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Helvetische Poetik

Neue Perspektiven auf Dialekt und Hochsprache in der Deutschschweizer Literatur

  • Simon Aeberhard / Caspar Battegay / Stefanie Leuenberger (Hg.): dialÄktik. Deutschschweizer Literatur zwischen Mundart und Hochsprache. Zürich: Chronos 2014. 244 S. 2 s/w, 10 farb. Abb. Gebunden. EUR (D) 39,50.
    ISBN: 978-3-0340-1193-8.
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Deutschschweizer Autoren, so Gottfried Keller, werde regelmäßig vorgeworfen, sie könnten kein richtiges Deutsch. Gleichzeitig fordere aber der deutsche Literaturmarkt Helvetismen als exotische Zierde geradezu ein. 1 Friedrich Dürrenmatt kehrte die Deutungshoheit über den Sprachgebrauch gut hundert Jahre später bekanntlich kurzerhand um, wenn er Romulus den Großen »das Morgenessen« bestellen und auf die Korrektur des Dieners – »das Frühstück« – antworten lässt: »Das Morgenessen. Was in meinem Hause klassisches Latein ist, bestimme ich.« 2

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Dialekt und Literarizität

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Die Frage nach den Spezifika der eigenen Literatursprache, nach dem Einfluss der für die Deutschschweiz bestimmenden linguistischen Situation der Diglossie wie dem Verhältnis des schreibenden Schweizers zu einer deutschen »Nationalliteratur« begleitet das Deutschschweizer Literaturschaffen spätestens seit der Erfindung der Nationalliteratur und der Konsolidierung und verbindlichen Standardisierung der neuhochdeutschen Schriftsprache in der Moderne. Die Sprachsituation der Schweiz ist linguistisch breit erfasst, und literaturwissenschaftlich wurde insbesondere die Frage nach der (Sonder-)Stellung helvetischer Autoren innerhalb oder vis à vis einer deutschen Nationalliteratur immer wieder diskutiert. 3 Was bislang weitgehend fehlte, war allerdings ein Ansatz, der jenseits soziolinguistischer Deutungsmuster die spezifisch poetische Funktion von Dialektverwendung in literarischen Texten erforschte. Ebendieses Desiderat greift der vorliegende Band von Simon Aeberhard, Caspar Battegay und Stefanie Leuenberger auf. In einer gehaltvollen Einleitung wird dabei das Forschungsgebiet von Stefanie Leuenberger und ihren Mitherausgebern zunächst umrissen und innerhalb der (in der Schweiz momentan auch politisch wieder aktuellen) Diskussionen um das Verhältnis von Mundart und Schriftsprache verortet. Im Gegensatz zur herkömmlichen Thematisierung des Dialektes im Schreiben von Deutschschweizer Autoren wird hier großer Wert darauf gelegt, die Dialektverwendung als Teil einer Literatursprache zu konturieren, also einer immer schon verfremdeten, ästhetisch bearbeiteten Form. In gewisser Weise wird im Schreiben helvetischer Autoren nur erkennbar, was für Literatur überhaupt gilt: Sie verfügt insofern immer über eine diglossische Struktur, als kein Schriftsteller schreibt, »wie er spricht«.

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Vieldeutsch: Wechselwirkungen von Dialekt und Standardsprache

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Eingängig veranschaulicht wird diese zentrale These im Beitrag des Schriftstellers Pedro Lenz: »Das immer wieder gehörte Lob, mein Dialekt klinge halt einfach wirklich besonders schön, ist für mich als Autor beleidigend«, heißt es hier, »denn ein solches Lob auf den Dialekt impliziert, dass die Sprachwahl allein schon die literarische Qualität ausmacht.« (S. 179) Es kann also nicht darum gehen, Dialekttexte, mundartliche Versatzstücke oder Helvetismen als authentischen Ausdruck einer bestimmten Region oder als Bekenntnis zu einer nationalen Zugehörigkeit zu lesen – wenn auch diese Schreibweise immer eine bestimmte Spannung von Kunstanspruch und Authentizitätsanforderung generiert. Stattdessen will der Band den Einsatz von Dialekt als poetisches Mittel sui generis perspektivieren. Dazu erarbeitet die Einleitung nicht zuletzt eine grundlegende These zum umstrittenen Verhältnis von Schriftsprache und Dialekt: Diese stünden sich nicht als Gegensätze gegenüber, sondern seien vielmehr miteinander »dialektisch« verbunden, existierten nicht als von einander unabhängige Sprachformen, sondern beeinflussten sich wechselwirkend. Mit dieser wichtigen Differenzierung geht der Band en passant gegen die leidigen, ideologisch gefärbten Positionen an, die deutsche Standardsprache sei für das Schweizer Kind eine mühsam zu erlernende Fremdsprache, und die Eigenheit der Mundart müsse überdies vor einer drohenden Kolonialisierung durch das Hochdeutsche verteidigt werden. Noch einmal Pedro Lenz: »Seien wir doch glücklich und dankbar, dass wir Vieldeutsch können, nondediö!« (S. 15)

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Mit der These, dass sich Dialekt und Standardsprache gegenseitig »kommentieren aber auch konterkarieren und in Frage stellen und in Auseinandersetzung miteinander zu neuer, zuweilen ganz unerwarteter Ausdruckskraft gelangen« (S. 14), weist dialÄktik aber vor allem einen ebenso neuen wie produktiven literaturwissenschaftlichen Zugang zu dialektalen Eigenheiten im Werk Deutschschweizer Autoren. Das Unternehmen ist dabei auch über die Schweizer Germanistik hinaus relevant, insofern es einen wichtigen Beitrag zu aktuellen Diskussionen um Deutsch als polyzentrische Sprache, um Polyphonie und Mehrsprachigkeit als literarische Stilformen sowie um die spoken word Bewegung darstellt.

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Relektüren

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In diesem Feld stellen die versammelten Aufsätze von Schweizer Nachwuchsgermanisten exemplarische Untersuchungen anhand verschiedener Autoren an; ergänzt werden sie durch zwei wertvolle Originalbeiträge der für ihren experimentellen Dialektgebrauch bekannten Schriftsteller Pedro Lenz und Martin Frank sowie einen Forschungsausblick von Peter Utz und Reto Sorg. Wie immer bei Sammelbänden sind die Fallstudien recht unterschiedlich angelegt, stark zur Kohärenz des Bandes beizutragen vermag allerdings, dass alle Beiträge die These von der wechselwirkenden Durchdringung von Dialekt und deutscher Standardsprache ebenso aufgreifen wie jene von einem gezielt poetischen Einsatz der Mundart. Neben dem Eröffnungsbeitrag zu Jeremias Gotthelf und einem Aufsatz zu Spyris Heidi-Romanen liegt der Schwerpunkt von dialÄktik auf Autoren des 20. Jahrhunderts: C.A. Loosli, Adolf Wölfli, Friedrich Glauser, Robert Walser, Walter Vogt und Hermann Burger. Daneben gibt es Beiträge zu den Gegenwartsautoren Pedro Lenz, Martin Frank und Arno Camenisch sowie einen Seitenblick auf die Dialektverwendung im süddeutschen Raum bei Emmy Hennings. Wenn es auch im Zusammenhang mit dem natürlich begrenzten Umfang eines solchen Bandes, der wiederum auf eine Tagung im Literaturhaus Basel zurückgeht, verständlich ist, so ist es doch auch ein bisschen schade, dass »Granden« der Deutschschweizer Literatur wie Gottfried Keller, Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch darin ebenso fehlen wie antimodern eingestellte Autoren wie Meinrad Inglin oder Carl Spitteler, und dass auch Schriftstellerinnen so gut wie keine Berücksichtigung finden. Vergeblich sucht man auch eine Begründung für den starken Überhang an Berner Autoren. Ist er, wie im Ausblick von Peter Utz und Reto Sorg impliziert, einer »Berner Linie« geschuldet, die den Dialekt stärker akzentuiere, sich zugleich aber auch auf das Französische hin öffne, während die »Zürcher Linie« der deutschen Standardsprache stärker verpflichtet sei?

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Keinesfalls aber sollten durch solche Fragen die Leistungen der einzelnen Artikel in den Hintergrund treten. Dank der vorgegebenen starken Fragestellung gelingt es in ihnen nämlich fast durchwegs, neue Aspekte in bekannten Texten freizulegen. Aufgeräumt wird dabei zu gleichen Teilen mit der Vorstellung, Dialektismen seien Ausdruck von Provinzialität und limitiertem Ausdrucksvermögen (sehr anschaulich zeigt etwa Peter Stocker in seinem Artikel zu Robert Walser, dass geradezu das Gegenteil zutreffen kann), wie mit der Idee der Dialektliteratur als einer unmittelbar zugänglichen Volksdichtung (etwa Dominik Müller zu den komplizierten Verschriftlichungstechniken C.A. Looslis).

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Das Chaos der Zeichen

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Besondere Beachtung verdient der Anfangsbeitrag von Philipp Theisohn, der in Jeremias Gotthelfs Anne Bäbi Jowäger einem Zusammenhang von medizinischen Hygiene-Diskursen und sprachlichem Reinheitsgedanken auf die Spur zu kommen versucht. Medizinischer, medialer und mundartlicher Diskurs, so Theisohns Befund, seien in Gotthelfs Quacksalberroman eng aneinander gekoppelt. In Gotthelfs Durchdringung von Standardsprache und Berndeutsch werde eine »Chaotisierung der Zeichensysteme« (S. 30) – der medizinischen, aber auch der moralischen und juridischen – zu lesen gegeben, die für die erzählte Welt an der Schwelle zur Moderne charakteristisch sei. Diese sehr überzeugende These ließe sich an anderen Werken des 19. Jahrhunderts überprüfen. Sie würde im übrigen auch erklären, warum, wie Jörg Marquardt im folgenden Artikel feststellt, in Johanna Spyris Heidi-Romanen der Dialekt so sorgsam vermieden wird, geht es hier doch genau um den Entwurf einer reinen Bergwelt.

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Diglossie und Schizophrenie

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Herausgehoben werden sollen im Weiteren die Beiträge der Herausgeber Caspar Battegay und Simon Aeberhard. Battegays Beitrag zeichnet sich durch die originelle These einer in der Literatur aufscheinenden strukturellen Ähnlichkeit von Schizophrenie und Diglossie aus und macht sich daran, ausgehend von Walter Vogts Roman Schizogorsk, über Hermann Burgers Schilten und Peter Webers Der Wettermacher »eine Lektüre der Deutschschweizer Literatur im Zeichen der Schizophrenie« (S. 136) zu skizzieren. Dabei geht es ihm nicht um eine Pathologisierung des Literaturschaffens, sondern vielmehr darum, das spezifisch poetische Potential der ›Doppelzüngigkeit‹ herauszuarbeiten. Unter die thematische Klammer ›Devianz, Dialekt und Literatur‹ ließen sich auch die Untersuchungen von Martina Wehrli zu Adolf Wölfli und Christa Baumberger zu den Gefängnistexten von Emmy Hennings und Friedrich Glauser stellen. Beide Artikel werfen die Frage auf, inwiefern eine deviante Schreibsituation (Nervenheilanstalt, Gefängnis) sich mit dem Einsatz sprachlicher Abweichungstechniken verbindet.

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Die Fremdheit der Muttersprache

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Simon Aeberhard zeigt in seiner Lektüre Hermann Burgers, wie hier mit den kulturellen Phantasmen von »Natürlichkeit« und »Reinheit« von (Mutter-)Sprache aufgeräumt wird. Die Einmischung von Dialekt dient dabei gerade nicht der Erzeugung von Authentizität, sondern generiert im Gegenteil eine uneinheitliche, »unreine« Sprache, über die die konstitutive Ursprungslosigkeit und Artifizialität von Sprache überhaupt verhandelt wird. Die Dynamik einer Entfremdung und somit auch gezielte Erzeugung von Literarizität durch die Verschriftlichung von Dialekt lässt sich Simon Aeberhard, Felix Christen und Sandro Zanetti zufolge auch in Texten von Pedro Lenz, Martin Frank und Arno Camenisch exemplarisch aufweisen. In dieser programmatisch mit dem Dialekt arbeitenden Gegenwartsliteratur wird somit die Hauptthese des Bandes noch einmal bestätigt: Die poetische Funktion dialektalen Schreibens wird hier ebenso einsichtig wie der durch die Verschriftlichung der mündlichen Sprachform erzeugte Effekt der Normabweichung und Verfremdung, der der Vorstellung von der Mundart als authentischem, un-fremdem und natürlichem Ausdruck genau entgegenläuft.

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Fazit

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Der Band überzeugt durch seine ebenso klaren wie innovativen Thesen zur ästhetischen Gestaltung des Dialektes in der Deutschschweizer Literatur. Die versammelten Beiträge vermögen allesamt zu zeigen, wie die Frage nach der poetischen Ausgestaltung des Spannungs- und Wechselverhältnisses zwischen Mundart und Standard neue Wege für die Kartierung einer spezifisch helvetischen Literatursprache eröffnet. Gleichzeitig sind die Resultate in mehrerer Hinsicht über die Schweizer Germanistik hinaus von Interesse: Erstens könnten vor dem Hintergrund des Deutschen als historisch nicht primär national beschränkter, polyzentrischer Sprache, Verbindungen zur poetischen Aufbereitung von Varietäten auch außerhalb der Schweiz gezogen werden. Zweitens drängt sich – wie auch in den Beiträgen von Zanetti und Utz/Sorg kurz angesprochen – die Frage nach den Bezügen des Spiels mit den Varietäten zu aktuell breit diskutierten Formen literarischer Mehrsprachigkeit und Aufweichung der monolingualen Norm geradezu auf. Drittens ließe sich angesichts der »dialÄktik« von Mundart und Schriftsprache auch vertieft über Formen dialektaler Ästhetisierung in medial vermittelten mündlichen Kunstformen (Performances, Hörspielen u.ä.) nachdenken. Dies sind Ausblicke, zu denen das Desiderat einer historisch-begrifflichen Schärfung kommt. »Hochdeutsch«, »Standard«, »Dialekt« und »Mundart« werden in den Beiträgen zuweilen als Sammelgrößen genutzt, die der näheren Spezifizierung, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der jeweiligen sprachhistorischen Standardisierungs- und Normierungsprozesse, bedürfen. Haben wir es – mit anderen Worten – um die Mitte des 19. Jahrhunderts, zur Zeit des Ersten Weltkriegs und um 2000 angesichts unterschiedlicher sprachhistorischer Konditionen und medial unterschiedlicher Verteilung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit immer mit der gleichen »dialÄktik« zu tun? Diese Fragen und Desiderate machen vor allem eins deutlich: Mit dem Band von Simon Aeberhard, Caspar Battegay und Stefanie Leuenberger eröffnet sich eine neue Perspektive auf die Deutschschweizer Literatur und zugleich auf die Kulturgeschichte der Mundart, deren weitere systematische Ausarbeitung sehr zu wünschen ist.

 
 

Anmerkungen

Gottfried Keller: Die Käserei in der Vehfreude. Erzählungen und Bilder aus dem Volksleben der Schweiz (1851), zit. nach: Heinz Weder / Franz Cavigelli (Hg.): Gottfried Keller über Jeremias Gotthelf. Zürich 1978, S. 42.   zurück
Friedrich Dürrenmatt: Romulus der Große. Eine ungeschichtliche historische Komödie in vier Akten. Neufassung 1980, in: Werkausgabe in dreißig Bänden. Zürich 1980, Bd. 2, S. 17.   zurück
Vgl.: Michael Böhler: Das Verhältnis der Deutschschweizer Autoren zur Schriftsprache, in: Klaus Pezold (Hg.): Geschichte der deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert. Berlin 1991, S. 309–318; Corina Caduff / Reto Sorg (Hg.): Nationale Literaturen heute – ein Phantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem. München 2004.   zurück