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  • Markus Kuhn / Irina Scheidgen / Nicola Valeska Weber (Hg.): Filmwissenschaftliche Genreanalyse. Eine Einführung. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2013. 406 S. Broschiert. EUR (D) 24,95.
    ISBN: 978-3-11-029698-3.
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1. Gesamtkonzeption

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Eine einbändige Einführung in die Genreanalyse stellte bislang für die stark anwachsenden Studiengänge der Medien- und Filmwissenschaft ein grundlegendes Desiderat dar, war doch die wissenschaftliche Literatur zur Genreforschung mit einführendem Charakter vorrangig in vielzählige, teilweise hochspezialisierte Monografien zu den einzelnen Genres bzw. Genre-Vertretern oder gar in das sehr umfangreiche und noch nicht abgeschlossene Projekt der Reclamreihe »Filmgenres« aufgesplittert. Umso erfreulicher ist der Umstand, dass sich die Herausgeber und Autoren des Bandes dem Unterfangen stellen, auf nur 400 Seiten sowohl eine knappe Einführung in Genretheorien und Genrekonzepte (40 Seiten) als auch eine detailliertere Einführung in die verschiedensten Genres (Western, Komödie, Melodrama, Gangsterfilm, Musical, Kriegsfilm, Horrorfilm, Biopic, Science Fiction, Roadmovie, Jugendfilm, Animationsfilm) mit anschließender Beispielanalyse zu liefern und darüber hinaus Anschlussmomente einer filmwissenschaftlich basierten Genretheorie in andere Medienformate (Videospiel, Fernsehen und Comic) aufzuzeigen.

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Gerade unter dem Gesichtspunkt der Knappheit und Kompaktheit verdient der Band besonderes Lob, denn es gelingt sowohl das Spektrum der Genre-Forschung als auch Ansätze für eine tiefergehende Auseinandersetzung aufzuzeigen. So ist denn wohl auch dem Primat der Knappheit geschuldet, dass die Engführung auf Forschungstraditionen und Hauptvertreter zu Gunsten einer breiten Überblicksdarstellung in den Hintergrund gerät. Dass vor allem der Entwurf eines dynamisch-strukturellen, diskursiv-kontextuellen Genremodells so viel Raum einnimmt, weckt den Verdacht, dass es sich um eine Programmatik handelt, die dem Charakter einer überblicksartigen, weitgehend deskriptiven Darstellung von Genretheorien entgegenläuft. Außerdem wäre kritisch zu hinterfragen, ob denn im Einzelnen alle Beiträge dieser Programmatik folgen oder gar zu gegenläufigen Ergebnissen kommen.

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2. Die einzelnen Filmgenres

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Mit der Einführung zum Genre des Western nimmt der zweite Teil einen eleganten Auftakt. Beispielhaft wird das historische Spektrum des Westerns seit den Anfängen des Mediums aufgezeigt, ohne dabei Schematismen oder positivistischer Annäherung zu verfallen. Vielmehr zeigt Dagmar Brunow produktive Seiten einer Lektüre des Westerns durch postkoloniale und gendertheoretische Perspektivierung auf, indem letztlich auch transnationale Formate unter dem Gesichtspunkt des Westerns beobachtbar werden. Besonders die Mikroanalysen von Rayd Khouloki zu The Searchers und Brokeback Mountain erweisen sich als hilfreich, um das Argument einer kritischen Lektüre bzw. eines queer reading zu profilieren. Die anschließende Filmanalyse wählt mit The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford (2007) einen beispielhaften Film, bietet dieser Western den Anschluss an die Tradition in Form eines paradigmatischen Urtexts The Man who shot Liberty Valance (1962) sowie gleichzeitig die Illustration von entscheidenden Absetzungsbewegungen des sich ständig evolvierenden Genres Western.

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Besonders der Beitrag zur Komödie leidet unter dem Primat der Knappheit. Während die Darstellung des Genres geradezu virulent einen Rückgriff auf Genretypisches vermeidet und sich über eine artifizielle und chronologische (?) Schematisierung vom Slapstick über die Screwball-Komödie und die romantische Komödie hin zur Parodie um eine Annäherung an das ausufernde Genre bemüht, entscheidet sich die Filmanalyse mit Woody Allens Annie Hall nicht nur für einen Klassiker, sondern auch für einen schwierigen Stellvertreter des Gesamtgenres Komödie. Statt einer Beschreibung der Wechselwirkung von Komik und Selbstreflexion erfolgt eine starke Konzentration auf den überschaubaren Plot. Genretypische Phänomene werden zwar benannt, etwa dass es zu einer Parodie, einer Destruktion, Kritik etc. kommt, werden aber nicht entsprechend analytisch konturiert.

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Die Einführungen zum Musical und zum Gangsterfilm zeigen in ihrem Aufbau den Zwiespalt, einen breiten Überblick über die historische Entwicklung des Genres, gleichzeitig aber auch eine Einführung in die Dynamisierung durch theoretische und analytische Perspektivierung bieten zu wollen. Sehr positivistisch muten dann die Ausführungen an, die für Studierende zwar allein schon durch ihren Listencharakter produktiv einsetzbar sind ‒ besonders positiv hervorzuheben ist dabei das Medienverzeichnis zum Gangsterfilm ‒, aber keine Ansatzpunkte zu einer kritischen Sondierung der Forschung aufzeigen. Der Titel der Beispielanalyse ist mit Once upon a Time in America klassisch gewählt. Die fehlende Verklammerung von Einführungstext und Analyse ist vermutlich auf den Umstand zurückzuführen, dass die Texte von verschiedenen Autoren stammen. Durchaus produktiv erweist sich dagegen die Kombination von der Darstellung des Musical-Genres und der Beispielanalyse zu Mamma Mia!, gelingt hier doch paradigmatisch die Hervorhebung des Genres in seiner filmhistorischen Bedeutung, seiner filmtheoretischen Herausforderung durch autoreflexive Tendenzen der Medialität von Film per se und einer dynamischen Variation des Musicals hin zu einer Annexion von popkulturellen Formaten wie dem Musikvideo.

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Die Darstellung zum Biopic erwirkt durch ein Schema in Form tabellarischer Klassifizierungen (S. 224–225) zusätzliche Anschaulichkeit. Dabei wäre zu überlegen gewesen, zumindest im Ansatz aufzuzeigen, ob der Wert einer tabellarischen Isolation gemeinsamer Strukturmerkmale nicht gerade darin besteht, die Rückkopplungseffekte mit dem sozialen Strukturwandel beobachten zu können. Besonders die soziale Funktion scheint bei einem Genre, das durch seinen Gegenstand doch starken Schwankungen der gesellschaftlichen Konzeption von Identität und Selbst unterworfen ist, unerlässlich. Die ästhetischen Lösungsmodelle sowie kreative Lektürevorschläge werden jedoch in der anschließenden Beispielanalyse The Agony and the Ecxtasy aufgezeigt. Besonders positiv hervorzuheben ist auch hier das ausführliche Medienverzeichnis.

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Fast schon um seine kreative Ästhetik und seine gesellschaftliche Funktion beschnitten, erscheint das Science-Fiction-Genre. Zwar werden mit den Begriffen »Naturalisierung und Verfremdung« (S. 252) zunächst treffende strukturalistische Termini gewählt, um die Heterogenität des Genres in den Griff zu bekommen, doch spiegelt sich gerade im Fazit die sehr pauschalisierende Idee vom Genre wider. Die Science Fiction sei nichts weiter als ein »Spiegel, der die Hoffnungen und Ängste reflektiert, die sich mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt verbinden« (S. 261). Dieser Tenor setzt sich auch in der Analyse zu Blade Runner fort, die zwar einen beispielhaften Klassiker wählt, aber es gerade hier an zentralen Stellen nur bei der Benennung von ästhetischen und intermedialen Komplexen belässt, Ergebnisse jedoch nicht aus der Analyse gewinnt.

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Der konjunkturelle Charakter des Horrorfilms wird mit der Genredarstellung nicht nur besonders anschaulich und trotzdem knapp und bündig dargestellt, sondern findet gerade in der Auswahl des Titels Låt den Rätte komma in der Beispielanalyse eine kongeniale Exemplifikation der in der Genreanalyse aufgezeigten Traditionslinien und des Modernisierungswillens des Genres. Einziges, aber verzeihbares Manko scheint mir hier die Ausklammerung der für das Genre konstitutiven Genderkonstellationen, die vor allem in der amerikanischen Filmwissenschaft stark (Barbara Creed, Carol Clover, Linda Williams) bearbeitet wurden.

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Der Spagat zwischen breitem historischen Überblick, theoretischer Perspektivierung, sowie kreativer Flexibilisierung gelingt vorbildlich bei den Genredarstellungen zum Melodrama, Kriegsfilm, Roadmovie, Jugendfilm und Animationsfilm.

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Die Melodrama-Darstellung bemüht sich neben einer Entwicklungsgeschichte geradezu exemplarisch um die Einbeziehung auch kritischer Impulse aus der Genre-Forschung, die an Mikroanalysen exemplifiziert werden und dadurch an Anschauungswert gewinnen. Als einer von wenigen Beiträgen profiliert die Darstellung eine Vorgängerschaft des Genres in anderen Medien (Theater und Literatur, S. 100) und liefert damit Anschlusspunkte für eine weitere Auseinandersetzung mit einem der zentralen Genres der Filmgeschichte. Besonders hilfreich stellt sich das Unterkapitel »Intertextuelle Rückkopplungen: Sirk ‒ Fassbinder ‒ Haynes« (S. 102 f.) dar, da es einen tieferen Einblick in den für Genres konstitutiven Charakter intertextueller Verweisstrukturen bildnah unter Bezugnahme auf Screenshots aufzeigt. Gerade für Studierende werden hier entscheidende Impulse geliefert, wie eine weiterführende Beschäftigung mit dem Genre aussehen könnte und zu welchen produktiven Ergebnissen sie kommen kann. Das gilt insbesondere auch hier für die kongeniale Weiterführung der Überlegungen in der Filmanalyse zu Io sono LʼAmore, die die Traditionslinien aufzeigt, jedoch nicht auf Kosten des innovativen Charakters des Films, der zu einer Weiterentwicklung und Dynamisierung des Genres beiträgt.

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Die Darstellung des Kriegsfilms überzeugt ebenfalls durch die Verklammerung mit der Beispielanalyse, da diese nicht zusammenhangslos angehängt wird, sondern in der Darstellung des Genres bereits vorbereitet und als Zuspitzung von angeschnittenen Überlegungen fruchtbar gemacht wird. Das Fazit hält die Gemeinsamkeiten des Genres so dynamisch, dass die Legitimation einer stets zu reaktualisierenden Lektüre von Kriegsfilmen treffend aus dem Motto »Kriegsfilme machen Politik« von Stefan Hug zusammengeführt wird.

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Geradezu einzigartig im Gesamtkontext des Bandes ist die Herangehensweise an das Genre des Road Movie, wird doch hier exemplarisch der Mehrwert einer Lektüre aufgezeigt, die von Modernisierungen des Genres (New Queer Cinema) motiviert ist. Gerade durch die Favorisierung und Konzentration auf die Neuerungen und Radikalisierungen wird der implizit subversive Charakter des Genres auch retrospektiv deutlich. Ganz besonders positiv ist die Hervorhebung der Ikonografie gegenüber narratologischen Strukturmerkmalen, die doch für eine Analyse eines audiovisuellen Mediums wie dem Film meistens zielführender sind, um Konjunkturen und Differenzmerkmale beobachten zu können, statt auf die großen Gemeinsamkeiten zu fokussieren. Gerade die Beispielanalyse wählt mit Vivere einen interessanten Titel, der im Ansatz alle wichtigen Neuerungen und klassischen Merkmale des Genres in einer kritischen Lektüre zusammenführt.

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Die Ausführungen zum Jugendfilm zeichnen sich durch ihr hohes Problematisierungspotenzial hinsichtlich der Eigenständigkeit als Genre aus. Die Zwischenstellung zwischen Kinderfilm und Erwachsenenfilm scheint dabei besonders überzeugend, wird doch die Phase der Adoleszenz nicht nur am Zielpublikum belegt, sondern vielmehr auch als ein Stil-Kriterium sichtbar. Besonders produktiv ist der Hinweis auf kulturelle Zusammenhänge, die hervorheben, dass Kindheit und Jugend von der Gesellschaft erschaffene geschützte Räume sind, die ihr Korrelat in entsprechenden Medienformaten suchen und finden (S. 301). Die Ausweisung ikonografischer und narrativer Motive, wie etwa die Tür und der Flur als Durchgangsmoment, liefern optimale Anschlusspunkte für die Frontier-These im Western und weiterführend für das Motiv des Cruising im Roadmovie. Mit der Konturierung der Herausforderung, ob ein einzelner Film nun der Jugendorientierung oder dem Genre des Jugendfilms zuzuordnen sei (S. 311), ist ein produktiver Rahmen gesteckt, in welchem sich künftige Genreanalysen bewegen können und welche Bedingungen sie zu beachten haben. Die stark auf Intertextualität bezogene Filmanalyse von American Graffiti hebt Ansatzpunkte einer beispielhaften Genreanalyse hervor.

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Die Darstellung des Animationsfilms zeichnet sich durch eine kritische Auseinandersetzung um die kategoriale Zuordnung (Genre oder Gattung) aus; dabei werden anschaulich und nachvollziehbar die Schwierigkeiten einer Zusammenfassung des vielseitigen Einsatzes von Animationen unter ein Genre aufgezeigt. Insbesondere Hybridfilme aus Spielfilm und Animationsfilm spielen dabei als Herausforderung eine zentrale Rolle. Da der Beitrag sich stark auf die Problematisierung der Zuordnung konzentriert, kommt er zu dem erwartbaren, aber nichtsdestotrotz folgenreichen Ergebnis, dass die traditionell postulierte Grenze zwischen Animations- und Realfilm nicht aufrechtzuerhalten ist. Die anschließende Filmanalyse zu The Green Wave führt exemplarisch Überlegungen der Genre-Diskussion vor und arbeitet den Zusammenhang zwischen visueller Umsetzung und Narration heraus, um generell das Wie der Filmerfahrung vor dem Was der Erzählung zu betonen. Diese Perspektive eröffnet die Effizienz einer gezielten analytischen Beachtung von Animationselementen in Realfilmen.

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3. Intermediale Anschlüsse

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Mit dem letzten Kapitel »Die intermediale Dimension« versuchen sich drei kleinere Beiträge an der Applikation filmwissenschaftlicher Genrekonzepte auf andere Medien (Videospiel, Fernsehen, Comic). Insbesondere an dieser Schnittstelle stellt sich die Frage, warum der Band zwar intermediale Anschlüsse aufzeigt, sich aber auf die genannten beschränkt. Dennoch ist die Nennung einer solchen Applikation von äußerster Dringlichkeit und formuliert ein Statement für die intermediale Forschung. Besonders der Beitrag zu Genre und Videospiel erweist sich als schwierig, da gerade ein Titel wie Heavy Rain des Labels Quantic Dreams als paradigmatischer Fall von Inter- bzw. Transmedialität des Games keine entsprechende Würdigung erfährt, geschweige denn im Medienverzeichnis erwähnt wird. Bedenklich scheint insbesondere die Herleitung des Ego-Shooters aus dem Genre des Kriegsfilms, steht dieser doch für die Geburtsstunde des Games aus dem Geiste der Kriegsführung. Vor allem im Kontext des Remediation-Konzepts (Botler/Grusin) wäre zur zusätzlichen Profilierung der Rückgriff auf Medientheoretiker wie Paul Virilio oder Friedrich Kittler durchaus wünschenswert gewesen. Außerdem sollte zumindest die Rückwirkung von Game-Genres auf Film-Genres Erwähnung finden.

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Der Beitrag zu Genre und Fernsehen hingegen verliert sich in der schematischen Aufzählung von Programmbereichen und zeigt kaum produktive Lektüre-Möglichkeiten auf, klammert gar eine Begrifflichkeit wie High-Quality-TV, die zu erwarten wäre, aus und konzentriert sich hingegen auf Show-Formate im deutschen Fernsehen. Insbesondere der von der gegenwärtigen Film-und Fernsehforschung stark propagierte Begriff der Serialität wird hier nicht aufgegriffen. Die Applikation von filmwissenschaftlichen Genrekonzepten auf das Fernsehen wird zwar im Ansatz aufgezeigt, bietet jedoch kaum innovative Zusammenführungen.

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Ähnliches gilt denn auch für den Beitrag zu Genre und Comic, auch hier wird ähnlich wie im Games-Beitrag viel zu sehr Gewicht auf die Darstellung des Comics (insbesondere des Superhelden), weniger aber auf die Schnittstellen und Überschneidungen zwischen filmischem Genre und Comic eingegangen. Im Gegensatz zu den anderen Beiträgen des Bandes wird einzig in diesem das Intermedialitäts-Konzept etwas stärker profiliert.

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4. Fazit

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Aufgrund der stark verkürzten Darstellung der Medien Videogame, Fernsehen und Comic, dem Verzicht auf zugeordnete Beispielanalysen, sowie der geringen Beachtung des Leitgedankens, die filmwissenschaftliche Analyse für diese Medienformate zugänglich zu machen, wäre ein kompletter Verzicht bzw. die Auslagerung in einen Folgeband eventuell sinnvoller gewesen. Die verbleibenden knapp 60 Seiten des Buches hätten zu einer stärkeren Profilierung als Einführungsband dienen können. In der Gesamtlektüre jedoch erschließt sich das von den Herausgebern favorisierte dynamische Genremodell wunderbar und der Band stellt eine Bereicherung für das Inventar filmwissenschaftlicher Einführungsliteratur dar, der weder in Einführungsveranstaltungen noch in, zumal in ausgewählten Kapiteln, Fortgeschrittenenseminaren verzichtbar ist.