IASLonline

Kakanien, ein Translatanien?

  • Michaela Wolf: Die vielsprachige Seele Kakaniens. Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918. Wien: Böhlau 2012. 439 S. 26 Tab. und 20 Grafiken Abb. Paperback. EUR (D) 39,00.
    ISBN: 978-3-205-78829-4.
[1] 

Die Grazer Übersetzungswissenschaftlerin Michaela Wolf fasst Kakanien, wie die Habsburgermonarchie in Anspielung auf Musil halb liebevoll, halb ironisch gern bezeichnet wird, im Anschluss an postkoloniale Theorien (insbesondere Homi Bhabha) als hybriden polykulturellen Raum auf, in dem Kulturen und Identitäten durch permanente ›Verhandlung‹, zu der insbesondere auch Translate beitragen, konstruiert werden. Zwar erwähnt die Verfasserin kritische Stimmen, die dagegen anführen, dass in der Habsburgermonarchie die große geographische und kulturelle Distanz der Kolonie zum Mutterland und das ökonomische Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie fehlen, sehr wohl herrschen aber auch im Vielvölkerstaat asymmetrische Machtverhältnisse, die bei den Austauschbeziehungen zwischen den diversen Sprachen und Kulturen eine wichtige Rolle spielen. Insofern ist es folgerichtig, dass ein weiter Übersetzungsbegriff verwendet wird, der insbesondere auch »kulturelle« Übersetzungen, die per Definition Kulturdifferenzen aufdecken und vermitteln, einschließt.

[2] 

Eine Soziologie der Translation

[3] 

Aus der Perspektive der Translationssoziologie erscheint Übersetzung als interaktives soziales Geschehen, dessen Erforschung eine genaue Analyse der Rolle der daran beteiligten Akteurinnen und Akteure sowie Institutionen erfordert, es geht um »das Zusammenspiel jener Individuen, Kollektive oder Institutionen, die den Produktionsprozess des ›rewriting‹ steuern« (S. 39). Mit der Absicht, der Vielschichtigkeit der translatorischen Formen gerecht zu werden, unterscheidet Wolf die Polykulturelle Kommunikation und Translation innerhalb der Monarchie, für deren Zustandekommen eine Vermittlungsinstanz nötig ist, also alle Akte des internen Übersetzens und Dolmetschens. Transkulturelle Kommunikation bezeichnet dagegen die Translate aus Sprachen bzw. Kulturen außerhalb der Monarchie, z. B. Übersetzungen französischer oder osmanischer Texte und Einflüsse aus diesen Sprach- und Kulturräumen. Wie komplex die Lage realiter ist, zeigt sich zum Beispiel daran, dass Übersetzungen aus dem Italienischen sowohl poly- als auch transkulturell sein können.

[4] 

Das habsburgische Babylon

[5] 

Unter diesem Titel beschreibt Wolf die zeitgenössischen sprach- und nationalitätenpolitischen Verhältnisse und Diskurse rund um die in der Monarchie vereinigten zwölf Sprachen und Kulturen. Hier ist auch der Faktor der Auseinandersetzungen um die politische Herrschaft direkt greifbar, wenn z. B. bei Volkszählungen ein Bekenntnis zu einer Umgangssprache verlangt wurde, was den realen »multiplen, politisch ›transvestitenhaften‹, verschwommenen oder wechselnden Identifikationen« (S. 68) Hohn sprach. Mehrsprachigkeit gehörte in Kakanien schlicht und einfach zum Alltag. Nicht weniger komplex und umstritten war die Frage der Amtssprache(n). Nur wenn eine Sprache als »landesüblich« klassifiziert wurde, konnte sie neben dem dominanten Deutschen auch als Amtssprache Anerkennung finden. Die historischen Verschiebungen in der Gewichtung einzelner Sprachen werden durch die Statistik der Buchproduktion ersichtlich: während das Italienische nach den Gebietsverlusten 1859 bzw. 1866 fast zur Bedeutungslosigkeit absinkt, nimmt die Bedeutung der slawischen Sprachen gegen das Ende der Monarchie hin stetig zu.

[6] 

Von »Tauschkindern« und »Sprachknaben«

[7] 

Das erste Hauptkapitel behandelt die translatorische Praxis, wobei wie schon angedeutet, auch die informelle »kulturelle« Translation in Form von Zwei- oder Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel bei Personengruppen wie Dienstboten, Handwerkern oder Tauschkindern, die an Sprachgrenzen einige Jahre bei Familien auf der jeweils anderen Seite verbrachten, eingeschlossen ist. Das institutionalisierte Übersetzen umfasst den Sprachunterricht in Schulen, die Regelungen zur Sprachverwendung in der Armee und in der Administration. Das polykulturelle Dolmetschen bzw. die polykulturelle Translation im engeren Sinn war bei Hof, später im Parlament, und bei Gericht notwendig. Besonders eindrucksvoll im Hinblick auf die Komplexität und die Herausforderungen in diesem Bereich ist das 1849 in Angriff genommene Projekt deutsch-slawischer Wörterbücher der juridisch-politischen Terminologie. Die in Folge projektierte Übersetzung des periodischen Reichsgesetzblattes in zehn Sprachen der Monarchie scheiterte nach kurzer Zeit – wenig überraschend – an dem damit verbundenen Aufwand. Im Ministerium des Äußeren waren gleich zwei Stellen mit Übersetzungsaktivitäten befasst, nämlich die »Sektion für Chiffrewesen und translatorische Arbeiten« und das der Presseauswertung gewidmete »Literarische Bureau«. Erstaunlich ist die ins 17. Jahrhundert zurückreichende Praxis, Jugendliche nach Istanbul zu senden, die dort über Jahre hin die türkische Sprache und Kultur studierten. Unter Maria Theresia wurde der Spracherwerb durch die Gründung der Orientalischen Akademie professionalisiert, 1898 die der allgemeinen Ausbildung von Diplomaten gewidmete Konsularakademie eingerichtet. In den aufgezählten Bereichen wurden innerstaatliche nationale Spannungen ›ausgehandelt‹ und/oder im Verkehr mit dem ›Ausland‹ kultur- und identitätsstiftende Prozesse in Gang gesetzt, die translatorische Vermittlertätigkeit trug somit entscheidend zum Funktionieren des Vielvölkerstaats bei.

[8] 

»Garantirt richtige« Übersetzungen von privater Hand und staatliche Übersetzungspolitik

[9] 

Ab den 1870er Jahren treten verstärkt private Übersetzungsdienstleister und Übersetzungsbüros in Erscheinung. Die Privatisierung ist an dem zunehmenden Wettbewerb und der Werbung erkennbar, die »garantirt richtige Uebersetzung«, »tadellose Ausführung« oder »formvollendete Uebersetzung« verheißt (Zitate auf S. 207). Der Übersetzungsbetrieb professionalisiert und autonomisiert sich, d. h. er löst sich zu einem gewissen Grad aus religiösen oder politischen Abhängigkeiten und folgt seiner eigenen Handlungslogik. Gleichzeitig übt der Staat durch Zensur, (mangelnde) Urheberrechtsgesetze und Literaturförderung noch immer regelnden Einfluss auf das Gewerbe aus. Dennoch brachte Österreich auch bedeutende literaturübersetzende Vermittler wie Siegfried Trebitsch (Shaw) oder Marie Herzfeld (skandinavische Literatur) hervor.

[10] 

Zahlen, Zahlen, Zahlen ...

[11] 

Die Statistik der Übersetzungstätigkeit in Österreich kann auf keine verlässliche homogene Quelle zurückgreifen, man muss vielmehr diverse bits and pieces zusammensetzen, um zumindest die Grundlinien der Entwicklung, nämlich einen schwachen, aber doch kontinuierlichen Anstieg im behandelten Zeitraum, sichtbar zu machen. Die herangezogenen Quellen weisen gut dreitausend auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie erschienene Übersetzungen ins Deutsche aus, was im Vergleich mit dem output der in den deutschen Staaten bzw. dem Kaiserreich ansässigen ›Übersetzungsfabriken‹ eine äußerst bescheidene Quote darstellt. Die Übersetzungsproduktion wird nach allen erdenklichen Kategorien aufgefächert, nach Gattungen, Geschlecht der Übersetzer, Verlagsorten und Verlagen u.a. Ein grundsätzliches Problem tut sich hier auf: es werden für die Statistik die im habsburgischen Territorium erschienenen Übersetzungen herangezogen, nicht aber die in den deutschen Staaten bzw. dem Kaiserreich erschienenen Übersetzungen. Die Beschränkung ist verständlich, verzerrt aber die Verhältnisse, da einerseits österreichische Übersetzer für ›ausländische‹ Verlage arbeiteten, andererseits in Österreich im ›Ausland‹ produzierte Übersetzungen kursierten. Der literarische Markt nimmt keine Rücksicht auf staatliche Grenzen. Der daraus resultierenden komplexen Gemengelage der Lektüre ist freilich nur durch äußerst aufwändige Distributions- und Rezeptionsforschung beizukommen, weshalb dieser Kritikpunkt hier nur am Rande erwähnt sei.

[12] 

Eine Fallstudie zu den Übersetzungen aus dem Italienischen ins Deutsche

[13] 

Die Stereotypen der gegenseitigen österreichisch-italienischen Wahrnehmung sind bekanntlich sehr vielfältig, es überlappt sich das romantisch-idyllische Italien Goethes mit dem des aktuellen politisch-militärischen Gegners. Die jährliche italienische Buchproduktion innerhalb der Monarchie sinkt nach den Verlusten der Lombardei und Venetiens rasch in den einstelligen und niedrig-zweistelligen Bereich. Einen ähnlichen Befund ergeben die italienischen Bestände der Leihbibliotheken. Die Zahl der Übersetzungen aus dem Italienischen ins Deutsche zwischen 1848 und 1918, deren Vorlagen zumeist aus dem nicht-habsburgischen Italien stammen, beträgt 1741 Titel, inklusive Beiträgen in Periodika, Sammelbänden, Anthologien u. ä. An der Spitze liegen Lyrik, eher triviale Prosa, Theater, Theologie, Naturwissenschaften, Politik und Reisebeschreibungen. Innerhalb der Habsburgermonarchie erschienen von den gut siebzehnhundert Titeln aber gerade einmal 254. Diese Titel werden nach Verlagsorten, Publikationsart, Geschlecht der Übersetzenden und dem Vorhandensein oder dem Fehlen von Paratexten aufgeschlüsselt. Der letztgenannte Aspekt verdient Beachtung, weil Paratexte den vermittelnden Charakter von Übersetzungen betonen und rezeptionssteuernd wirken. Beispiele für übersetzerische Selbstkommentare, Widmungen, Motti, Verlagsanzeigen und Vorworte werden hier analysiert, Extremfälle sind Fortsetzungen der Vorlage durch den Übersetzer (Ceasare Balbos Geschichte Italiens von den ältesten Zeiten bis zum Jahr 1814, übersetzt und fortgeschrieben von Richard Moll) oder Bearbeitungen (Edmondo de Amicis’ Marokko, das von Amand von Schweiger-Lerchenfeld für ein deutschsprachiges Publikum ›verständlich‹ bearbeitet wird). Das symbolische Kapital der Ausgangstexte gibt im Fall von (modernen) Klassikern (Dante, Manzoni, Verga, D’Annunzio) den Ausschlag für Übersetzungen. Hier tauchen bisher weitgehend unbekannte Vermittler auf, z. B. Otto Hauser oder Otto Eisenschitz, der zahlreiche Übersetzungen aus der italienischen Literatur im »Wiener Verlag« herausbrachte. Schriftenreihen wie Hartlebens Belletristisches Lese-Cabinet oder Wallishaussers Wiener Theater-Repertoir bündeln die literarischen Vermittlungsaktivitäten. Insgesamt betrachtet ist der Vermittlungssektor aber nur schwach ausgebaut und daher labil.

[14] 

Theorie und Empirie

[15] 

Wolf gelingt es, ausgeprägte Theorieinteressen mit ebenso intensiv betriebener Datensammlung zu verbinden. Die in jahrelangen Material- und Archivrecherchen zusammengetragenen Daten stellen einen wichtigen Fundus für die Geschichte des literarischen und kulturellen Lebens in Österreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dar. Zuweilen entsteht der Eindruck, dass die Daten nicht ausreichend ausgewertet werden und der für ihre Erstellung investierte Aufwand hinter dem Ertrag zurückbleibt. Auch fällt die Theorie der Darstellung immer wieder unvermittelt ins Wort, der ehrgeizige Anspruch, ein über den Anlass hinausgehendes allgemeingültiges transfersoziologisches Konzept zu erstellen, unterbricht die Darstellungen der Fallstudie. Im Sinn eines geradezu enzyklopädischen Untersuchungsrasters werden auch Quellen eingefordert, die für das behandelte Corpus nicht aufzufinden waren (so Aufschlüsse über die Transferaktivitäten einzelner Buchhändler oder Subskriptionslisten im Abschnitt über die italienische Literatur; vgl. S. 352–355). Diese kleinen Einwände gegen die Anlage und die Präsentation der Ergebnisse sollen die Verdienste der Untersuchung in keiner Weise schmälern. Die Studie erschließt weitgehend noch unbearbeitetes Terrain und ebnet den Weg für weiterführende Detailuntersuchungen.

[16] 

Hybride Monarchien?

[17] 

Aus der Sicht von Wolfs Übersetzungsgeschichte erscheint die Habsburgermonarchie als postmoderne Versuchsstation avant la lettre, in der permanente polykulturelle Übersetzungsprozesse für uneindeutige dritte Räume und »verknotete Subjekte« (so S. 365 in Anlehnung an Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius) sorgten. Wenn in einem von zahlreichen kulturellen Differenzen geprägten Staat solche gewissermaßen zentrifugalen Kräfte ohne Zweifel wirkten, so sollte man darüber die zentripetalen, zentralistischen und homogenisierenden Kräfte nicht vergessen. Der nicht lösbare Konflikt zwischen diesen Kräften (ein Übersetzungsproblem?) führte letztlich zur finalen Katastrophe. Wenn sich Analogien zur Europäischen Union (z. B. S. 17: »Experimentierstelle für die EU«) aufdrängen, so bleibt zu hoffen, dass diese ein glücklicheres Ende findet als die Habsburgermonarchie.