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Kartierungen eines Geheimnisvollen

Eine erste kommentierte Bibliographie widmet sich dem Werk von Christian Kracht und dessen Erforschung

  • Matthias N. Lorenz (Hg.): Christian Kracht. Werkverzeichnis und kommentierte Bibliografie der Forschung. (Bibliographie zur deutschen Literaturgeschichte 21) Bielefeld: Aisthesis 2014. 324 S. Kartoniert. EUR (D) 58,00.
    ISBN: 978-3-8498-1062-7.
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Kommentierte Forschungsbibliographien sind in all den Fällen, in denen sie lohnenswert sein sollen, eine Sisyphusarbeit. Und eine gefährliche dazu. Die beiden Pole sind: Dankbarkeit vonseiten derer, die das Buch zur Hand nehmen und dort Material entdecken, das ihnen bisher entgangen ist – und die Empörung derselben Leute, wenn (Gott bewahre) ihr eigener Aufsatz übersehen wurde. Für ein solches Unterfangen sollte man also nicht nur die nötige Chuzpe, sondern auch genügend Akribie mitbringen. Die gute Nachricht ist: Matthias N. Lorenz und sein Team haben die nötige Detailtiefe erreicht und ein Werk vorgelegt, das sich als überaus nützlich für die kommende Kracht-Forschung erweisen wird.

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Ein Autor unserer Zeit in einer internationalen Forschungswelt

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Die Jahre 2013 und 2014 waren objektiv zwei gute Jahre für den deutschsprachigen Schweizer Schriftsteller Christian Kracht. Zuerst war da der große Erfolg des Films Finsterworld (2013), an dessen Skript er maßgeblich mitgeschrieben hatte: Positive Kritiken, zahlreiche Auszeichnungen, internationale Festivals etc. Einen Eintrag im Kritischen Lexikon der Gegenwartsliteratur bekam er ebenfalls 2013 – und nun noch diese kommentierte Bibliographie. Machte der kleine Skandal um seinen Roman Imperium (2012) schon deutlich, dass die Reihe derjenigen, die sein literarisches Werk schätzen und verteidigen, sehr viel dichter ist, als beim Erscheinen seines Erstlings Faserland (1995), so vermittelt die Aisthesis-Publikation eindrucksvoll, dass die Forschung zu Krachts Werk (und zu seiner Biografie) schon seit guten zehn Jahren enorm produktiv ist. Vermag man als versierter Kracht-Forscher noch mit Mühe die neu erscheinenden Aufsätze zu überblicken, so versagen die meisten spätestens dann, wenn die Forschung auf Russisch oder Koreanisch vorliegt. Dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit der »Enigma Kracht« 1 nicht nur eine Sache der deutschen Germanistik ist, wird bei der Durchsicht des Bandes von Lorenz deutlich. Diese teils eher abgelegenen Forschungsstimmen zu sammeln und aufzuarbeiten ist ein Verdienst des Bandes – auch wenn andere Aspekte noch größeres Lob verdienen.

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Christian Kracht: Ein Werk von mehr als 20 Jahren

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Die Bibliographie wird durch einen pointierten Aufsatz des Herausgebers eingeleitet (S. 7–18), der auch unabhängig vom Kontext lesenswert ist. Lorenz macht darin auf einige Schwächen der bisherigen Kracht-Rezeption aufmerksam und deutet Potentiale der künftigen Forschung an. Auch wenn einige Punkte (wie die nachhaltigen Fehldeutungen von Krachts Werk durch das Feuilleton) einem informierten Publikum bekannt sein dürften, so können andere kaum genug betont werden – so beispielsweise der Fokus auf das poetische Verhältnis von Autor, Figur und Mediensystem, welches Kracht seit Anbeginn seiner Publikationstätigkeit durchspielt (S. 9–11). Dass eben jenes Verhältnis aktuell einen der produktivsten Aspekte der Kracht-Forschung ausmacht, betonte bereits u.a. Eckhard Schumacher, 2 nach der Imperium-Kritik durch Georg Dietz 3 scheint aber der Bedarf, dies deutlich zu wiederholen, immer noch gegeben. Am produktivsten ist jedoch sicher der Vorschlag von Lorenz, Krachts Werk stärker an den Kontexten abzugleichen, aus denen es seine oft opaken Bedeutungen bezieht (S. 12–15). Die notwendigen Bedingungen für ein solches Unterfangen hat Lorenz mit seinem Team bereitgestellt.

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Die wohl wichtigste Leistung des Bandes ist das Werkverzeichnis (S. 21–60). Die hohe Seitenzahl deutet bereits darauf hin: Es sind nicht nur die selbständigen und kollaborativen Veröffentlichungen Krachts gelistet, sondern auch alle Rezensionen zu diesen, sofern sie in recherchierbaren Medien erschienen sind. Entstanden ist so eine Fundgrube für die Rezeptionsforschung. Die ab S. 43 gelisteten unselbstständigen Veröffentlichungen machen das Paket rund und ergänzen das, was im KLG-Artikel nicht erscheint: Nicht nur die Artikel aus Krachts Zeit bei der Zeitschrift Tempo, sondern auch seine frühen Arbeiten für ein Heidelberger Studentenmagazin, den Spiegel, die Welt am Sonntag, die FAZ und verstreute Publikationen eher journalistischen Charakters wurden recherchiert. Hinzu kommen die Listungen aller Fernsehauftritte, Sendungen / Podcasts über sein Werk und diverser Interviews, die in Print- oder Onlinemedien einsehbar sind.

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Diese Listen des Kracht’schen Œuvres sind überaus nützlich – haben aber hier und da ihre Tücken: Auf der einen Seite wird so scheinbar endlich Klarheit darüber hergestellt, welche der Artikel in der Tempo und im Freund tatsächlich von Kracht (mit)verfasst wurden. Auf der anderen Seite muss man bei Kracht stets wachsam sein, denn die Unzuverlässigkeit ist nicht nur ein Markenzeichen seiner Prosa, sondern auch ihm als Figur stets eigen. Wenn man im Vorwort liest, »Christian Kracht, sein Verlag und seine Agentur haben sich schließlich bereitgefunden, Strittiges zu klären und Fehlendes zu ergänzen« (S. 18), so ist notwendig die Frage zu klären, wie sehr man diesen Angaben trauen darf und ab welchem Punkt man bei dem Kracht’schen Gesamtkunstwerk als Statist mitspielt. Immerhin hat Lorenz eine Sicherung eingebaut: Die Tempo-Artikel mit einer ›irreführenden Kennzeichnung der Autorschaft‹ (vgl. S. 46) werden immer noch gelistet, aber mit einem Asterisk klar markiert.

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Über 170 Deutungsansätze: die kommentierte Forschungsbibliographie

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Den größten Umfang des Bandes nimmt die kommentierte Forschungsbibliographie ein, die einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Nach einer einfachen Listung (S. 61–83) werden alle Beiträge zusammengefasst, wichtigste Ansätze und Thesen hervorgehoben (S. 85–270). Die Arbeit machte sich Matthias N. Lorenz nicht allein: Studierende der Universität Bern und einige andere ForscherInnen haben an der Entstehung mitgearbeitet, die Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge werden eindeutig benannt. Nun ist dies nicht die erste Bibliographie der Kracht-Forschung: Johannes Birgfeld stellte schon früh eine online frei einsehbare Bibliographie zusammen, die für Krachts KLG-Artikel noch erweitert wurde. 4 Zudem bietet Kracht schon seit Jahren den für einen literarischen Autor eher seltenen Service, die zu ihm und seinem Werk erschienene Literatur auf der eigenen Webseite zu listen 5 – dies allerdings bei weitem nicht vollständig. In dem vorliegenden Band nun wurden auch Kapitel aus Monographien aufgenommen und kommentiert, die bei einer oberflächlichen Recherche vielleicht nicht auffindbar gewesen wären. Entstanden ist so eine nahezu lückenlose Übersicht der relevanten Forschung von 1996 bis 2013.

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So nützlich die Zusammenfassung der Thesen auch koreanisch-, portugiesisch- oder russischsprachiger Publikationen ist, so sehr vermisst man den kritischen Ton, der zur präzisen Einordnung der Beiträge nützlich gewesen wäre: Die Sprache ist immer neutral gehalten, auf Wertungen im Forschungskontext wird zumeist verzichtet. Wenn man weiß, wie vielen Beiträgen zu Kracht eine wissenschaftliche Verwertbarkeit abgeht, so wäre hier die Chuzpe einer Kritik nützlich gewesen. Die Gründe einer möglichst objektiven Zusammenfassung sind indes naheliegend und bieten deutlich weniger Konfliktpotential. Als LeserIn lernt man schnell auf Euphemismen wie z.B. dass ein Beitrag eine ›offensichtlich studentische Arbeit‹ darstellt, zu achten. Bei einem Zusatz wie der »Text folgt keiner spezifischen Fragestellung oder These« (S. 159) sollte dann alles klar sein.

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Ein weiterer – wenn auch unzuverlässigerer Indikator – stellt die Länge der Kommentare dar. Hier jedoch findet man gelegentlich Inkongruenzen, da die Länge der Kommentare nur bedingt den Umfang der Publikationen wiederspiegelt: Dass die Monographien von Stefan Bronner und Immanuel Nover mit je knapp einer Seite ebenso abgehandelt werden, wie deutlich kürzere Texte, kann dem Konzept des Bandes geschuldet sein. Ob dies stattdessen eine Art subtiler Kritik darstellen soll, verbleibt für die NutzerInnen des Bandes eine Leerstelle. Die Kommentare selbst sind stets solide, listen die wichtigsten Thesen und Argumentationswege, die relevanten Theoriebezüge etc. Dass es dabei notwendig zu Verkürzungen kommen mag, entspricht der Funktionalität des Formats – als Kompass dienen die Abstracts allemal, die selbständige Lektüre relevanter Beiträge kann und soll der Band nicht ersetzen.

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Die Nummerierung einiger Beiträge kann leicht irritieren. Die Orientierung ist auf der Jahresebene problemlos und kann durch künftige Werkbibliographien fortgesetzt werden, die Binnengliederung der Texte innerhalb eines Jahres erfolgt dann alphabetisch, nur die zugewiesenen Ordnungszahlen wie 13.4a für einen Beitrag von M. Knight und 13.4b für einen Text von A. Larch sind gelegentlich paralogisch.

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Ein doppeltes Koordinatensystem als Abschluss

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Den Abschluss des Bandes bilden ein Schlagwortregister (S. 273–281) und ein Personen- und Werkregister (S. 282–323). Ersteres listet alle Konzepte und Grundbegriffe, die in den Argumentationen der Forschungsbeiträge relevant werden, von »68-er Generation« bis »Zweiter Weltkrieg«, besonders starke Bezugnahmen sind typographisch hervorgehoben. Schon auf dem ersten Blick sind so Schwerpunkte und Konjunkturen der Kracht-Forschung zu überblicken, was gelegentlich Überraschungen bereithält: So taucht der Begriff der ›Authentizität‹ in Bezug auf Kracht kaum auf, die Wichtigkeit des Begriffs ›Konsum‹ flaut seit 2011 stark ab, während ›Intertextualität‹ und ›Ironie‹ seitdem stärker in den Fokus rücken.

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Das Personen- und Werkregister fällt deutlich umfangreicher aus und ist als eine besondere Leistung der Publikation zu betrachten: In akribischen Lektüren wurden aus der Sekundärliteratur alle relevanten Namen und künstlerischen Werke sowie die Bezüge auf paradigmatische Forschungsansätze gesammelt und gelistet. Wer wissen möchte, ob eine Deutung Krachts z.B. mit dem Theoriearsenal von Jean Baudrillard neu sei, kann dies mit einem Blick überprüfen, die Listung von Einzeltiteln inklusive. Das Register weist die betreffenden Beiträge eindeutig aus, auch hier sind wichtige Nennungen typographisch hervorgehoben. Auch wer bereits über Kracht publizierte und sich nun fragt, ob die eingebrachten Ideen produktiv waren, wird im Register fündig. Eine Schnellübersicht derjenigen Werke Krachts, die überhaupt schon Gegenstand der Forschung waren, ist ebenfalls Teil des Verzeichnisses. Mehr Service kann man von einer kommentierten Forschungsbibliographie nicht erwarten.

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Fazit

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Dass ein solches Unterfangen wie der vorliegende Band eine Sisyphusarbeit ist, wurde schon erwähnt. Aber es ist noch mehr: Ein stets verlorener Kampf gegen die Zeit. 6 Ändern lässt sich dies nicht, außer, die Leistung würde in Form einer digitalen Datenbank angeboten werden. Es lässt sich argumentieren, dass eine fortlaufend aktualisierte Veröffentlichung im WWW die angemessene Textform für die Aufgabe wäre, allein: Man muss schon für das vorliegende Buch dankbar sein. Der Arbeitsaufwand war ohne Zweifel immens, der Anspruch sehr hoch, und das Entscheidende ist, dass er eingelöst wurde. Matthias N. Lorenz hat eine Referenz der Krachtforschung veröffentlicht, die sehr viel mehr bietet, als nur Werkverzeichnis und Kommentare. Mängel sind darin kaum zu identifizieren, jede Kritik ist bereits auf hohem Niveau. Selbst wenn Christian Kracht erst in zwanzig Jahren den Büchner-Preis erhalten sollte, wird der Aisthesis-Band immer noch Relevanz haben, da er dessen Frühwerk als erster so ausführlich kartiert und die gesamte relevante Forschung von 1996 bis 2013 listet. Wer den Anspruch erhebt, sich mit diesem hochinteressanten Autor und seinem diffizilen Werk vertiefend wissenschaftlich zu beschäftigen, wird auf dieses Orientierungsinstrument kaum verzichten können.

 
 

Anmerkungen

Maximilian Link: Kracht, Christian; Woodard, David: Briefwechsel 2004–2009 – Band 1: 2004–2007. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.11.2011, S. 32.   zurück
Vgl. Eckhard Schumacher: Omnipräsentes Verschwinden. Christian Kracht im Netz. In: Johannes Birgfeld / Claude D. Conter (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 187–203.   zurück
Vgl. Georg Dietz: Die Methode Kracht. Christian Krachts irritierend rechtslastiger Roman »Imperium«. In: Der Spiegel Nr. 7 vom 13.02.12, S. 100–103. Vgl. dazu auch die Beiträge in Hubert Winkels (Hg.): Christian Kracht trifft Wilhelm Raabe. Die Diskussion um »Imperium« und der Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2012. Berlin: Suhrkamp 2013.   zurück
Vgl. Johannes Birgfeld / Innokentij Kreknin: Christian Kracht (Artikel). In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München: Edition Text + Kritik 2013.   zurück
Vgl. Christian Kracht tools. URL: http://www.christiankracht.com/tools (21.10.14).   zurück
So ist es bedauerlich, dass der von Hubert Winkels 2013 herausgegebene Band (vgl. Anm. 3) nicht mehr berücksichtigt werden konnte. Abgesehen von diesem sind seit dem Erscheinen der Bibliographie u.a. folgende Beiträge zu Kracht erschienen: Thomas Schwarz: Im Denotationsverbot? Christian Krachts Roman »Imperium« als Reise ans Ende der Ironie. In: Zeitschrift für Germanistik 24/1 (2014), S. 123–142; Ingo Vogler: Christian Krachts »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« zwischen Realität und Fiktion. In: Birgitta Krumrey u.a. (Hg.): Realitätseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Schreibweisen nach der Postmoderne? Heidelberg: Winter 2014, S. 161–178; Niels Werber: Krachts Pikareske. »Faserland«, neu gelesen. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 173 (2014), S. 119–129; Innokentij Kreknin: Die Faszination des Totalen: Autokratie und Fanatismus bei Christian Kracht. In: Christian Sieg / Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Autorschaft im Spannungsfeld von Religion und Politik. Würzburg: Ergon 2014, S. 145–166; Margherita Cottone: Provokation als moralische Haltung bei Christian Kracht. In: Maike Schmidt (Hg.): Gegenwart des Konservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Kiel: Ludwig 2013, S. 175–191; Gabriele Eichmanns: Die ›McDonaldisierung‹ der Welt: Das Parodieren der Erwartungen des westlichen Lesers in Christian Krachts »Der gelbe Bleistift« (1999). In: Jill E. Twark (Hg.): Strategies of Humor in Post-Unification German Literature, Film, and Other Media. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars 2013, S. 267–290; Hannah Gerlach: Relativitätstheorien. Zum Status von ›Wissen‹ in Christian Krachts »Imperium«. In: Acta Germanica 41 (2013), S.  195–210; Arnim H. Alex Seelig: Irony and Narrative Subtext in the Novel »1979« by Christian Kracht. In: Jill E. Twark (Hg.): Strategies of Humor in Post-Unification German Literature, Film, and Other Media. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars 2013, S. 242–266.   zurück