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Tieck und die Entdeckung 'reiner Sichtbarkeit'

  • Norman Kasper: Ahnung als Gegenwart. Die Entdeckung der reinen Sichtbarkeit in Ludwig Tiecks frühen Romanen. (Laboratorium Aufklärung 18) München: Wilhelm Fink 2014. 274 S. 34,90 Abb. Kartoniert.
    ISBN: 978-3-7705-5556-7.
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Auf einen Eichendorff-Titel anzuspielen, die Anspielung als Chiffre über eine Arbeit über Tiecks frühe Romane zu setzen und so mittels einer Einzelanalyse den romantischen Kunstbegriff unausgesprochen auszuweiten: Ist das nicht gewagt, ja selbst eine Art »frecher Historismus«, den Kasper in einer Rezension Tieck unterstellt? 1 Kasper geht sogar noch weiter, er schreibt die ›Entdeckung‹ der reinen Sichtbarkeit – Ausgangspunkt moderner Kunstbetrachtung von Fiedler bis zu Imdahl – Tieck zu. Vor allem der Roman Franz Sternbalds Wanderungen (1798) weise auf

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jene Merkmale, die für den Kunst-Diskurs um die reine Sichtbarkeit und die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts maßgeblich werden: Lob der Farbe, Verweis des künstlerischen Gestaltens auf die Flächigkeit der Leinwand, Abkehr vom Objektillusionismus, konsequente Fokussierung auf die Wirkungsästhetik. (S. 240)
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Gewöhnlich wird die Konzeptualisierung ›reiner Sichtbarkeit‹ dem Kunsttheoretiker Konrad Fiedler (1841–1895) zugeschrieben. Er sah es als Aufgabe der Malerei an, bei der Abbildung eines Objekts dieses allein in seiner visuellen Qualität zu erfassen. Der von allen anderen Sinnesdaten, vor allem der Haptik, isolierte Seheindruck wird zum Wesen der Bildkunst und begründet den Primat von Fläche und Farbe. 2 Die Befreiung des Bildes aus den Zwängen der Naturnachahmung kündigt die subjektiven und abstrakten Bildwelten der modernen Kunst an.

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Nun glaubt Kasper, die »Entgegenständlichungstendenzen der bildlichen Darstellung« (S. 12) bereits bei Tieck und einigen seiner Zeitgenossen nachweisen zu können. In seiner Arbeit zeichnet er die Entwicklung des Visualitätsdiskurses von den erkenntnistheoretisch geleiteten Sinnesanalysen der Aufklärungsanthropologie im frühen 18. Jahrhundert bis um 1800 nach. Zu Beginn enthüllen deren Überlegungen und Experimente zum Sehsinn vor allem den Konstruktivismus des menschlichen Geistes, der aus ungeordneten Sinnesdaten die Wirklichkeit synthetisiert. Um ein ›verstehendes‹ Sehen zu ermöglichen, bedarf es auch der Hilfe anderer Sinne, vor allem des Tastsinns.

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Im Gegensatz dazu gehe es Tieck um die Aufwertung des primären Sinneseindrucks vor seiner kognitiven Verarbeitung. Das Oszillieren zwischen Farbspiel und Deutung mache das Geheimnis der Kunst aus. Den Weg zu dieser Auffassung zeichnet Kasper anhand der beiden frühen Romane Tiecks nach: Die Geschichte des Herrn William Lovell (1795/96) und Franz Sternbalds Wanderungen (1798). Während der ältere Roman die Aporien des reinen Sehens als Erkenntniskrise inszeniere, indem Wahrnehmungsakte in Wahn oder Selbsttäuschung umschlügen, idealisiere Tieck im Sternbald die rein visuelle Sinnlichkeit zur Transzendenz in der Immanenz. Oder, um mit dem Autor nach einem aktuelleren Terminus zu greifen – es geht um die frühe Darstellung von Präsenz.

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»Die These der Arbeit lautet [...]: Wo der Lovell in der Diskussion reiner Sichtbarkeitswerte die erkenntnispraktische Insuffizienz einer sinnlich-körperlich vermittelten Außenwelterschließung entfaltet, formuliert der Sternbald eine schlüssige Wendung zur Kunst.« (S. 20). Bliebe Kasper dabei stehen, wäre die generalisierende Feststellung natürlich trivial, zumal sich die Frage stellte, ob sich beide Romane thematisch gleichermaßen fundamental auf kunst- bzw. bildtheoretische Fragestellungen beziehen lassen. Die ältere Forschung hat sich zumeist dafür ausgesprochen, Tieck führe anhand der von Sternbald imaginierten Bildwelten gerade die Grenzen der idealisierenden und damit an der Realisation scheiternden Kunst vor. Damit sind aber die Wahrnehmungskonzepte in Lovell und Sternbald nicht in Opposition zu bringen, sondern spielen ein Problem – die vom menschlichen Konstruktivismus verunklarte Wahrnehmung der Welt als individuelle Sinnkrise – an verschiedenen Lebensentwürfen durch.

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Mit der Konzentration auf den Aspekt der reinen Sinnlichkeit stellt Kasper aber einen vielversprechenden Ansatz vor, um sich an eine Neudeutung der beiden Romane zu machen. Dass ihn dabei nicht nur Tiecks frühes Romanschaffen interessiert, belegt schon der Aufbau seiner Arbeit, von der sich nur etwa ein Drittel des Texts den Romananalysen widmet. In den Vordergrund rückt bei Kasper die Diskursgeschichte des ›reinen Sehens‹, die er unter Aufbietung zahlreicher kunstwissenschaftlicher Theorieansätze seit etwa 1750 bis in die Gegenwart skizziert.

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Vom aufklärerischen Konstruktivismus zur romantischen Präsenzerfahrung

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Kasper beginnt mit einem umfänglichen Problemaufriss, in der er die komplexen Konstellationen des Visualitätsdiskurses erläutert, um die Bedeutung von Tiecks Beitrag herausstreichen zu können. Hier stellt er bereits die wesentlichen Thesen seiner Arbeit vor.

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Kasper verneint, es gehe Tieck lediglich um ästhetische Selbstreflexivität oder dieser arbeite einer abstrakten Kunst vor (S. 71 f.). Tieck halte an der Geltung der Allegorie fest, verpflichte Malerei aber auf deren Präsenz und fundiere sie nicht-hermeneutisch. Das Kunstwerk solle durch seine Erlebnisintensität von Farbe und Licht (S. 73) Transzendenzerfahrungen ermöglichen und werde deshalb seiner Zeichenhaftigkeit entkleidet:

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Nicht dem Geistigen soll ein materieller Körper durch das Bild verliehen werden, vielmehr wird die Materialität des Erlebens nun ihrerseits als Offenbarungsgeschehen begriffen, das den Kontakt zum Göttlichen erst innerhalb der unmittelbaren Erfahrungssituation herstellt. Das Bild macht dies nun sichtbar. Die Materialität des Sehens als Sehen der Farbe konstituiert so eine Kunst der religiösen Empfindung, keine Kunst dezidiert religiösen Inhalts. (S. 78 f.)
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Das Neue an Tiecks frühen Romanen sei nun die Auflösung des Formprimats. Form habe hinter der Wirkung der Farbwerte und der Flächigkeit zurückzutreten: »Die formlose Wirklichkeit des Bildes tritt an die Stelle einer dem Seh-Akt vorgängigen vollkommenheitstheoretisch fundierten Verbindung von Wahrheit und Schönheit.« (S. 79) Diese die Bildkunst der Moderne antizipierende Kunstdeutung sei freizulegen: Es gelte, »das Gestaltungsprinzip des Malerischen als Voraussetzung für die unerhört modernen Bildlichkeitsentwürfe des Sternbald zu entdecken und in seiner Entstehung zu rekonstruieren.« (S. 81)

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Eine Begriffs- und Konzeptionsgeschichte des Malerischen

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Nachdem er das Diskursfeld entworfen hat, geht Kasper ins historische Detail. Hier kommt er auf verschiedene Konzepte des Malerischen zu sprechen, in dessen unterschiedlichen Konzeptualisierungen sich die reine Sichtbarkeit herausbilde: In einem großen Abschnitt wird dazu der Aufwertungsprozess des unmittelbaren Sehens am Begriff des Malerischen – als dem ersten »Modellfall einer solchen Bildidentität« (S. 86) – nachvollzogen. In einer ausführlichen Analyse spürt Kasper zunächst der Gegenüberstellung von plastisch-klassischer und malerisch-romantischer Kunst in der Kunsttheorie August Wilhelm Schlegels nach, die Wölfflins Kontrastpaar ›malerisch/plastisch‹ antizipiert. Er zeigt dies vornehmlich an Schlegels Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801/02) und über dramatische Kunst und Literatur (1808).

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Damit ist der Aktionsradius des Malerischen beschrieben. Mit Blick auf die Genese reiner Sichtbarkeit […] bildet Schlegels Konzeption eine wichtige Bezugsfolie. Die hier formulierte Aufwertung der sinnlichen Farbwirklichkeit arbeitet dem für den Lovell [der Roman erschien 1795/96, Anm. des Rez.] charakteristischen Dualismus von Wahrnehmungszweifel und sinnlicher Empfindungslust entgegen. (S. 122)
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Anschließend entfaltet Kasper seine Diskursarchäologie des reinen Sehens anhand verschiedener kunsttheoretischer und sinnesphysiologischer Theoreme der Aufklärungszeit. Hier beschäftigt ihn vor allem die Herausbildung des sinnesphysiologischen Aspekts, der eine weitere Grundlage des Konzepts der reinen Sichtbarkeit bildet. Wichtig ist ihm auch die »Materialität des Sinnlichen als Gegenwartseffekt« als »Voraussetzung für die Entdeckung eines spezifisch malerischen Wirkungspotentials« (S. 125 f.). Es komme zur Herausbildung zweier »Sichtbarkeiten«, jener der reinen Farb- und Lichtwerte im rezipierenden Organ und jener der kognitiven Konstruktion des Bildes. (S. 127 f.)

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Den letzten Aspekt vertieft Kasper mittels Analysen zum Konzept des Pittoresken. Die englischen Theoretiker William Gilpin, Uvedale Price und vor allem Richard Payne Knight zielten mit ihrer Wirkungsästhetik des Pittoresken auf das Ausschalten des die Sinnesdaten verarbeitenden Intellekts ab. Nicht der Materie, sondern dessen Schein gelte das Pittoreske. Das Malerische löse sich damit vom imitatorischen, objektorientierten Kunstschaffen ab (S. 148), es stelle die Weichen für die Überwindung der Naturnachahmung in der bildenden Kunst. 3

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Das Sehen in den frühen Romanen Tiecks

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All die genannten Aspekte des Malerischen münden in die abschließende Detailstudie zu den beiden Romanen Tiecks, die diese Entwicklungen Kasper zufolge antizipieren. Um die Romane seiner These entsprechend charakterisieren zu können, bezieht er sich auf Fechners Begriffe des ›oberen‹ und ›unteren Bildes‹, die auf ihre kognitiven Ursprünge im Intellekt bzw. der Sinnlichkeit verweisen sollen (S. 146). Im Lovell entfalte das ›obere‹, das idealistische Bildmodell seine verderbliche Wirkung und führe die Romanprotagonisten in die Krise. Denn für Kasper repräsentiert der Roman William Lovell die Krise des Sehens, Tieck problematisiere hier die kognitive Transformation visueller Informationen. Dies wird besonders an der Deutung der Phänomene deutlich, die die Romanfiguren Balder und Lovell beunruhigen: Die Gespenster Balders seien »nichts anderes als seelische ›obere‹ Bilder der Angst.« (S. 162). Balders Geisterseherei steht Lovells »radikaler Sensualismus« (S. 190) gegenüber:

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Sexuell-sinnliche Erregung und Erlebnisintensität beim Kunstgenuss zu konvergieren, so dass Rausch und Raserei als ›bacchantische Wut‹ zu Praktiken einer Vergnügungssinnlichkeit werden können, die – Kunst und Leben in eins setzend – empfindsam-sozialethischen decorums-Vorschriften wie auch kunsttheoretisch-ästhetischen Sublimierungsgeboten klassizistisch-idealistischer Provenienz zuwiderlaufen. (S. 176)
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Anhand einer aufschlussreichen Textstelle aus dem Roman – »Laß das bunte Gewühl nicht ermüden, damit uns die Nüchternheit nicht entgegenkömmt, die hinter den Freuden lauert, und so immer wilder und wilder in jauchzenden Schwunge, bis uns Sinne und Atem stocken, die Welt sich vor unsern Augen in Millionen flimmernde Regenbogen zerspaltet« (zit. n. Kasper S. 191) – sucht Kasper den gesamten Roman an seine These rückzubinden: »Das ins Monströse getriebene Farbspiel eines naturalisierten ungegenständlichen Sehens korrespondiert einer hektisch-ekstatischen Entsublimierung der inneren Sinnlichkeit.« (S. 191)

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Diese frenetische, aber angesichts der tragischen Romanentwicklung bedenkliche Feier des reinen Farbensehens erscheine im Sternbald nun positiv gewendet. Dort werde die Problematik unter Bezugnahme auf das sinnlich-physische, empirische ›untere‹ Bild gelöst. So modifiziert Kasper die traditionelle Auffassung, die den Symbolcharakter des Bildes zum Inbegriff romantischer Kunst erklärt. Stattdessen sei es vor allem die Präsenzerfahrung, die das Geheimnis der Bildrezeption ausmache:

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Ahnung als Gegenwart zu verstehen, heißt, die Unabweisbarkeit eines Geschehens, induziert durch die subjektive Unmittelbarkeit, nicht auf eine dem Geschehnis vorgängige oder dieses strukturierende Ordnung zu beziehen, sondern in seinem Ereignischarakter bereits die Geltung einer Offenbarung auszumachen. Malerische Farbwirkung und allegorische Offenbarungsformel lassen sich so dialektisch miteinander verbinden. (S. 152)
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Es gehe Tieck darum, über die »Verbindung von malerischer Anschauungs- und Darstellungsform die Metaphysik des Allegorischen zu restituieren« (S. 193). Dies geschehe über die Wirkungsintensität von Kunst und Natur, in der »Wesen und Erscheinung« konvergierten (S. 205). Entscheidende Bedeutung komme hier dem Farbensehen zu:

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Was nun die Behandlung der Farbe im Sternbald betrifft, so ist es freilich nicht das Wesen bestimmter Farbtöne, deren Einheit von Wirkung und Bedeutung sich der Roman widmet, als vielmehr dieses einheitliche Strukturprinzip selbst, das – unter die Auspizien des Erhabenen und einer diesem zugeordneten malerischen Darstellungsform gestellt – interessiert. Dieser Zusammenfall von sinnlicher Erfahrung und Bedeutung befördert im Sternbald eine Bildästhetik, die den Verzicht auf eine objektbezogene Gegenständlichkeit durch gesteigerte Präsenzeffekte zu kompensieren sucht. Dieses sinnliche Gegenwartsmoment ersetzt die vormals von einem Reingeistigen der Ahnung bestätigte Offenbarungsqualität des Erfahrenen. Wo Ahnung war, muss Gegenwart werden oder besser: Ahnung als Gegenwart. (S. 206)
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Laut Kasper verweisen die Bild- und Naturbeschreibungen im Roman auf eine »Anbetungswürdigkeit der Farbe« (S. 230), die letztendlich die zuvor zwingende Objektrelation der malerischen Darstellung aufhebe. Allerdings räumt Kasper selbst ein, dass Sternbald als bildender Künstler diesen Schritt selbst nicht geht (S. 228 f.). Dennoch bleibe der Roman zukunftsweisend. Die Entgegensetzung des Plastischen, das Tieck bei Albrecht Dürer verorte, und der pittoresken Qualitäten der italienischen Malerei unterstreiche Sternbalds verändertes Formbewusstsein mit seiner Tendenz zu »Fläche, offene(r) Form […], Einheit und Unklarheit«. Damit weise er deutlich in die Zukunft: »Sternbalds Reise lässt sich somit in der Tat als Entdeckung der Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe Heinrich Wölfflins lesen.« (S. 234) Allerdings schränkt Kasper die in dieser Formulierung kulminierende These unmittelbar darauf selbst wieder stark ein: Die künstlerischen Möglichkeiten der neu entdeckten reinen Sichtbarkeit werden »weder ausgeschöpft noch analytisch präzise benannt. Ein Blick auf die wirkungsästhetischen Prämissen reiner Kunst im 20. Jahrhundert verweist jedoch deutlich auf das Erbe Tiecks.« (S. 240) Entsprechend schließt Kasper mit der Behauptung, von »Tiecks frühem Farbmaterialismus […] lässt sich durchaus die kunstgeschichtliche Hintertreppe der reinen Sichtbarkeit betreten, die – über nicht allzu große Umwege – zu Cézannes Stoßseufzer ›Sehen wie einer, der eben geboren worden ist!‹ führt.« (S. 246)

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Ein Beleg für Kaspers These? Balzacs Chef d’Oeuvre inconnu

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Anstelle von Kaspers Ausblick, der abschließend u.a. über den Theoretiker und Kunstkritiker Clement Greenberg Tiecks Sternbald mit den Bildwelten der klassischen Moderne kurzzuschließen sucht, sei hier alternativ gestattet, seine These anhand eines literarischen Werks zu überprüfen, das in radikaler Weise die Konsequenzen aus Tiecks romantisch-modernistischen Visionen zu ziehen scheint – Balzacs Novelle Le Chef d’Oeuvre inconnu (1831/1837). In Kaspers Studie wird sie nicht erwähnt. Balzac schildert hier den mühevollen Versuch des Seicento-Malers Frenhofer, ein ideales Gemälde zu schaffen, das ihm unabsichtlich zu einem weit über die eigene und Balzacs Zeit hinausweisenden abstrakten Kunstwerk gerät. Gegen Ende der Novelle können zwei befreundete Künstler das geheimnisumwitterte Bild in Augenschein nehmen:

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»Ich sehe nur wirr angehäufte Farben, umrissen von einer Fülle wunderlicher Linien, die eine Mauer von Malerei auftürmen.«
»Wir täuschen uns, seht doch...!« erwiderte Porbus.
Und als sie sich näherten, entdeckten sie in einem Winkel des Bildes die Spitze eines nackten Fußes, die aus diesem Chaos von Farben, Tönen, unbestimmten Nuancen, diesem formlosen Nebel hervorlugte: es war ein wunderbarer, ein lebendiger Fuß! Sie standen vor Staunen versteinert vor diesem Fragment, das einer unglaublichen, langsamen, ständigen Vernichtung entgangen war. Der Fuß glich dem Torso irgendeiner Venus aus parischem Marmor, der sich inmitten der Trümmer einer eingeäscherten Stadt erhebt.
»Es steckt eine Frau darunter!« rief Porbus und wies Poussin auf die Farbschichten hin, die der alte Maler nacheinander darübergelegt hatte, im Glauben, sein Bild dadurch zu vervollkommnen. [...]
»Wißt Ihr, daß wir in ihm einen großen Maler erblicken müssen?«
»Er ist noch mehr Dichter als Maler«, erwiderte Poussin ernst. 4
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Frenhofers irritierende Bildkomposition, in der sich alle Aspekte der von Kasper besprochenen Sternbaldschen Wende konzentrieren, scheint Kaspers These zu bestätigen. Frenhofers Streben nach Flächigkeit und Farbpräsenz, die ›malerische‹ Visualisierung also, tilgt fast sämtliche Spuren plastischer Visualität, die nur noch gegeben ist, um vor den konservativen Künstlern wie dem Umriss-Repräsentanten Poussin von Frenhofers Größe zu zeugen. Auch wenn die Novelle ganz konventionell als Darstellung des Scheiterns des romantisch-idealistischen Kunstkonzepts gelesen werden kann, lässt sie sich vor dem Hintergrund von Kaspers Ausführungen nun schärfer fassen. Auch ihre Rezeptionsgeschichte gibt Kasper recht: Balzacs Novellenfigur Frenhofer hatte nachweisbaren Einfluss auf die bildende Kunst der Moderne. Noch Picasso zeigte sich fasziniert und illustrierte die Novelle; vor ihm hatte Cezanne bekannt, er selbst sei Frenhofer – er identifizierte sich zeitlebens mit Balzacs Künstlerfigur. 5 Um einiges eindrucksvoller erscheint dieser Beleg von Kaspers Hauptthese, wenn Balzacs Novelle sich – vermittelt durch E. T. A. Hoffmanns Artushof – sogar auf den Roman Tiecks zurückführen lässt. 6

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Ein Befund und seine Folgen

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Jeder neue Befund wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. So drängt auch Kaspers Arbeit mit ihrer Fülle an Bezügen zur rationalistischen, sensualistischen, idealistischen und romantischen Theorie wie auch zu seit 1870 publizierter kunstwissenschaftlicher Literatur dazu, sich den Aufgaben zu stellen, die sich nach der Lektüre ergeben. Kasper zeigt in seiner anregenden Studie eine große Kenntnis verschiedenster Theorien visueller Ästhetik und weiß sie mühelos miteinander zu verbinden. Allerdings wäre seine Arbeit klarer und stringenter, wenn es ihm gelungen wäre, die verschiedenen Konzepte für den Germanisten ohne kunstwissenschaftliche Prägung anschaulicher zu machen. Kasper setzt viel voraus – und nicht jeder Leser bringt genug Geduld und Zeit auf, sich im Selbststudium mit den vielen theoretischen Konzepten vertraut zu machen, die Kasper souverän anzitiert, ohne sich die Mühe zu machen, die verschiedenen Ansätze zu erläutern und die Begriffe zu bestimmen, mit denen sie operieren. Dabei geraten dem Leser vor allem die Zeitebenen durcheinander. Oft springt Kaspers Darstellung unvermittelt von der historischen Analyse zu einer der neueren Theorien und zurück und erschwert so die Lektüre, zumal die vielen Sprünge auch die Tendenz zum Aufweichen der Begrifflichkeit haben. Mangelnde Anschaulichkeit im wahrsten Sinn des Wortes resultiert auch aus der Reduktion des Themas auf Begriffs- und Konzeptgeschichten, die sich ohne ihre graphischen, zeichnerischen und malerischen Korrelate nicht wirklich verstehen lassen. Ohne Sicht auf Bildwelten, auf die sich seine Theoretiker zwischen 1750 und 1800 beziehen, erhöht sich die Dehnbarkeit der erörterten Begriffe und Konzepte, denen so relativ leicht Zukunftsträchtigkeit zugeschrieben werden kann. Insgesamt entsteht so der Eindruck, der Autor huldige einem typologischen Geschichtsdenken, das thematisch bedingte Parallelen früherer und jüngster Visualitätskonzepte zu Antizipationen der Moderne umdeutet, statt mögliche Zusammenhänge wirklich zu historisieren.

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Dessen ungeachtet überzeugen viele von Kaspers Einzelstudien zu Schlegel oder dem Konzept des Pittoresken. Sein Interesse gilt dabei aber mehr dem Abgleich der älteren Konzepte mit denen der Moderne und der grundlegenden Profilierung des beobachteten Diskursfeldes. An einer streng philologischen Argumentation zeigt Kasper dagegen weit weniger Interesse. Hier wünschte sich der Leser manchmal mehr Genauigkeit, die erheblich zur Absicherung der zum Teil recht gewagten Annahmen beitrüge. So unterlässt es Kasper, sein Bild von Tiecks Avantgardismus exakt in den zeitgeschichtlichen Rahmen zu spannen, den er mit großem Aufwand bei seinen Ausführungen zum Malerischen bei Schlegel, der Aufklärungsanthropologie und den englischen Theoretikern des Picturesque konstruiert hatte. Hier bleiben Fragen offen. Beruht August Wilhelm Schlegels Kunsttheorie auf Tiecks Auffassungen oder inspirierte umgekehrt Schlegel Tieck? Inwieweit war Tieck selbst mit den Theorien des Picturesque vertraut? Lassen sich diese Fragen aus seinen Schriften beantworten?

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Deutlich werden die nicht seltenen chronologischen Vagheiten an Sätzen wie »Die Synthese von Wackenroders körper-seelischem Monismus mit der von Kant entlehnten und von Fries offenbarungsästhetisch adaptierten Abkehr vom Gegenständlichen bildet somit die Grundlage für Sternbalds Kunstphilosophie.« (S. 205) Der Text von Fries, auf den sich Kasper hier hauptsächlich bezieht, stammt von 1805, so dass dem Leser nicht ganz klar wird, ob er es lediglich mit einer sprachlichen Nachlässigkeit zu tun hat, oder ob Kasper annimmt, dass Tieck lange vor der Veröffentlichung Einblicke in Fries’ Arbeit hatte nehmen können.

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Trotz dieser Mängel bleibt Kaspers Arbeit für die Tieck-Forschung höchst anregend. Da er sich ausschließlich auf die beiden frühen Romane Tiecks konzentriert, wäre eine philologisch exaktere Überprüfung seiner Thesen auf breiterer Textbasis – Briefen, Tiecks kunstgeschichtlichen Studien und Rezensionen etc. – wünschenswert. Denn zugegebenermaßen ist die Belegmenge der Analysen Kaspers, die er sich aus den behandelten Romanen destilliert, eher klein.

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Erkenntnisfördernd dürfte auch eine Überprüfung von Kaspers Thesen an der bildenden Kunst um 1800 sein. Bekanntermaßen übte Tieck aufgrund seiner kunsttheoretischen Versiertheit und seiner suggestiven literarischen Gestaltung kunsttheoretischer Paradigmen eine große Faszination auf zeitgenössische romantische Maler wie Runge aus, der Tiecks Anthologie Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter (1803) illustrierte – allerdings mit arabesken Umrisszeichnungen, die den Farb- und Flächenarrangements, wie sie im Sternbald favorisiert werden, eigentlich nicht entsprechen. Hier bieten die Ergebnisse von Kaspers Studie die Chance zu einer erneuten Auseinandersetzung mit Tiecks Einfluss auf die Geschichte der romantischen Kunst und ihre theoretischen und literarischen Grundlagen.

 
 

Anmerkungen

Norman Kasper: Frecher Historismus. Ludwig Tiecks poetische Kunstgeschichte. (Rezension über: Jutta Voorhoeve: Romantisierte Kunstwissenschaft. Franz Sternbalds Wanderungen von Ludwig Tieck und die Emergenz moderner Bildlichkeit. München: Wilhelm Fink 2010.) In: IASLonline [22.08.2011], Abschnitt 19. URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3406. Datum des Zugriffs: 15.12.2014.   zurück
Lambert Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Reinbek: Rowohlts Taschenbuch Verlag 1997 (rowohlts enzyklopädie 579), S. 163 f.   zurück
Allerdings offenbart sich am Prinzip des Picturesque auch das konsequente Festhalten am synthetischen Charakter der Sinnesdaten, das bei keinem Vertreter das Konzept der ›reinen Sichtbarkeit‹ ahnen lässt. Vgl. z. B. Uvedale Price: An Essay on the Picturesque, as compared with the sublime and the beautiful; and, on the use of studying pictures, for the purpose of improving real landscape. A new edition, with considerable additions. London: J. Robson 1796, S. 139 f.; Richard Payne Knight: An analytical inquiry into the principles of taste. The fourth edition. London: T. Payne und J. White 1808, S. 94 f.   zurück
Honoré de Balzac: Das unbekannte Meisterwerk (Le Chef-d’Oeuvre inconnu, 1831/1837). Übersetzt von Felix Paul Greve, überarbeitet von Ernst Sander. In ders.: Die Menschliche Komödie. Gesamtausgabe in zwölf Bänden. Hg. von Ernst Sander. Bd. 11. München: Wilhelm Goldmann Verlag 1972, S. 485–515, hier S. 510 f.   zurück
Joyce Medina: Cézanne and modernism. The poetics of painting. New York: State University of New York Press 1995, S. 81 f.; Jon Kear: ›Frenhofer, c’est moi‹: Cezanne’s Nudes and Balzac’s Le Chef-d’oeuvre inconnu. In: The Cambridge Quarterly 35 (2006), S. 345–360.   zurück
Marianne Kesting: Das imaginierte Kunstwerk. E. T. A. Hoffmann und Balzacs ›Chef-d’oeuvre inconnu‹, mit einem Ausblick auf die gegenwärtige Situation. In: Erika Tunner (Hg.): Romantik – Eine lebenskräftige Krankheit. Ihre literarischen Nachwirkungen in der Moderne. Amsterdam und Atlanta, GA, Rodopi 1991 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 34), S. 37–62, hier S. 48 f.; Alexandra Pontzen: Künstler ohne Werk. Modelle negativer Produktionsästhetik in der Künstlerliteratur von Wackenroder bis Heiner Müller. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2000 (Philologische Studien und Quellen 164), S. 243–275; Andrea Hübner: Kreisler in Frankreich. E.T.A. Hoffmann und die französischen Romantiker (Gautier, Nerval, Balzac, Delacroix, Berlioz). Heidelberg: Winter, 2004 (Beihefte der Germanisch-romanischen Monatshefte 22), S. 181–184; Sigbrit Swahn: ›Le Chef-d’œuvre inconnu‹, récit hoffmannesque de Balzac. In: Studia Neophilologica 76 (2004), S. 206–14.    zurück