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Wenn Halbgötter nicht (mehr) bauen

Literatur nach ’45 im Diskurs des demiurgischen Humanismus

  • Sarah Pogoda: Demiurgen in der Krise. Architektenfiguren in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Berlin: Ripperger & Kremers Verlag 2013. 352 S. Kartoniert. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 978-3-943999-00-6.
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Baumeister allesamt figurieren als die problematischen Helden in Sarah Pogodas Studie zur Gegenwartsliteratur seit der Nachkriegszeit. Drei verschiedene Textkreise und Phasen werden darin zusammengebunden: Architektenfiguren unmittelbar nach 1945 in Westdeutschland, ebensolche aus den mittleren Jahren der DDR-Literatur sowie zwei Vertreter des späteren, womöglich postmodernen Stadiums in der Variationsreihe einer diskursiven Konstante. Unter der Metapher des Demiurgen – hergeleitet über zentrale Stationen wie Platon und Goethe – , entlang der Krisen dieses Leitbildes im Verlauf des 20. Jahrhunderts zielt die Dissertation nicht zuletzt darauf, ein Kapitel zur modernen Kulturgeschichte der technischen Disposition beizusteuern. Infrage steht somit die »menschliche Macht zum Machen« (S. 16) am überaus geeigneten Beispiel des Baukünstlers. Die genannte nur scheinbar tautologische Wendung ist angelehnt an Peter Sloterdijk; der liefert auch jene Formulierung, deren Konzept die Auswahl der literarischen Gegenstände legitimiert und das Korpus insgesamt durchquert.

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Das Wort vom »demiurgischen Humanismus« fällt in Sloterdijks Essay »Die wahre Irrlehre. Über die Weltreligion der Weltlosigkeit«. 1 Doch macht sich Pogoda den Begriff gleich in zweierlei Hinsicht zu eigen: Sie bezeichnet damit erstens die Modernisierung vom Halbgott als Baumeister zum schöpferischen Subjekt insbesondere der Architektur: »[…] selbstmächtig die Welt zu planen, zu projektieren, zu entwerfen und tätig einzurichten«, worin alsdann der Mensch sowohl »im buchstäblichen als auch im übertragenen Sinne wohnen sollte […]«(S. 17). Zweitens spitzt die humanistische Komponente ebenso Konfliktlagen zu, in denen sich die Figur des Architekten im jeweiligen Kontext von Nachkriegsdeutschland und DDR befindet. An der krisenhaften Rolle des Welten- beziehungsweise Städtebauers lagern sich weitere Diskurse oder Debatten an: um kollektive versus individuelle Schuld in den Trümmern des Krieges (1. Kapitel), um Zukunftsgestaltung und Gesellschaftsideal beim Aufbau des Sozialismus (2. Kapitel); als anschließbar erweisen sich sogar die beiden Künstlerromane (3. Kapitel).

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Ethos, Mythos, (historische) Realität

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Moralische Skrupel plagen den Protagonisten in Peter de Mendelssohns fragmentarischem Roman Die Kathedrale, entstanden 1948. Torstensons Sakralbauweise vermittelt ihm die Selbsterkenntnis, dass er für NS-Ideologie empfänglich gewesen wäre. Mit der Schuldfrage beschäftigen sich gleichermaßen Es wächst schon Gras darüber (1947) des Schriftstellers Walther von Hollander sowie bekannter Heinrich Bölls Billard um halb zehn (1959). Im Fazit legt Pogoda zum einen Wert darauf, dass die in den literarischen Darstellungen durchweg stark ausgeprägte Dimension der Ethik in der Baupraxis und der architektonischen Ästhetik des realen Nachkriegsdeutschlands auffällig abwesend geblieben ist. Zum anderen führt das Kapitel den sich fortsetzenden Typus des ›Anti-Architekten‹ ein: Statt zu bauen, weichen jene Hauptgestalten darauf aus, aufzuräumen, zu trauern oder gar Bauten zu sprengen.

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Ein Punkt, der in der Arbeit nicht vorkommt, schlägt den Bogen zum zweiten Kapitel. Wie das Nachkriegsszenario legt nun das sozialistische »Aufbaunarrativ« (S. 207) die Alternative nahe, ob man weiter so bauen soll wie bisher – die Stalinallee als ›Straße des Weltfriedens‹ in Stefan Heyms Die Architekten, das utopisch-urbane Projekt mit dem Ortsnamen ›Neustadt‹ in Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand – oder ob die geschichts- und zukunftsbezogenen Entscheidungen ganz anders getroffen werden müssen. Dass somit die zeitliche wie räumliche Differenz von Kontinuität und Diskontinuität ins Erzählzentrum rückt, gründet in dem Profil architektonischer Medialität; Geschichtlichkeit und Utopie als zwei Seiten einer Medaille. Hinzu kommen die gefährdeten Genealogien: Bölls gebrochene Architekten-Dynastie der Fähmels, gestörte Bindungen zwischen Mentoren und Schülern hüben wie drüben.

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Eine lohnende Herausforderung stellt Pogoda, indem sie eine dritte Text-Gruppe aufmacht: die intertextuell verwandten Künstlerromane Piranesis Traum (1992) von Gerhard Köpf und Christoph Geisers Die Baumeister. Eine Fiktion (1998). Einerseits wird durchschaubar, wie die Figur des ›verhinderten‹ Architekten, alias ›Piranesi‹, demiurgische Allmacht entweder reproduziert oder geradezu konterkariert. Andererseits haben sich historische Scheidewege anscheinend verflüchtigt, zugunsten einer vermeintlich literaturinternen, jedoch baulich nicht minder relevanten Angelegenheit wie wirkmächtiger, souveräner Autorschaft. Die Abkehr vom Geschichtlichen und Hinwendung zu Intertextualität und Fiktionalität kann zweifellos als Epochen-Kennzeichen der Postmoderne verbucht werden, was implizit geschieht. Ferner gibt es eine latente Möglichkeit, Köpf und Geiser mit dem Vorherigen zu verknüpfen.

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Man spricht aus, was in den Piranesi-Interpretationen angelegt ist, bezeichnet man nicht den Autor selbst, aber dessen Demiurgen-Rolle als ›Mythos‹, welcher durch narrative Strategien dekonstruiert wird: bei Köpf übernimmt dies, Pogoda zufolge, die imaginäre Entgrenzung des piranesischen Kerkers, bei Geiser die Polyphonie wie auch der Moment zum Schluss, in dem der Bau- den Text-Urheber tötet: Mit dieser Tat wird die Fiktion keineswegs verlassen, aber punktiert. Das Reale kehrt gleichsam wieder, obwohl es in Gestalt von Geschichte ausgespart wird. Beide Romane vollziehen eine Bewegung, die sich übertragen ließe: Das Diskursgebilde mit seinen mythischen Zügen – Autor, Stalinismus, Kollektivschuld – wird über Architektur zunächst rekonstruiert, um es dann einer ethischen oder ästhetischen Kritik zu unterziehen. Architektenfiguren oszillieren medial bedingt zwischen Allgewalt und Verschwinden.

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Fazit: Architektur als Stellvertreterdiskurs,
Architekten als Krisenfiguren

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Diskursgeschichtlich leistet die Untersuchung das, was sie sich vornimmt, in gründlicher Weise: Lesbar wird an den gezielt ausgewählten Baumeister-Figurationen »[…] das ambivalente Verhältnis von Macht und Ohnmacht in und gegenüber der Geschichte, indem ästhetische, philosophische, gesellschaftstheoretische sowie ideengeschichtliche Vorstellungen aus dem Standardrepertoire intellektueller Diskussion ihrer Zeit aufgegriffen werden […]«(S. 25). Dabei erschöpfen sich die kontextuellen Bezüge nicht in den bisher genannten. So berührt das Nachkriegs-Kapitel unter anderem die Exildebatte, das DDR-Kapitel zeigt ein demiurgisches Agieren der Staatsvertreter auf, in Kontrast und Korrespondenz zur literarisierten architektonischen Rolle. In solchen Zusammenhängen findet sich mehrfach die Bestimmung der Bautätigkeiten als ›Stellvertreterdiskurs‹ für historisch wechselnde Problematisierungen von Planen, Errichten und Bewohnen in ihren politischen, kulturellen sowie literaturgeschichtlichen Implikationen, womit die vorwiegenden Ziele und Resultate Pogodas auf den Punkt gebracht sind.

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Textanalytisch verfährt die Arbeit ebenso gewissenhaft und umsichtig. Besonders jene etwas abseits vom Kanon gelegenen Werke werden ausgiebig vorgestellt. Allerdings geraten Fragen der Form oder der Schreibweise nur in einigen Fällen näher in den Blick: anlässlich der postmodernen Romane, narratologische Aspekte zu Franziska Linkerhand und gattungspoetische Überlegungen zur Komödie Heinrich Schlaghands Höllenfahrt von Rainer Kirsch. Daraus ergeben sich nicht zuletzt weiterführende mythenkritische Einsichten. Vielleicht hätten die ästhetisch weniger komplex gebauten Erzähltexte etwa im ersten Kapitel davon profitiert, wenn (inter-)mediale Unterscheidungen in ihre Auslegung mit eingegangen wären. Doch mag diese mögliche Maßnahme von der diskursiven Herangehensweise und damit vom Verdienst, das Pogodas Erforschung der Architektengestalt nach 1945 erwirbt, abführen. Nicht nur aus Epocheninteresse sollte man Demiurgen in der Krise zur Kenntnis nehmen, sondern auch im Hinblick auf grundlegende Themen im aktuellen Feld ›Literatur und Architektur‹.

 
 

Anmerkungen

Peter Sloterdijk: Die wahre Irrlehre. Über die Weltreligion der Weltlosigkeit. In: P.S. / Thomas Macho (Hg.): Weltrevolution der Seele. Ein Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis von der Spätantike bis zur Gegenwart. Bd. 1. Zürich: Artemis & Winkler 1991, 17–54, hier S. 53.   zurück