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Die Performance der Prosa

Mit Heine vom deutschen Idealismus in die hebräische Moderne

  • Na'ama Rokem: Prosaic Conditions. Heinrich Heine and the Spaces of Zionist Literature. Evanston, Illinois: Northwestern University Press 2013. 248 S. Paperback. USD 55,00.
    ISBN: 978-0-8101-2867-5.
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Die Idee der Prosa

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Die römische Göttin Prorsa ist eine merkwürdige Gestalt. Einerseits wurde sie von gebärenden Frauen angerufen, die sich eine sichere Geburt wünschten. Sie steht also für das Neue, das in die Welt kommt. Andererseits wird ihr als Vorauswissende auch Macht über die Vergangenheit zugesprochen. Die reichhaltige Begriffsgeschichte der Prosa enthält noch diese beiden zunächst gegensätzlich scheinenden Elemente. Die »gedächtnisstiftende Herrschaft der Prosa über die geschichtliche Vergangenheit« 1 ist die Form, in der die Historie dem gegenwärtigen Bewusstsein vermittelt wird. Als »Text, der nüchtern, schlicht und geradaushin zu lauten hat, wie jedes Lexikon uns belehrt«, 2 gilt die Prosa der Moderne aber allgemein auch als Medium, in dem sich immer erneuernde Gegenwart artikuliert. Sie ist die kalte Sprache einer ökonomisch und technisch verfassten Welt. Die Poesie dagegen impliziert Zeitlosigkeit, Natur, Authentizität und Gefühl. Während schon Goethe in einem Schema der »Geistesepochen« von 1817 einer verbreiteten Vorstellung folgend die »Poesie« älterer Zeit dem »Volksglauben« und der »Einbildungskraft« zuordnet, hingegen die »Prosa« der Gegenwart mit »Auflösung im Alltäglichen« und gemeiner »Sinnlichkeit« gleichsetzt, 3 liefert schließlich Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, die er zwischen 1817/19 und 1828/29 mehrmals hält, den klassischen Topos jeglicher geschichtsphilosophischer Wendung des Begriffs der Prosa. 4 Als »gegenwärtige prosaische Zustände« fasst Hegel die bürgerliche Ordnung. Der Mensch der »Heroenzeit«, der »noch frei wirkt, d. h. nach seiner individuellen Willkür ist, was er ist, und tut, was er tut« 5 sei darin in seiner Autonomie und Wirkung eingeschränkt worden durch die von ihm unabhängige und ihn stets von vorneherein bestimmende Wirklichkeit einer hochgradig partikularisierenden und ausdifferenzierten Gesellschaftsordnung.

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Die zu besprechende Studie entlehnt ihren Titel diesen Bestimmungen Hegels. Na’ama Rokem, Assistant Professor für moderne Hebräische Literatur an der Universität Chicago, verfolgt die Idee der Prosa mit ihrem ganzen Bedeutungsfächer ausgehend von Hegel anhand einer eng gefassten literatur- und geistesgeschichtlichen Linie, der bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, nämlich der Verbindung von deutschem Idealismus und jüdischer beziehungsweise hebräischer Literatur (S. 154). Die auratische Qualität des Begriffs der Prosa ist dabei gleichzeitig die Stärke von Rokems ausgesprochen pointiert formuliertem Buch – und Ansatzpunkt für Kritik, die ich weiter unten formulieren möchte. Bestechend ist zunächst der Gedanke, dass ausgerechnet das Projekt des Zionismus von einer Reflexion über das Prosaische ausgehen musste, denn die oft vitalistischer Rhetorik verbundenen Anfänge der zionistischen Bewegung setzen sich ja gerade von der Abstraktion des Judentums als Konfession (eines gleichsam prosaischen Judentums) ab und verlangen nach Boden, frischem Blut oder mindestens nach einer anderen Sprache für den neuen Juden. Texte, die irgendwie als ›jüdische Literatur‹ klassifiziert werden, müssen also, wie Rokem schreibt, oft in einem größeren Kontext von Transformationen jüdischer Räume in der Moderne gelesen werden. Zudem stellt sich die für die jüdische Geistesgeschichte grundsätzliche Frage, »how modern Jewish authors not only react to, but also participate in the formative discourses of modernity, in this case, the larger drama of on ongoing emergence of prose and the world of prose.« (S. 154).

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Prosa und Performanz

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Der Autorin geht es darum, eine spezifisch jüdische – und mithin zionistische – Idee der Prosa zu verfolgen (wobei sich dem Rezensenten die Frage aufdrängt, inwiefern diese modellhaft für andere sich formierende Nationalliteraturen stehen könnte). Ihr Interesse richtet sich besonders auf das Verhältnis von Text (Prosa) und Wirklichkeitssetzung im Raum. Sie setzt der Prosa also nicht die Poesie, sondern den Begriff der performance gegenüber. Ausgesprochen sinnvoll erscheint, dass für diese theoretische Entscheidung kein langatmiges begriffsgeschichtliches Referat angeführt, sondern durch eine eindrückliche Analogie plausibilisiert wird, die zudem Heinrich Heine als Schlüsselautor der Studie ins Spiel bringt.

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In der Einleitung werden die von Waldemar Grzimek zu Heines 100. Todestag 1956 geschaffene Berliner Heine-Statue und Micha Ullmans zur Erinnerung an die Bücherverbrennungen vom Mai 1933 auf dem Berliner Bebelplatz 1995 errichtetes Denkmal gegenüber gestellt. Ullmans Installation (eine untergründige Bibliothek ohne Bücher) sei nicht nur ein Holocaust-Memorial, sondern auch ein Heine-Denkmal, denn die dort zu lesende Inschrift, dass »wo man Bücher verbrennt«, man »am Ende auch Menschen« verbrennen würde, stamme schließlich von Heine, wenn die Worte auch aus Heines ursprünglichen Kontext (der Tragödie Almansor, 1822) gerissen wurden: »And rather than invoking Heine […] this monument performs the operation of severing a piece of its language from its context, showing that the location in itself has a power to transform the text.« (xii). Grzimeks Heine-Denkmal dagegen zeige den Dichter als sprechenden und gestikulierenden Menschen, der seinen Worten unmittelbare körperliche Präsenz verleiht und nur in der gegenwärtigen Situation verstanden werden kann. Die beiden Monumente stehen bei Rokem allegorisch für zwei Begriffe von Literatur. Die Statue des Dichters zeige an, dass die Bedeutung der Literatur/des Textes – und in diesem Fall wäre mit Text vor allem ein lyrisches Gedicht gemeint – nur über ihre Performativität, nämlich ihre unmittelbare Wirkung und ihren Kontext, entsteht. Der zweite Fall wird von Ullmans Installation symbolisiert. Er unterläuft das präsentische Verständnis von Literatur/Text und funktioniere gerade über die Absenz eines Körpers der Performanz beziehungsweise konstruiere in der Abstraktion vom Kontext einen jeweils eigenen Raum »against the space of performance« (xii). Dieses zweite Verständnis von Literatur/Text sei prototypisch in der Idee der Prosa angelegt. Obwohl diese Gegenüberstellung einleuchtend ist, sei doch ein leichtes Unbehagen festgehalten: Leider geht die Autorin nämlich nicht auf die Geschichte von Grzimeks Heine-Denkmal ein, das als offizielles Auftragswerk den ideologischen Ansprüchen der DDR-Führung nicht entsprach und nach längerer Kontroverse schließlich abseits im Park am Weinbergsweg aufgestellt wurde. Erst nach der Wende wurde es dann in einem Abguss am ursprünglich vorgesehenen Standort am Kastanienwäldchen in Berlin-Mitte platziert. Auch die Heine-Statue ist also nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt als Gegenstand ideologischer Instrumentalisierung und innerhalb eines politisch eingefassten geographischen Raums zu verstehen. Trotz dieses Einwandes ist natürlich die Opposition zwischen dem Bild des sprechenden Autors (performance) und der abstrakt einsetzbaren Schrift (Prosa) plausibel genug, um damit zwei sprachliche Operationen zu kennzeichnen. Diese fasst Rokem nicht als sich ausschließende, quasi metaphysische Entitäten, sondern als idealtypische und nie rein existierende Pole eines Schemas, in dem sich Texte bewegen. Der Gegensatz, mit dem Prosaic Conditions operiert, liegt also zwischen »performance as a type of utterance that occurs within a context of copresence« und »non-performed discourses (prototypically prose) that operate without such contextual scaffolding.« (xvii).

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Mit diesem Modell im Hintergrund werden nun die pragmatischen Bedingungen untersucht, mit denen Texte mit anderen Texten in Verbindung stehen und wie sie in der politischen Agenda wirksam werden. Für die Prosa gilt, dass sie anders als die Performance deiktische Elemente (etwa die Pronomen »du«, »sie«, »er« etc.) unabhängig von konkreten Realitäten verwenden kann und somit den deiktischen Kontext in sich selbst konstruieren muss beziehungsweise die Deixis anaphorisch operieren lässt, »that is to point back within the discourse rather than pointing at an object present in a given context« (xvii). Das Narrativ, das in vorliegendem Buch entfaltet wird, geht von den sich verändernden pragmatischen Bedingungen jüdischen Schreibens aus. Denn wenn Judentum in der Moderne vielleicht immer als gewissermaßen primär literarische Existenz verstanden wird, in der Texte die Wirklichkeit erschaffen und nicht umgekehrt, dann muss gerade die Idee der Prosa, die die Möglichkeiten zur Übersetzung, zur Abstraktion und zur Remedialisierung in sich trägt, eine besondere Herausforderung jüdischen Schreibens sein: »As Jewish spaces are transformed, so are the pragmatic conditions within which Jewish texts operate and the result is a literary tradition constantly obsessed with articulating and pointing out its contextual conditions.« (xviii-xix). Rokem geht dieser literarischen Tradition in verschiedenen Lektüren nach. Sie untersucht in einer weit ausgreifenden Bewegung, die jedoch sehr eindrücklich und genau immer wieder auf Details insistiert, Texte zwischen Deutschland und Palästina/Israel, zwischen dem 19. und dem beginnenden 21. Jahrhundert, zwischen Deutsch und Hebräisch, von Heinrich Heine, Theodor Herzl, Chaim Nahman Bialik, Yoel Hoffmann und Chaim Be’er.

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Hegel, Heine, Herzl

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Das erste Kapitel geht sehr behutsam Hegels Figuration des Prosaischen als Gegenwärtigem nach, das einer unwiderruflichen, mythischen Vergangenheit dialektisch entgegengestellt ist. Für Hegel bedeutet das Prosaische einen historischen Prozess, in dem die Kunst sukzessive vom »Symbolischen« (Hegels Paradigma dafür wäre Architektur) zum »Klassischen« (Skulptur) und »Romantischen« (Malerei, Musik, Poesie) übergeht. Prosa als ästhetisches Paradigma bedeutet also eine Serie von medialen Anfängen und Übergängen, aus denen sich die moderne Welt und die moderne Ästhetik entwickeln. Während das Symbolische noch mit konkreten Räumen verbunden ist, liegt in den so genannten romantischen Formen der Kunst bereits ein hoher Abstraktionsgrad vor. Die ›Prosaifizierung‹ der Welt bedeutet also eine zunehmende Abstraktion der Wahrnehmung, die Abstraktionsbewegung einer Welt der Götter hin zum Monotheismus, eine Abstraktion von individuell und unmittelbar erfahrener Raum und Zeit hin zu einem Prinzip rationaler und rein intelligibler Vermittlung.

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Die prosaische Welt ist eine Welt der Begrenztheit und Abhängigkeiten. Die Notwendigkeit der Kunst liege gemäß Rokem für Hegel darin, diese Defizienz zu korrigieren, indem sie in verschiedene Medien übersetzt werde. »At the same time, art is defined by the series of remediations […] that repeatedly redefine the spatial context and the pragmatic conditions within which art operates. In effect, Hegel here is arguing that in the process by which art takes up and abstracts space, it institutes what today would be called a series of ›signifying practices.‹« (S. 13).

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In der Nachfolge Hegels tritt nun Heine als Figur auf, die am eindrücklichsten mit den ›prosaischen Zuständen‹ gekämpft hat, ja der den »Weltriß« zum Ausgangspunkt des Schreibens überhaupt genommen hat 6 und bei dem (und in dessen Rezeption) die Serie von »signifying practices« paradigmatisch vorgeführt werden kann. Für jüdische Leserinnen und Leser war/ist Heine zusätzlich eine Reflexionsfigur, über die das eigene Verhältnis zur prosaischen Moderne bestimmt wurde/wird.

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Rokems etwas knappe Lektüren kanonischer Texte aus Heines Buch der Lieder als Äußerungen eines heimatlosen (weil: jüdischen) Dichters sind nicht originell (sie gehen hauptsächlich auf Theodor W. Adornos und Hannah Arendts klassische Essays zurück), doch ihre Verortung der »world of prose in the poem« (S. 28) bei Heine ist präzise: Die ironische Distanzierung, mit der Heine im Frühwerk die romantische Poesie durchkreuzt und aufhebt, ist lesbar als ambivalente Strategie, mit der sich die Poesie angesichts ihrer Unmöglichkeit noch schreiben lässt. In dieser Strategie enthalten ist eine Thematisierung der Situiertheit des Textes, des Ichs und des Adressaten. Heines Gedichte verhandeln nach Rokem konstant Prozesse der Abstraktion. Dem gegenüber ist es logisch, dass man umgekehrt auch Heines Prosa als Auseinandersetzung mit der Möglichkeit der Poesie lesen muss.

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Die kontroverse und aggressive Polemik gegen Platen in den Bädern von Lucca (als Teil der Reisebilder, 1829) ist zunächst gegen die reaktionären Kräfte des Papismus, der Aristokratie und eines konservativen Neo-Klassizismus gerichtet. Doch wie Rokem zurecht bemerkt, sind gerade die Reisebilder auch eine Erkundung der Möglichkeiten der Prosa in einer prosaischen Welt, wobei gerade kein »poetic counterpicture« (S. 34) entstehen soll: »Heine’s Dichter [der Ich-Erzähler, CB] speaks in a voice that addresses itself directly to the current conditions and adopts their prosaic terms« (S. 34/35). Platen erscheint bei Heine als Buhmann, der mit Poesie versucht, auf die prosaische Wirklichkeit zu antworten und sich somit naiv zum Komplizen einer ökonomischen und politischen Bedingtheit macht, anstatt sie zu reflektieren. Auch die komischen jüdischen Figuren Gumpelino und Hirsch-Hyazinth sind Gefangene dieser Verhältnisse, wenn sie das Prosaische, Prätentiöse und Formalistische von Platens Poesie in ihrem übersteigerten Assimilierungswillen nicht erkennen und es sogar zum eigentlichen Zeichen des Poetischen erklären. Doch Heine gehe es nicht darum, den modernen Verlust von Unmittelbarkeit zu beklagen oder gar aufzufüllen: »[…] Heine is interested not so much in the question of how he might reproduce or compensate for a space of performance in his written prose, but in how he might make the gap between a performance-based discourse and prose visible« (S. 40).

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Rokem kann zeigen, dass bei Heine die Bewegung zwischen Performance und Prosa mit einer Loslösung des Textes vom konkreten Raum und von festen Personenzuschreibungen einhergeht. Ideen: Das Buch Le Grand (1827) wurde schon mehrfach als Chiffrierung jüdischer Identität gelesen. 7 Doch in diesem Text sei eine viel weitergehende »trope of distance« am Werk. Die Identitäten der Adressatin, die in rätselhaften Apostrophen dauernd angesprochen, aber nie benannt wird, und des sich dauernd maskierenden Ichs (»Madame! ich habe Sie belogen. Ich bin nicht der Graf vom Ganges. […] Aber ich stamme aus Hindostan […].« 8 ) sind nämlich brüchig und keinen realen Personen zuzuordnen. Rokems Einsicht in Heines Poetologie, dass nämlich hier die Bedingungen verhandelt werden, mit denen nach der Möglichkeit der Referenzialität literarischer Rede überhaupt – und damit quasi nach der Performance der Prosa – gefragt wird, ist grundlegend für jede weitere Beschäftigung mit Heines Prosa.

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Den folgenden Kapiteln gehen auf der einen Seite den merkwürdigen Aneignungen Heines in der sich formierenden hebräischen Literatur zum Beginn des 20. Jahrhunderts nach. Bei Bialik erscheint Heine etwa als eine Art verlorener Sohn oder Gefangener der deutschen Sprache – und Übersetzungen Heines ins Hebräische auch als »restoration of the text to the language to which the text truly belongs.« (S. 56). Nichtsdestotrotz stellte Heines Werk eine Grundlage dar, auf der Autoren, Übersetzer und Kritiker den Status der jungen hebräischen Literatur gegenüber der europäischen Literatur diskutierten, zunächst noch in Europa und dann im britischen Mandatsgebiet Palästina und im Staat Israel. Anderseits widmet sich Rokem ausführlich und eindringlich Herzls Heine-Rezeption. Für Herzl bedeute »Heine« erstens (in Anspielung an Shulamit Volkovs Beschreibung des Antisemitismus als kulturellen Code) ein Codewort: »a recognizable point of reference that functions to denote a cultural ambivalence and to position the author in relation to it.« (S. 67). Zweitens aber stellen Heines Texte für Herzl ein »poetic model for his negotiation of space« (S. 69) dar. Diese Verhandlungen des Raums verfolgt Rokem in selten gelesenen Dramen Herzls, in nur archivalisch aufbewahrten Texten und in seinem Roman Altneuland (1902), wo Heines Hebräische Melodien während der Beschreibung des in Jerusalem neu aufgebauten »Tempels« auftauchen. Dabei kann sie aufzeigen, dass sich Herzl von Heines Prosamodell, wie es die Reisebilder vorgeben, entfernt, um die »Prosafähigkeit« des Judentums in einem zionistischen Plan aufzuzeigen beziehungsweise um das Genre des realistischen Romans in den Dienst der zionistischen Politik der Etablierung eines jüdischen Territoriums zu stellen. Den wiederholten Einsatz der Technik und moderner Medien in Altneuland liest Rokem überzeugend als Substitutionen der Performance: So besteht ein beträchtlicher Teil des Romans in einer vom Grammophon abgespielten Rede eines Ingenieurs. Diese beschreibende, den Raum strukturierende und ergreifende, körperlose und mediale Stimme »is the core of Herzl’s prose, and its ultimate raison d’être.« (S. 94).

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Von Kishinev nach Jerusalem nach Berlin

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Die beiden letzten Kapitel des Buches sind der hebräischen Literatur gewidmet. Es geht um Texte des klassischen Nationaldichters Bialiks, die in Europa entstanden sind, um die hebräische Heine-Rezeption und schließlich um zwei Romane zeitgenössischer israelischer Autoren.

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Im April 1903 wurden in Kishinev (dem heutigen Chisinau, Moldawien) 45 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet und Dutzende vergewaltigt und schwer verletzt. Das Pogrom hatte eine Schockwirkung auf jüdische Intellektuelle in ganz Europa. Unter anderen der zionistische Denker Ahad Ha’am und der Historiker Simon Dubnow, die große Hoffnungen auf eine jüdische kulturelle Erneuerung in Russland hegten, gründeten ein Komitee, das den Schriftsteller Bialik nach Kishinev schickte, um die Ereignisse zu dokumentieren und mit einer Publikation Juden zukünftig zur Selbstverteidigung anzuregen. Bialik führte Interviews mit Überlebenden, veröffentlichte jedoch keinen dokumentarischen Bericht, sondern ein episches Poem mit dem Titel In der Stadt des Schlachtens (b’ Ir ha Hareiga), das bis heute zu den kanonischen Werken der hebräischen Literatur zählt. Rokem fragt danach, wie der nicht geschriebene Prosa-Report dennoch im Gedicht enthalten sei. Anstatt den Opfern eine Stimme zu verleihen, installiert Bialik einen komplizierten Dialog zwischen zwei Akteuren, die beide nicht Teil des Ereignisses waren, nämlich dem abwesenden Gott, der sich als Sprecher des Gedichts entpuppt, und dem von ihm nach Kishinev gesandten Propheten. Das führt zu der These, dass die Beschreibungen des Gedichts vom Raum abstrahieren, das heißt radikal der Performance entzogen seien. Bialiks Schilderung der Gewalt will nicht nur schockieren, sondern die Möglichkeiten eines Textes befragen, in einem bestimmten Raum zu sprechen, indem der Text seinen eigenen Raum etabliert: »this poem is decidedly prosaic« (S. 116).

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Auch wenn es sich um vollkommen unterschiedliche Texte handelt, so haben doch Herzls langatmiger und schablonenartiger Roman und Bialiks epochales Gedicht die »challenge of groundlessness« (S. 119) gemeinsam, die Unsicherheit ihrer pragmatischen Bedingungen, die jeweils unterschiedlich selbstbezüglich thematisiert werden. Das letzte Kapitel geht der Frage nach, ob diese Herausforderung auch noch für die Literatur, die in Palästina/ Israel entsteht, von Belang ist. Als Beispiel wird Chaim Gouris in den Kämpfen von 1948 entstandenes Gedicht Hier liegen unsere Körper (Hineh mutalot gufetenu) genannt. Jenes »Hier« des Titels sei das konkrete und im Krieg umkämpfte Territorium, das auch für die Literatur einen veränderten Grund/Raum anzeige, von dem ihr Sprechen ausgeht (S. 141). Doch das Selbstverständnis des Hier wird durch territoriale Konflikte unsicher. Rokem zeigt, wie die Figur Heines für die Selbstverortung der hebräischen Literatur in dieser konstant unsicheren politischen Situation kurz vor und nach 1948 von zentraler, wenn auch kontrovers debattierter Bedeutung ist.

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Die entscheidende Bedeutung Heines sieht Rokem auch noch in Hofmanns typographisch und narrativ alle Möglichkeiten der Prosa auslotendem Roman Bernhard (1989), in dem anhand eines aus Deutschland emigrierten Philosophieprofessors in Jerusalem während des Zweiten Weltkriegs ein subtiles Spiel mit dem linguistischen Raum zwischen Deutsch und Hebräisch entfaltet wird, um damit auf das Erbe der deutschen Literatur in der hebräischen hinzuweisen. Indem eine Figur des Romans Heines berühmtes Gedicht »Ein Fichtenbaum steht einsam« (XXXI im Lyrischen Intermezzo) in der hebräischen Übersetzung zitiert, zeige Hoffmann nicht nur die Schwierigkeiten der Übersetzung, sondern die noch viel größere Schwierigkeit, dass nämlich die Figuren tatsächlich übersetzt, d.h. sich nun anstelle der Palme statt der Fichte im »Morgenland« vorfinden. Mit anderen Worten stehe »Heine« bei Hofmann als Codewort für die radikale (De-)Kontextualisierung – oder für die Performance – der Prosa.

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Während sich bei Hoffmann deutsche Emigranten in Jerusalem bewegen, bringt Chaim Be’er in seinem Roman Bebelplatz (Lifnei ha-makom, 2007) einen Autor aus Jerusalem nach Berlin, um zu fragen, ob und wie hebräisches Schreiben außerhalb seines Territoriums Israel existieren kann. Obsessiv kreist Be’ers Text um Bücher, das Schreiben und vor allem Sammeln und Aufbewahren von Büchern und vor allem um Orte von Büchern. Es ist deshalb logisch, dass sein Erzähler auch auf Ullmans Denkmal auf dem Bebelplatz in Berlin stößt. Vor der leeren Bibliothek, die für Be’er in einer geheimen Konstellation mit der unterirdischen Bibliothek der Hebräischen Universität in Giv’at Ram steht, wird Heines berühmter Satz (der einige Seiten vorher im deutschen Original im Buch auftaucht), nicht explizit zitiert. Dies sei nach Rokem eine Geste des Verschweigens, mit der sich Be’ers Prosa der Neu-Kontextualisierung und damit der Performance von Heines Worten entziehe. An anderer Stelle spielt Be’er jedoch auf die israelische Debatte an, ob man eine Straße nach Heine benennen soll, und zwar indem er eine Figur nach der Düsseldorfer Straße benennt, an der Heine geboren wurde. Dieser »Kleine Heine« bei Be’er sei die Figur gewordene Frage nach der Performance der Prosa. Als Quintessenz ihrer Lektüren formuliert Rokem schließlich:

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»Hoffmann and Beer both use Heine’s name and his poetry as a medium that situates their Israeli prose in relation to a series of translations between different languages, spaces, modes, media, and literary genres. These Israeli novels thus do not stage themselves as an answer to the questions posed by earlier generations of Zionist authors such as Herzl and Bialik. Instead, they show that prosaic conditions continue to prevail, forcing literature to come up with ever more creative solutions when it comes to self-situation.« (S. 151)
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Fazit

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Mit Prosaic Conditions liegt eine außerordentlich anregende Folge von Modellanalysen zum ästhetischen Paradigma der Prosa zwischen 1800 und der Gegenwart vor. Rokem zeigt deutlich anhand jüdischer und sich zum Zionismus und jüdischer Staatlichkeit positionierender Autoren die politische Relevanz dieses Paradigmas, wie es nämlich immer in Bezug zur Performance, d.h. zur konkreten Räumlichkeit und Verräumlichung des literarischen Textes steht.

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Problematisch sind dabei vor allem zwei Punkte. Erstens öffnet ein Begriff wie Prosa den Horizont der Ideen- und Literaturgeschichte so weit, dass die gewählte, sehr enge Linie mit dem Zentrum Heine stellenweise doch etwas willkürlich erscheint. Das völlige Fehlen von Namen wie Nietzsche oder Kafka – die für jüdische Autorinnen und Autoren gerade im zionistischen Kontext doch ebenfalls eine immense Bedeutung hatten – hinterlässt beim Rezensenten den Eindruck, dass die Idee der Prosa im (deutsch-)jüdischen Schreiben noch erheblich mehr (und signifikante) Aspekte aufweisen würde, die hier ignoriert werden.

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Zweitens: Auch wenn man der Autorin zugesteht, primär die Heine-Rezeption anhand des Begriffs des Prosaischen zu verfolgen, fällt auch da eine gewisse Verengung auf. Denn die Heine-Rezeption verläuft ja keineswegs nur vor der Folie der jüdischen Identität, sondern umfasst die gesamte europäische Literaturgeschichte. Und auch wenn man sich auf die zionistische Literatur beschränken würde, gäbe es noch ganz andere Linien der Heine-Rezeption, etwa Moses Hess’ zwiespältige Inanspruchnahmen, auf die Rokem nicht eingeht. So schafft es das Buch nicht an jeder Stelle, die drei großen Komplexe der Idee der Prosa, des Zionismus/jüdischer Identität und der literaturhistorischen Heine-Rezeption plausibel und repräsentativ zusammenzubringen.

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Diese kritischen Punkte benennen jedoch nicht eigentlich Mängel in der Konstruktion des Buches. Denn gerade in der Konsequenz und Stringenz, mit der Prosaic Conditions einen eigenwilligen Weg durch das Dickicht der deutschen und jüdischen Literaturgeschichte schlägt, liegt deren Qualität. Wer der Autorin zu folgen bereit ist, wird manche überraschende Entdeckung machen – und womöglich die wissenschaftliche Prosa in eine ganz eigene, andere, weiterführende Performance überführen. Mit dieser Publikation liegt deshalb ein eleganter Essay vor, der in keiner geisteswissenschaftlichen Bibliothek fehlen sollte.

 
 

Anmerkungen

Karlheinz Barck: prosaisch – poetisch. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Studienausgabe. Hg. von Karlheinz Barck. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2010. Band 5, S. 87–112, hier S. 90.   zurück
Reinhart Koselleck: Vorgriff auf Unvollkommenheit. Dankrede. In: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1999. Göttingen: Wallstein 2000, S. 146–147, hier S. 146.   zurück
Karlheinz Barck (Anm. 1), S. 94.   zurück
Ebd., S. 102.   zurück
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf Grundlage der 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Band 13: Vorlesungen über die Ästhetik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989 (Erste Auflage 1986), S. 253.   zurück
Die berühmte Stelle aus den Reisebildern lautet: »Lieber Leser, gehörst du vielleicht zu jenen frommen Vögeln, die da einstimmen in das Lied von byronischer Zerrissenheit, das mir schon seit zehn Jahren, in allen Weisen, vorgepfiffen und vorgezwitschert worden […]? Ach, theurer Leser, wenn du über jene Zerrissenheit klagen willst, so beklage lieber, daß die Welt selbst mitten entzwey gerissen ist. Denn da das Herz des Dichters der Mittelpunkt der Welt ist, so mußte es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden. Wer von seinem Herzen rühmt, es sey ganz geblieben, der gesteht nur, daß er ein prosaisches weitabgelegenes Winkelherz hat. Durch das meinige ging aber der große Weltriß, und eben deßwegen weiß ich, daß die großen Götter mich vor vielen Anderen hochbegnadigt und des Dichtermärtyrthums würdig geachtet haben.« Heinrich Heine: Historisch-Kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg: Hoffmann und Campe 1975 ff. (=DHA), Band 7/1, S. 95.   zurück
Z.B. Itta Shedletzky: »Niemals von jüdischen Verhältnissen sprechen«. Zum jüdischen Subtext von Heines »Ideen. Das Buch Le Grand«. In: Klaus Briegleb / Itta Shedletzky (Hg.): Das Jerusalemer Heine-Symposium. Gedächtnis, Mythos, Modernität. Hamburg: Dölling und Gallitz 2001, S. 49–64.   zurück
DHA, Band 6, S. 178.   zurück