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»Was hätte Thomas Mann dazu gesagt?«

Ein interdisziplinärer Sammelband untersucht das Verhältnis von Der Tod in Venedig und Luchino Viscontis Morte a Venezia

  • Francesco Bono / Luigi Cimmino / Giorgio Pangaro (Hg.): Morte a Venezia. Thomas Mann / Luchino Visconti: Un Confronto. Soveria Mannelli: Rubbettino Editore Rubbettino 2014. 238 S. EUR (D) 14,00.
    ISBN: 978-88-498-3937-1.
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»Passaggi di confine« (Grenzüberschreitungen): so heißt die Reihe des kalabrischen Verlegers Rubbettino, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Grenzgebiete zwischen dem Film und seinen Nachbardisziplinen – Fernsehen, Photographie, Malerei, Musik, Theater, Literatur usw. – zu untersuchen. Welche Migrationen, Begegnungen, Kontaminationen und Konflikte finden hier statt und welcher Instrumente bedarf es, sie zu analysieren? Der beliebteste Forschungsgegenstand aus dieser Sphäre der Intermedialität sind sicher die Literaturverfilmungen, denen im Rahmen von »Passaggi di confine« verschiedene Bände gewidmet wurden, von Orson Welles‘ Prozess über Bressons Dostojevskij bis zu Apocalypse now, F. F. Coppolas Bearbeitung von Conrads Heart of Darkness. Die interdisziplinäre Herangehensweise, die diese Studien kennzeichnet, beschränkt sich nicht auf den binären Vergleich Text-Verfilmung, sondern betrachtet beide Produkte sowohl in ihrer semiotischen Differenz, als auch in ihrer vielfältigen intertextuellen, musikalischen, ikonographischen Verwobenheit. Luchino Viscontis Morte a Venezia präsentiert sich unter diesem Blickwinkel als höchst interessantes Objekt; denn schon die Mannsche Novelle ist in ihrer psychologisch-philosophischen, mythologisch-parodistischen und musikalischen Dimension vielschichtig deutbar, während Viscontis Verfilmung sich, sechzig Jahre danach, als künstlerisch anspruchsvolle, eigenwillige Interpretation und Fortschreibung des Mannschen Textes erweist. Was nun den vorliegenden Sammelband gegenüber zahlreichen Studien zu diesem Thema auszeichnet, ist die Vielfalt der methodischen Zugänge, aus deren Summe ein Deutungskaleidoskop entsteht. Literatur-, Kunst- und Musikhistoriker, Philosophen und Filmwissenschaftler verschiedener Provenienz gelangen, in ihren oft überraschenden Beiträgen, auch zu unterschiedlichen ästhetischen Urteilen.

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Elegie statt Parodie

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Der Aufsatz des Bremer Medienforschers Imbert Schenk geht von der biographischen Beobachtung aus, dass Mann und Visconti einander beinahe auf dem Lido von Venedig begegnet wären; denn nur ein Jahr nach dem dortigen Aufenthalt des Schriftstellers – es war Mahlers Todesjahr 1911 – verbrachte die Visconti-Familie mit dem kleinen Luchino ihren Urlaub ebenfalls im Grand Hotel des Bains. In seiner psychologischen Studie stellt Schenk das individuelle, zugleich aber emblematische Triebschicksal Aschenbachs in den Mittelpunkt, seine asexuelle Sublimation des Eros, die zur Selbstzerstörung führe. Durch den weitgehenden Wegfall der bei Thomas Mann vorherrschenden Ironie werde die Verfilmung zu einem melancholisch-pessimistischen Rückblick auf die Décadence. Viscontis gesamtes Schaffen ist bekanntlich von literarischen Vorlagen geprägt, von Boito und Verga über Dostojevskij, D‘Annunzio und Tomasi di Lampedusa bis zu Albert Camus. Der Triestiner Filmhistoriker Luciano De Giusti weist nun im einzelnen nach, wie unterschiedlich der Regisseur im Umgang mit diesen Texten verfährt. Da stehen drastische Eingriffe (Senso, Notti bianche, L‘Innocente) neben extremen Bemühungen um Werktreue, wie im Fall des (allerdings misslungenen) Straniero nach Camus. Eine Ausnahme bilde in diesem Panorama der berühmte Gattopardo, ein Meisterwerk der Literaturverfilmung, das der vollen Identifikation Viscontis mit der historisch-skeptischen Perspektive des Erzählers, wenn nicht gar mit dem von Burt Lancaster verkörperten Prinzen von Salina selbst zu verdanken sei. Ein verwandter Blick auf den Untergang des alten Europa komme auch in Morte a Venezia zur Geltung, wo die Mannsche Parodie weitgehend lyrisch-elegisch umgedeutet werde. Dieses Abhandenkommen der parodistischen Distanz im Übergang von der Novelle zum Film wird von den meisten Beiträgern des vorliegenden Bandes betont, so auch von dem Mitherausgeber Luigi Cimmino, der dies an der Behandlung der Mythen (Apoll, Dionysos usw.) aufweist. Das ironische Spiel Thomas Manns mit den antiken Modellen werde bei Visconti aufgrund eines »Mangels an Distanz« zu einer bitterernsten Angelegenheit. Weniger skeptisch gegenüber Morte a Venezia ist hingegen das Urteil des Germanisten Fabrizio Cambi. In seiner rezeptionsästhetisch orientierten Studie erscheint Viscontis Verfilmung als kühne Fortschreibung des Mannschen Textes, in die Elemente des Doktor Faustus raffiniert eingewoben seien. Durch die Aufnahme von Reflexionen des Spätwerks über Nietzsche, Wagner, Génie, Krankheit und Décadence habe der italienische Regisseur eine kluge Interpretation zu Der Tod in Venedig geliefert. Die von Cambi hypothetisch formulierte Frage: »Was hätte Thomas Mann zu dieser Verfilmung gesagt?« bleibt freilich notwendiger Weise ohne Antwort.

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Blicke

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Auf ein Äquivalenzmodell stützt sich der Germanist Eugenio Spedicato in seiner minutiösen narratologischen Text- und Filmanalyse, wobei er das tertium comparationis der beiden Werke im Ästhetizismus erkennt. »Glanz und Elend« der Décadence werden, nach seinem Befund, von beiden Autoren kritisch gesehen, doch werde diese Distanz auf sehr verschiedene Weise erzeugt. So ersetze beispielsweise das feiste Lachen der Straßenmusikanten bei Visconti die Ironie des Erzählers, und die den Rückblenden anvertrauten ästhetisch-kritischen Diskussionen zwischen Gustav und Alfried erwiesen sich als Äquivalent der unterdrückten Traumsequenzen. Die vom Regisseur beinahe obsessiv eingesetzten Blick-Wechsel zwischen Tadzio und Aschenbach aber verrieten weniger eine sexuelle Anziehung, als die raffinierte ästhetische Erziehung eines »sybaritischen« Voyeurs, eine Lesart, die zu manchen gender-betonten Deutungen auf Distanz geht. Dass Visconti während der Dreharbeiten an Morte a Venezia auch eine Verfilmung der Proustschen Recherche plante, ist sicher kein unbedeutendes Détail; denn – so vermerkt der Mitherausgeber Giorgio Pangaro in seinem Beitrag – in beiden Projekten spiele die Dimension der Zeit und der Erinnerung eine entscheidende Rolle. Woran jedoch nach Auffassung Pangaros die Verfilmung scheitere, das sei die Unmöglichkeit, die Mannsche Darstellung der eigenen Epoche mehr als ein halbes Jahrhundert später durch die Evokation einer untergegangenen Welt zu ersetzen. Der Epochensprung, so das Fazit, verhindere eine wahre »Blutsverwandtschaft«. Eine Beziehung zur Recherche stellt auch der, an Alain Badious intermedialer Filmtheorie orientierte Daniele Dottorini her, der in Viscontis Weitwinkel-Aufnahmen ein Analogon zur Proustschen Satzstruktur erkennt, darüber hinaus aber auch zu den melodischen Bögen Gustav Mahlers. In dem Zusammenspiel der Künste werde gerade die Musik zum bewegenden Element, zum »Vektor« eines Films, der sonst in der Statik der Personenführung zu erstarren drohe. Mann-Proust-Mahler: diesem Dreigestirn des Fin de siècle habe Visconti sich anzunähern, wenn nicht gar einzugliedern versucht. Gegen eine solche identifizierende Sicht wendet sich Matteo Galli, der für seinen Beitrag das futuristische Motto »A morte Venezia!« (»Tötet Venedig!«) zum Titel wählt. Galli erinnert daran, dass in dem 1910 erschienenen ikonoklastischen Anti-Venedig-Manifest Marinettis die Lagunenstadt als Kloake des Passatismus und durchgewetzte Touristen-Matratze bezeichnet worden war. In (vermutlicher) Kenntnis dieses und vieler anderer Texte habe Thomas Mann in seiner Novelle einen parodistischen Meta-Text verfasst, der alle gängigen Venedig-Klischees, von der irreal-phantastischen Dimension der Stadt über Schmutz, Krankheit und Verfall bis zum Touristenfang, zitiere und zugleich ad absurdum führe. Aschenbach, der gefeierte, klassisch gebildete Schriftsteller, sei wie jeder Durchschnittstourist allen Gemeinplätzen verfallen. Diese krasse Intellektuellen-Parodie werde von Visconti nicht erfasst und nur unwissentlich dadurch übernommen, dass er Aschenbach als einen Mann darstelle, dessen Blick de facto nichts sehe. Von Viscontis Insistenz auf dem Blick geht auch der Filmhistoriker Henry Bacon in seiner an Lacan orientierten Analyse aus. Anstelle der bei Mann vorherrschenden Betrachtung (Kontemplation), werde bei Visconti der Blick zum Schlüssel, doch nicht im Sinne von Nabokovs Lolita, wo das sexuelle Begehren von Humbert Humbert in Besitzergreifung und Schuldgefühle münde, sondern als Sublimierung ebendieses Begehrens, als dessen masochistische Verewigung dank seiner Nichterfüllung. Nicht durch seinen Besitz werde ja das Objekt genossen, sondern durch seine ästhetische Überhöhung. Sublimierung als Voraussetzung des Ästhetizismus: diese Deutung von Aschenbachs Blicken, der wir schon bei Schenk, Spedicato und anderen begegnet sind, steht also auch bei Henry Bacon im Mittelpunkt.

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Zusammenspiel der Künste

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Von besonderem Interesse im Rahmen dieses interdisziplinären Bandes ist der Beitrag des Amsterdamer Photographiehistorikers Ivo Blom, der sämtlichen »intervisuellen« Bezügen von Morte a Venezia nachgeht. Photographien spielen nicht nur als szenische Elemente, sondern auch in der Vorbereitungsphase von Viscontis Filmen eine wichtige Rolle. So wurde etwa Silvana Mangano nach alten Aufnahmen von Viscontis Mutter geschminkt und gekleidet. Gemälde seien als Inspirationsquelle allenthalben erkennbar, von den Venedig-Impressionen Turners, Monets, Whistlers, Singer Seargents und Boldinis bis zu den Strandszenen von Fattori und anderen Macchiaioli. Auch ganz spezielle malerische Techniken werden von Blom ausfindig gemacht, wie etwa die Verwendung einer im Vordergrund befindlichen Blumenvase als »Repoussoir«, d.h. zur Erzeugung einer Tiefendimension, worin Edgar Degas ein Meister war. Intervisuell ist schließlich auch die Anleihe bei anderen Filmregisseuren, von Viscontis Lehrer Jean Renoir über die russische Avantgarde bis zu Josef von Sternberg, dem er u.a. die raffinierte Verwendung von Spiegeln abgeschaut habe. So sei die Quelle der Bordell- und Friseurszenen in Morte a Venezia im Blauen Engel auszumachen. Was nun die fundamentale Beziehung des Films zur Musik Gustav Mahlers betrifft, so steuert Antonio Caroccia eine gründliche Analyse der von Visconti verwendeten Stücke bei. Mithilfe mehrerer Interviews des Regisseurs und des Filmkomponisten Franco Mannino rekonstruiert Caroccia sowohl die »Entdeckung« Mahlers durch Visconti, als auch den komplexen Prozess der Auswahl bestimmter Passagen. Die zentrale Funktion der Dritten Symphonie wird durch deren intertextuelle Verwobenheit mit Wagner, Schopenhauer und vor allem Nietzsche erklärt, die Wahl des Adagietto aus der Fünften hingegen mit der hier noch deutlicher hervortretenden kühnen Tendenz zur Auflösung klassisch-romantischer Formen. Dass Visconti bei der Auswahl dieser Passagen mehr an Adrian Leverkühn dachte als an Gustav Aschenbach, ist eine naheliegende Vermutung. Der umfangreiche Beitrag des Amerikanisten Alessandro Clericuzio ist den verschiedenen Phasen der Rezeptionsgeschichte sowohl von Manns Novelle, als auch von Viscontis Verfilmung in Presse und Literatur der angelsächsischen Welt gewidmet. Der Tod in Venedig fand bei homosexuellen Autoren wie Christopher Isherwood und Gore Vidal große Beachtung und wurde für verschiedene Texte von Tennessee Williams zur Inspirationsquelle. Man denke etwa an die Straßenbahnhaltestelle am Münchner Friedhof, die in A Streetcar Named Desire zitiert wird. Die kritische Diskussion um den Text wurde, wie Clericuzio nachweist, in den letzten Jahren sowohl von Vertretern der gender studies, als auch von kulturwissenschaftlich orientierten Forschern wieder belebt. Während erstere der Frage »Why is Tadzio a boy?« nachgingen, verstünden letztere das Grand Hotel des Bains auf dem Lido von Venedig bis ins Detail als Allegorie des Verfalls einer einheitlichen, aristokratisch geprägten europäischen Kultur. Die Frage würde jetzt, analog formuliert, lauten: »Why does a Polish boy hate the Russians?« Ähnlich wie diese Rezeptionsgeschichte ließe sich auch diejenige von Viscontis Film lesen: als ein Feld der Aushandlung ideeller bzw. ideologischer Positionen. Auch der den Band abschließende, von Francesco Bono und Gianni Sarro verfasste Beitrag ist einem Aspekt der Werkrezeption gewidmet: der Aufnahme von Viscontis Film bei der italienischen Presse und bei den Intellektuellen. Diese kann als vorwiegend positiv bezeichnet werden, wobei allgemein eine geistig-stilistische Wahlverwandtschaft zwischen Schriftsteller und Regisseur betont wird. So spricht beispielsweise Giovanni Raboni von einem latenten »Thomasmannismus« in Viscontis Gesamtwerk, der nun endlich offen zutage trete, während Alberto Moravia den Regisseur sogar in der Rolle einer Mannschen Romanfigur sieht. Kameraführung, Filmmusik und schauspielerische Leistung werden allgemein bewundert, nur die Verwendung der Rückblenden von mehreren Rezensenten als aufdringlich und störend moniert.

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Eine ausführliche Bibliographie der deutsch- und englischsprachigen, französischen und italienischen Beiträge zu Morte a Venezia beschließt den reichhaltigen, niveauvollen und in manchem seiner Beiträge innovativen Band, den jede/r an Visconti und Thomas Mann, aber auch an Methodenfragen der intermedialen Analyse von Literaturverfilmungen Interessierte mit großem Gewinn lesen wird, sofern er/sie des Italienischen mächtig ist.