR und den bevorstehenden Tod der letzten Überlebenden des Holocaust aufzufassen sei.

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Mit ihrer Entscheidung, nur Werke untersuchen zu wollen, die nach 1980 erschienen sind, bringt sich die Verfasserin allerdings um interessantes und bedeutendes Quellenmaterial. Gerade die 1970er Jahre zeichnen sich dadurch aus, dass das Experimentieren mit der Fotokamera zu einem allgemeinen Zug der Zeit wird; sowohl bildende Künstler als auch Schriftsteller wenden sich verstärkt dem Medium Fotografie zu, man denke hier etwa an Rolf Dieter Brinkmann, Peter Handke, Jürgen Becker und Jochen Gerz. Der von Hillenbach angesprochene Epochenumbruch von den 1970er zu den 80er Jahren und ihre These von den Auswirkungen des ›theoretischen Booms‹ im Bereich der literarisch-bildkünstlerischen Praxis bleiben also so lange Postulat, wie sie nicht anhand eines eingehenden Vergleichs von Foto-Texten der 1970er und 80er Jahre belegt werden.

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In der Auswahl der zu untersuchenden Werke schreitet die Verfasserin ein recht breites Spektrum der Möglichkeiten einer wechselseitigen Integration von Fotografie und Literatur ab, wenn auch unklar bleibt, welche Gründe nun im Einzelnen für die Wahl eines bestimmten Werkes des entsprechenden Genres sprechen. So teilt sie ihren Gegenstand in fünf Werkgruppen ein; in der ersten untersucht sie fiktionale Texte, die Fotografien integrieren (Sebald und Foer); die zweite Gruppe bilden zwei autobiographische Texte von Monika Maron, die Fotografien auf unterschiedliche Weise einbeziehen. Drittens widmet sie sich dem Genre des Comic, allerdings anhand eines Beispiels, das die Besonderheit aufweist, nicht nur Text und Bild zu kombinieren, sondern sich darüber hinaus des Mediums Fotografie zu bedienen. Von dort leitet sie über zu Werken, die sich durch Integration literarischer Texte in Fotografie auszeichnen; so bildet die vierte Werkgruppe die bereits erwähnte Fotoserie Shirin Neshats, und die fünfte schließlich besteht aus zwei Beispielen von Fotobüchern, die literarische Texte integrieren (Double Game von Sophie Calle und Wisconsin Death Trip von Michael Lesy).

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Mit dieser Auswahl, die die verschiedenen Formen und Funktionen von Foto-Text-Kombinationen in den Blick nimmt, hebt sich die Verfasserin von den bislang vorliegenden Studien zum Thema Literatur und Fotografie ab. Diese allerdings werden – und das ist zu beanstanden – von ihr in Auswahl lediglich genannt, eine Auseinandersetzung mit ihnen findet jedoch kaum statt. Eine Ausnahme bildet hier lediglich der Band Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur (2009) von Silke Horstkotte, auf deren Thesen sich die Verfasserin im Kontext ihrer Bestimmung des Verhältnisses von Literatur, Fotografie und Erinnerung bzw. Erinnerungsdiskurs am Beispiel von Texten W.G. Sebalds und Monika Marons bisweilen stützt. Gerade die Monographie Erwin Koppens über Literatur und Fotografie 5 , mit der sie sich wiederum nicht befasst, ist jedoch nicht nur aus historischer Perspektive auch für die Auseinandersetzung mit aktuellen Foto-Texten bedeutsam, sondern geht überdies systematischen Fragen nach – wie etwa der nach dem Doppelcharakter von Fotografie als Kunst und als Dokument –, die auch von Hillenbach behandelt (in vielen Fällen allerdings lediglich angerissen) werden.

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Paradigmatische Bestimmungen von Literatur und Fotografie und ihre Dekonstruktion

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Das zweite Kapitel der Arbeit widmet sich dem theoretischen framework zur Bestimmung des medialen Verhältnisses von Fotografie und Literatur. Im Grunde verfolgt Hillenbach einen differentialanalytischen Ansatz, indem sie einerseits davon ausgeht, dass Literatur und Fotografie gerade aufgrund ihrer medialen Unterschiede in ein Spannungsverhältnis treten. Andererseits aber bemüht sie sich um den Nachweis, dass die gemeinhin unterstellten Differenzen zwischen Literatur und Fotografie einer genaueren Überprüfung nicht standhalten.

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Um einen vermeintlich wesentlichen Unterschied zwischen Fotografie und Literatur zu markieren, werde Hillenbach zufolge immer wieder auf die visuelle Gleichzeitigkeit des fotografischen Bildes im Gegensatz zum sprachlich strukturierten Nacheinander der Literatur verwiesen (vgl. S. 65). So werde etwa immer noch vielfach – unter Bezug auf Lessings Laokoon-Schrift – davon ausgegangen, dass sich Bilder auf einen Blick erfassen ließen, wohingegen Texte zeitlich sukzessiv erschlossen würden und mehr oder weniger langer Beschreibungen bedürften, um eine Vorstellung des beschriebenen Gegenstandes im Leser zu evozieren. Um diesen vermeintlichen Gegensatz zu entkräften, macht die Verfasserin deutlich, dass auch Lessing weniger von einer simultanen Erfassung des Bildes ausging, als vielmehr von einer Folge einzelner Operationen, die beim Bildbetrachter den Eindruck der simultanen Bildwahrnehmung erwecken. Zugleich zeigt sie, dass auch die Literatur über Darstellungsmittel verfügt, durch die der Eindruck von Simultaneität und Stillstellung der Zeit erzeugt wird. In einem Exkurs widmet sich die Verfasserin Unterschieden und Übereinstimmungen in den kognitiven Prozessen des Lesens und der Bildwahrnehmung (Kapitel 2.5.2) und hebt unter Bezug auf aktuelle Lesetheorien hervor, dass sowohl hinsichtlich des Textes wie des Bildes eine »Trennung von Sehen und Lesen, von Wahrnehmung und Dekodierung nicht möglich ist.« (S. 69)

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Eine »Annäherung von Text und Bild« deutet sich Hillenbach zufolge darüber hinaus in der Debatte um die Konstruktionsverfahren des literarischen Raumes an, die spätestens mit dem sogenannten »spatial turn« an Bedeutung gewinne und mit dem die auf Lessings Laokoon-Schrift zurückgehende Zuordnung des Raumes zum Bild und der Zeit zur Literatur sich als obsolet erweise. Simultaneität und Sukzessivität, so beschließt sie diesen Exkurs, bildeten daher eher Berührungspunkte zwischen Bild und Text, als sie ein scharfes Unterscheidungsmerkmal darstellten (vgl. S. 73). – Das ist zwar durchaus ein interessanter Aspekt, allerdings lässt die Verfasserin offen, was diese Beobachtungen zur Analyse und zum vertieften Verständnis derjenigen Werke, in denen Fotografie und Text auf je eigene Weise kombiniert werden, und der spezifischen Form ihrer Aneignung beitragen können.

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›Erzählen‹ in Literatur und Fotografie

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In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach dem narrativen Potential von Fotografien (vgl. Kapitel 2.6), das gemeinhin, so Hillenbach, der Literatur zu-, der Fotografie eher abgesprochen werde. Dem hält sie entgegen, das Narrative sei nicht allein als ein Merkmal der (erzählenden) Literatur aufzufassen, sondern biete die Möglichkeit einer kategorialen Anwendung ebenso auf Fotografien, jedenfalls sofern man von der Notwendigkeit einer Erzählinstanz absehe und sich auf die Ebene des Erzählten selbst beziehe. Erzähltheoretische Konzepte von ›Handlung‹, ›Figur‹, ›Zeit‹ und ›Raum‹ seien transmedialen Charakters und stellten ebenso Elemente fotografischen Erzählens dar. Unter Rekurs auf einen erweiterten Begriff des Narrativen im Sinne der »grundlegende[n] kognitive[n] Fähigkeit des Menschen, Ereignisse der Lebenswirklichkeit sinnvoll zu organisieren und zu vermitteln« 6 , fragt die Verfasserin danach, wann und auf welche Weise Fotografien ein erzählerisches Potential entfalten können. Sie nennt im Folgenden drei Möglichkeiten dafür: Fotografien können erstens in Sequenzen erzählerisch wirksam werden, sie können zweitens Geschichten evozieren und den Betrachter so zur kontextuellen Narration auffordern (wobei sich das narrative Potential in diesem Fall der Einbildungskraft des Rezipienten verdankt) und sie können drittens – und dieser Fall ist für die vorliegende Arbeit sicherlich am ehesten relevant und wird entsprechend an verschiedenen Beispielen diskutiert – in einen fiktionalen Text und eine übergreifende Narration eingegliedert sein und das Erzählte ergänzen, stören oder auf einer Metaebene reflektieren.

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Die konkreten Überlegungen, die Hillenbach den drei genannten Aspekten widmet, enttäuschen allerdings. Die spezifische Art fotografischen Erzählens in Bildsequenzen, die in Bezug auf den ersten Punkt zu entwickeln wäre, tritt hinter den bloßen Verweis auf ein Textbeispiel zurück, anhand dessen das erzählerische Potential von Bildern anschaulich werde. (Wobei sich in diesem Zusammenhang etwa Fragen nach den Möglichkeiten zur Beschreibung des Verhältnisses von Einzelbild und Bildfolge stellen wie nach der für ein ›Erzählen‹ in Bildern bedeutungskonstitutiven Funktion des Raumes und der Zeit zwischen den einzelnen Bildern.) Die von Hillenbach angeführten Kriterien dafür, auf welche Weise eine Fotografie ihr narratives Potential ausschöpfen kann, bleiben vage und auf das individuelle Empfinden beim Betrachten von Fotografien verwiesen (vgl. S. 78).

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Fiktionalität und Authentizität

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Ein Begriffspaar, dem Hillenbach große Aufmerksamkeit schenkt, weil es die gegenwärtige Diskussion über das mediale Verhältnis von Fotografie und Literatur stark präge, ist das von Fiktionalität, die gemeinhin dem literarischen Werk zugeschrieben werde, und Authentizität, die unserem Alltagsverständnis nach mit der spezifisch fotografischen Referentialität verbunden sei. Auf den amerikanischen Künstler und Kunstkritiker Allan Sekula (und andere fototheoretische Positionen) verweisend, hält sie der Zuschreibung von Authentizität an das Medium Fotografie entgegen, ein starker Bezug zum außermedialen Referenten sei zwar gegeben, aus dem indexikalischen (und fragmentarischen) Charakter der Fotografie jedoch ließe sich die Bedeutung des Abgebildeten nicht erschließen.

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Hinsichtlich des indexikalischen Charakters der Fotografie merkt sie, auf Michel Frizot verweisend und in Auseinandersetzung mit Roland Barthes, an, das Licht (und nicht die Präsenz des abgebildeten Gegenstands selbst) sei die »einzige Realität, zu der die Fotografie einen Zugriff hat« (S. 47). Diese Bemerkung ist allerdings zu korrigieren, denn das Licht, das sich dem lichtempfindlichen Material im Vorgang des Fotografierens einschreibt, wird vom abgebildeten Gegenstand reflektiert, insofern bleibt der Gegenstand auch der außermediale Referent des fotografischen Abbildes. Problematisch sei es, so fährt Hillenbach in ihrer Argumentation fort, der Fotografie nicht nur auf der Ebene der Existenz Authentizität zuzusprechen, sondern auch auf der des Sinns (vgl. S 46). Angemessen sei es dagegen, die Bestimmung des Authentischen mit Bezug auf die Fotografie durch den Begriff der Indexikalität zu ersetzen, da damit (im vor-digitalen Zeitalter jedenfalls) zum einen die unhintergehbare und materielle Beziehung zwischen der Fotografie und dem Referenten gesetzt ist und zum andern nicht zwingend die Vorstellung gegeben ist, es müsse sich mit dem fotografischen Abbild um ein Abbild des Gegenstandes im Modus der Ähnlichkeit handeln.

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Mediale Inszenierungen zwischen Authentizität und Fiktion diskutiert Hillenbach am Beispiel des Fotobuchs Double Game der französischen Künstlerin Sophie Calle (vgl. Kapitel 3.5.1). Calle präsentiert darin nicht nur ihre eigenen Kunstprojekte (die sie fotografisch dokumentiert), sondern reagiert damit auch auf Paul Austers Roman Leviathan, dessen Figur Maria Turner als fiktionales alter ego Sophie Calles entworfen ist. Das Werk der französischen Künstlerin zeichnet sich dadurch aus, dass Text und Bild zu einer unauflösbaren ästhetischen und bedeutungskonstitutiven Einheit verflochten sind (vgl. 212). Auch Realität und Fiktion werden in Double Game aufs engste verflochten; so erscheint etwa Austers Roman als eine Art Drehbuch für die künstlerischen Aktionen Calles, die sie in Text und Bild dokumentiert, sowie für den Entwurf ihrer eigenen Persönlichkeit, die immer auch das Thema ihres künstlerischen Arbeitens ist. Dies wirft Fragen nach dem Doppelcharakter der Fotografien als Dokumenten (von Kunstaktionen) und Erinnerungsstücken einerseits und als künstlerische Artefakte andererseits auf. Der fiktionale Text (Austers Roman) wird also zum Ausgangspunkt für die künstlerische Arbeit, die ein doppeltes Spiel zwischen Realität und Fiktion darstellt und sich dabei Themen wie Selbst- und Fremdbeobachtung und der Durchdringung von privater und öffentlicher Sphäre widmet. Dieses doppelte Spiel, diese »Inszenierung ihrer Selbst als Kunstfigur« (S. 217), findet den formalen Ausdruck in einem Ineinandergreifen von Text und Fotografie, in dem die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit immer wieder aufs Neue in Frage gestellt wird.

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Ein weiteres Beispiel, anhand dessen Hillenbach den Doppelcharakter der Fotografie als Dokument und Kunstobjekt diskutiert, ist die 2003 in Frankreich erschienene Comicreihe Der Fotograf; ein Gemeinschaftsprojekt des Fotografen Didier Lefèvre, der gleichzeitig der Ich-Erzähler der Geschichte ist, des Zeichners Emmanuel Guibert und des Grafikdesigners Frédéric Lemercier. Die Fotografien waren ursprünglich Teil einer Fotoreportage, die eine humanitäre Aktion der Organisation Ärzte ohne Grenzen dokumentiert, die 1986 in Afghanistan durchgeführt wurde; zu einer Zeit also, als sich das Land im Krieg mit der Sowjetunion befand. Lefèvre begleitete das Ärzteteam und wurde so zum Augenzeugen jener Ereignisse, die im Comic zur Darstellung gelangen. Die Elemente des Comics sind gezeichnete Panels, Textpanels, und die im Duktus des Dokumentarischen gehaltenen Fotografien; sie werden als Vergrößerungen oder als Kontaktabzug reproduziert und oft so, dass das Filmmaterial als solches erkennbar bleibt.

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Der Doppelcharakter als Dokument und ästhetisches Objekt, den die Fotografien verkörpern, ist Hillenbach zufolge auch ein Merkmal des Textes, der sich zwischen Sachtext (Reportage) und literarischem Text bewegt (vgl. S. 162). Text und Fotografie treten in ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis: während die Fotografien dem Text Evidenz verleihen (vgl. S. 167) und den Aussagegehalt des Textes bisweilen verstärken, ist der Text in der Lage, die Bildinhalte zu kontextualisieren, ohne sie jedoch auf eine eindeutige Lesart festzulegen (vgl. S. 169). Dennoch sind es nicht die Fotografien, die die Authentizität der Geschichte verbürgen, sondern vielmehr die Paratexte des Comics, denen zu entnehmen ist, dass im Comic zwar eine ›wahre‹ Begebenheit erzählt wird, diese aber zugleich perspektivisch gebrochen wird. Der Fotograf ist daher, wenn man so will, auf verschiedenen Ebenen lesbar; betrachtet man die Fotografien und den begleitenden Text aber als zeithistorische Dokumente, dann zeigt sich Hillenbach zufolge das bemerkenswerte Phänomen, dass nicht die Fotografien dem Text Authentizität und Glaubwürdigkeit verleihen, sondern dass umgekehrt vielfach der Text die Fotografien erst authentisch erscheinen lässt, indem er sie mit einem Kontext versieht (vgl. S. 177).

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Fotografie und Literatur als Medien der Erinnerung

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Die Einbindung von Fotografien in literarische Werke, die das individuelle und kollektive Erinnern thematisieren, liegt schon deshalb nahe, weil die Fotografie dem Gedächtnisbild besonders ähnlich zu sein scheint. Fotografie und Erinnerung bewahren den Moment in bildhafter Gleichzeitigkeit auf, indem sie ihn aus dem zeitlichen Kontinuum herauslösen. Was den allgemeinen Zusammenhang von Medien und Gedächtnis betrifft, so verweist die Verfasserin auf die von Jens Ruchatz markierte Unterscheidung zwischen ›Externalisierung‹ und ›Spur‹ (vgl. S. 59). Als ›Externalisierung‹ wäre die Fotografie als ein »Spiegel mit Gedächtnis« 7 aufzufassen, also ein »gedächtnisförmiges Bildmedium« (S. 59). Als ›Spur‹ hingegen wäre die Fotografie ein direktes »Resultat des vergangenen Geschehens« 8 , also etwas, das Erinnerungsprozesse initiieren kann, aber nicht selbst Gedächtnis ist. Wiederum überrascht es, dass diese Überlegungen ohne systematische Auswertung im Zusammenhang von Hillenbachs Werkanalysen bleiben.

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Dem seit den 1980er Jahren noch deutlich gewachsenen Interesse an Erinnerungs- und Gedächtniskulturen entspreche, so konstatiert die Verfasserin, auch eine wachsende Zahl an Erzähltexten, die Fotografien integrieren. Sie wählt zwei Beispiele, die zwei recht unterschiedliche historische Entwicklungen und Ereignisse literarisch konkretisieren und verarbeiten. Dies ist zum einen W.G. Sebalds 1992 erschienener Erzählband Die Ausgewanderten und zum anderen Jonathan Safran Foers Roman Extremly loud and incredible close aus dem Jahr 2005. Gerade mit Blick auf die literarischen Arbeiten Sebalds wird die Fotografie, die Bestandteil nahezu aller seiner Texte ist, als Medium der Gedächtniskonstitution sowie in ihrem Status als Dokument vergangener Ereignisse problematisiert. Eine Lesart der Texte Sebalds zielt auf die Beobachtung, dass gerade die visuellen Qualitäten der vom Autor ausgewählten Fotografien eine Reflexion auf die Instabilität und »Unschärfe der inneren Vorstellungsbilder im menschlichen Gedächtnis« (S. 105) darstellten. In dieser Unschärfe und betonten Ausschnitthaftigkeit der Bilder zeige sich die Unvollständigkeit und Unverfügbarkeit von Erinnertem. Hillenbach argumentiert gegen diese These mit Blick auf den Erzählband Die Ausgewanderten, indem sie zunächst einmal daran erinnert, dass die Fotografien weniger als Bilder für Erinnerungsprozesse stehen, als vielmehr einen Zugang zu (verschütteten, verdrängten) Erinnerungen ermöglichten (vgl. S. 107). Fotografie sei das Medium, durch das und an das erinnert werde, es weise jedoch nicht eine eigene erzählende oder prozesshafte Struktur auf, weshalb es das literarische Schreiben ist, das den prozesshaften Charakter des Erinnerns eher nachzuahmen imstande sei (vgl. S. 108). Die Fotografien werden im Kontext des literarischen Werkes einerseits in ihrem dokumentarischen Charakter inszeniert und als Strategie der Authentisierung des Geschriebenen herangezogen, wie sie andererseits durch die Einbettung in einen fiktionalen Text in ihrer Authentizität und historischen Objektivität in Frage gestellt werden (vgl. S. 115).

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Am Beispiel des Romans Extremly loud and incredible close diskutiert Hillenbach erneut das Verhältnis von Literatur und Erinnerung beziehungsweise Erinnerungsdiskurs, wobei es hier um die literarische Auseinandersetzung mit den Anschlägen auf das World Trade Center vom 11. September 2001 geht. Die Verfasserin gibt einen Überblick über die recht intensive Diskussion, die dieser Text bei einem breiten Publikum ausgelöst hat, in der es u.a. um ethische Fragen hinsichtlich der Angemessenheit der (literarischen) Darstellung eines solchen Ereignisses geht. In ihrer Argumentation konzentriert sie sich dann aber auf das Problem des Verhältnisses von visueller und literarischer Repräsentation traumatisierender Ereignisse. Traumatische Erfahrungen, so führt Hillenbach aus, werden stärker bildhaft und fragmentarisch ›gespeichert‹ als nicht traumatisierende Erfahrungen. Das Experimentieren mit verschiedenen Formen visueller Darstellung (wie etwa das Einbeziehen von Fotografien, das Spiel mit ungewöhnlichen Typographien bis hin zur Unlesbarkeit des Textes, leere und schwarze Seiten) könne insofern als »ein Beispiel für den adäquaten literarischen Umgang mit traumatischen Ereignissen« (S. 130) gelten, als das ›Traumagedächtnis‹ gerade nicht einer kohärenten, narrativen Struktur folge. »Multimediale, gattungsübergreifende und multiperspektivische Romane machen es möglich, die Kohärenz ihrer Narration [der Narration traumatischer Ereignisse, BC] zu stören und so selbstreflexiv das Scheitern an der Repräsentation ihres Gegenstandes zu thematisieren.« (S. 130)

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Ausblick

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Der heterogene Korpus von Foto-Texten, den Hillenbach in ihrer Arbeit zum Gegenstand macht, erlaubt einerseits durchaus interessante und spannende Einblicke in literarische und bildkünstlerische Genres, in denen sich auch für die Literaturwissenschaft neue Aufgabenfelder eröffnen. Allerdings sollte dann auch der literarisch-ästhetische Kontext, in dem die Arbeiten entstanden sind, stärker mitreflektiert werden, was in Ansätzen auch ein Wissen um spezifisch gattungsästhetische und gattungshistorische Fragen einschließt. Dies scheint unerlässlich, insofern in Werken der Literatur, sofern sie sich der Fotografie bedienen, und der Kunst, sofern sie sich dem (literarischen) Text öffnet, sicherlich unterschiedliche (meist implizite) konzeptionelle Voreinstellungen gegeben sind, was die Auffassung von Literatur einerseits und Fotografie andererseits betrifft. Das Problem wird etwa virulent, wo Hillenbach das Foto-Text-Buch Double Game der französischen Fotografin und Konzeptkünstlerin Sophie Calle diskutiert, deren Arbeiten durchaus Parallelen aufweisen zur Story Art der 1970er Jahre. Damals trat eine ganze Reihe von (v.a. US-amerikanischen) Künstlern mit Foto-Text-Arbeiten auf (unter ihnen etwa Sol Lewitt, Roger Welch, Jean Le Gac und Duane Michals, im deutschsprachigen Raum ist Jochen Gerz in diesem Zusammenhang zu nennen). Sol Lewitt etwa erklärte seinerzeit apodiktisch, wenn er sich in seinen Arbeiten der Sprache bediene, habe das nichts mit Literatur zu tun, sondern entstehe im Kontext der bildkünstlerischen Produktion. 9 Nun mag man noch davon absehen, wie sich ein Künstler selbst und wie er sein Werk begreift, bedeutender dagegen scheint aber die Frage danach, mit welchem Begriff von Literatur in solchen Foto-Texten gespielt wird oder von welchem man sich abgrenzt, und wie die Literaturwissenschaft auf solche näher zu bestimmende Art von Texten zugehen kann. »Foto und Text – im Wechselspiel betrachtet«, so schreibt Margarethe Jochimsen in einem Aufsatz über die Story Art der 1970er Jahre, »schaffen in diesen Text-Foto-Geschichten neue Realitäten, neue Aussagen. Sie bilden in ihrer besonderen Zuordnung ein neues Medium, ein […] Sprachmuster, das nach anderen Maßstäben zu beurteilen ist wie [sic] jedes der beiden Medien für sich genommen.« 10 – Eben dieses Sprachmuster, das von Jochimsen so genannte ›neue Medium‹, das den Raum zwischen Text und Fotografie bezeichnet, sowie das mit dem Foto-Text geschaffene besondere Spannungsverhältnis zwischen Text und Bild gilt es auch von Seiten der Literaturwissenschaft noch stärker in den Blick zu nehmen.

 
 

Anmerkungen

Anne-Kathrin Hillenbach: Literatur und Fotografie. Analysen eines intermedialen Verhältnisses. Bielefeld: Transcript 2012, S. 10. Die eingeklammerten Seitenangaben im Text beziehen sich auf diesen Band.   zurück
Werner Wolf: Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virginia Woolfs »The String Quartet«. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 21 (1996), S. 85–116, hier S. 87 f.; zitiert nach: Anne-Kathrin Hillenbach (Anm. 1), S. 15.   zurück
Martin Seel: Medien der Realität und Realität der Medien. In: Sybille Krämer (Hg.): Medien, Computer, Realität: Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 257; zitiert nach Anne-Kathrin Hillenbach (Anm. 1), S. 18.   zurück
Hubertus von Amelunxen: Von der Theorie der Fotografie 1980–1995. Vorwort zu dem Band: Hubertus von Amelunxen (Hg.): Theorie der Fotografie IV (1980–1995). München 2006, S. 9. Abgedruckt in: Wolfgang Kemp/Hubertus von Amelunxen: Theorie der Fotografie I-IV (1839–1995). München 2006 (vier Bände in einem Band).   zurück
Erwin Koppen: Literatur und Photographie. Über Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung. Stuttgart: Metzler 1987.   zurück
Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen: UTB 2007, S. 9; zitiert nach: Anne-Kathrin Hillenbach (Anm. 1), S. 74.   zurück
Jens Ruchatz: Fotografische Gedächtnisse. Ein Panorama medienwissenschaftlicher Fragestellungen. In: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität. Berlin/New York: de Gruyter 2004, S. 83–105, hier S. 89; zitiert nach Anne-Kathrin Hillenbach (Anm. 1), S. 59.   zurück
Jens Ruchatz (Anm. 6), S. 89; zitiert nach Anne-Kathrin Hillenbach (Anm. 1), S. 59.   zurück
Vgl. Margarethe Jochimsen: Text-Foto-Geschichten. In: Kunstforum International 33 (1979), S. 9–23, hier S. 18.   zurück
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Margarethe Jochimsen (Anm. 10), S. 23.   zurück