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Systemtheoretische Literatursoziologie in Mitteleuropa

  • Roman Mikulás / Sibylle Moser / Karin S. Wozonig (Hg.): Die Kunst der Systemik. Systemische Ansätze der Literatur- und Kunstforschung in Mitteleuropa. (Austria: Forschung und Wissenschaft - Literatur- und Sprachwissenschaft 25) Wien, Münster: LIT 2013. 224 S. Broschiert. EUR (D) 24,90.
    ISBN: 978-3-643-50492-0.
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Die Kunst der Systemik. Systemische Ansätze der Literatur- und Kunstforschung in Mitteleuropa präsentiert die Forschungslage der Literatur- und Kunstforschung in Mitteleuropa – die Autoren stammen aus Deutschland, Österreich, aus der Schweiz und Slowakei – seit den 1990er Jahren. Die Herausgeber beginnen die Einleitung mit der Feststellung, es gebe »keine einheitliche Vorstellung davon, was die Begriffe ›Systemik‹ bzw. ›systemisch‹ bedeuten« (S. 7). Dazu sollen Kybernetik zweiter Ordnung, die Theorie der Autopoiesis, Selbstorganisationstheorien, Chaostheorie sowie die Beschreibung dissipativer Strukturen gehören. Faktisch vereint der Band jedoch Beiträge, die sich auf die von Niklas Luhmann geprägte Systemtheorie stützen. Den Herausgebern zufolge wird »in der Kunst- und Literaturforschung [...] der Begriff des Systems in der Regel auf drei Ebenen gehandhabt: auf der Ebene der Werke, auf der Ebene der Kommunikation des Kunst- bzw. Literatursystems und auf der abstraktesten Ebene der Gesellschaft als Interaktion zwischen sozialen Funktionssystemen« (S. 8). Zurecht sehen sie das »Innovationspotenzial der systemischen Forschung [...] in der Prämisse, dass ›Forschungsgegenstände‹ der Geistes- und Sozialwissenschaften in Kommunikation beobachtet werden können und dass psychische und soziale Phänomene durch die Wechselwirkung von Wahrnehmung und Kommunikation erklärbar sind« (S. 8–9).

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Unter den Autoren finden sich Schmidt und Wyss, die beide in den 1940er Jahren geboren wurden. Bei allen anderen Autoren handelt es sich um – und diesen Begriff verwende ich keinesfalls mit Geringschätzung – Nachwuchswissenschaftler.

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Siegfried J. Schmidt thematisiert die Selbstorganisation der literarischen (und ästhetischen) Kommunikation. Beat Wyss und Sibylle Moser analysieren Interpretationen der bildenden Kunst als Kommunikationssystem. Inge Hinterwaldner führt eine systemisch geleitete, differenzierte Rezeptionsanalyse von Computeranwendungen durch und fragt danach, wie die spezifische Gestaltung der sinnlichen Ebene das Verhalten von Computerspielern beeinflusst. Dominic Berlemann präsentiert das Ergebnis seines Versuchs, das Gedächtnismodell von Heinz von Foerster und das Konzept der Erwartungsordnung von Niklas Luhmann auf die Literaturwissenschaft anzuwenden. Roman Mikuláš beschäftigt sich mit der Theoretisierung von literarischer Kommunikation als einer Überschneidung von semiotisch-strukturalistischen und marxistisch-soziologischen Theorieansätzen. Pavel Matejovič beschreibt den historischen und ideologischen Hintergrund des Interesses an Synergetik in der Slowakei. Susanne Fenkart schließlich untersucht die Interaktion zwischen Kunst- und Wirtschaftssystem anhand der Methode des narrativen Interviews mit bildenden Künstlern und Unternehmern.

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Da es mir im Rahmen dieser Kurzbesprechung nicht möglich ist, das Werk in seiner Gänze zu analysieren und dabei allen Autoren gerecht zu werden, konzentriere ich mich im Folgenden auf die Beiträge Schmidts, Berlemanns und Fenkarts, wobei diese Wahl persönlichen Forschungsinteressen geschuldet ist.

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Der Beitrag Schmidts bietet die theoretische Grundlage für den ganzen Band, allerdings im breiteren Sinne, da nicht alle Autoren seiner Theorie in allen Punkten folgen. Er postuliert die Verschiebung des Forschungsinteresses und -gegenstands der Literatur- und Kunstforschung von »Identitäten zu Differenzen« und »Entitäten zu Prozessen« durch die Einführung des systemischen Ansatzes. Gemeint ist damit, dass »literarische Texte nicht als autonome Gegenstände, sondern als Bestandteil der literarischen Kommunikation« (S. 14) in der Gesellschaft betrachtet werden sollten. Das Augenmerk solle dabei insbesondere auf gesellschaftlichen »Konstruktionsprozesse[n] der Kommunikation (Ordnungsbildung)« liegen. Schmidt sieht die »literarische (und allgemein ästhetische) Kommunikation« durch zwei Spezifika bestimmt: »Sie operiert mit konkursspezifischen Makro-Konventionen, die ich als Polyfunktionalitäts- und als Polyvalenzkonvention bezeichnet habe. Damit wird die Beobachtung gekennzeichnet, dass literarische Phänomene in ihrer kommunikativen Funktion nicht nur pragmatisch determiniert sind, und dass ihnen subjektive Lesarten zugeordnet werden können. Trotz der üblich hohen Freiheitsgrade auf der Diskurs- wie auf der Vertextungsebene herrscht keineswegs kommunikative Willkür. Vielmehr gibt es im jeweiligen kulturellen Kontext dominante Erwartungserwartungen darauf, wie ein literarischer Text im Erfahrungskontext bisher verfügbarer literarischer Texte aussehen kann und soll, und welche Funktionen er erfüllen soll. Erst und nur vor dem Hintergrund solcher operativer Fiktionen (=solchen kollektiven Wissens) ist Rezeption möglich und werden kreative Abweichungen (=Innovationen) möglich und beobachtbar.« (S. 19) Durch diesen Paradigmenwechsel verschiebt sich der Gegenstand der Literatur- und Kunstforschung von der Absicht bzw. dem Gedanken des Autoren bzw. Künstlers auf das intersubjektive und selbstorganisierende System der Kommunikation. Literatur- und Kunstwissenschaft werden zu Literatur- und Kunstsoziologie. Damit wird der Gegenstand der Kunst- und Literaturforschung im Hinblick auf folgende Aspekte erweitert: »Umwelten und alle darin wichtigen Ressourcen und Gegebenheiten; Aktanten in der Umwelt, die als Handelspartner welcher Art auch immer eine Rolle spielen; Vergesellschaftungsformen (Institutionen, Organisationen), also mit allen sozialen geregelten Handlungsmöglichkeiten bzw. Handelsbeschränkungen, die Aktanten akzeptieren bzw. erdulden. Gefühle, deren Stellenwert, Ausdrucksformen, Ansprüche und Einschränkungen. Moralische Orientierungen (Werte), die vorausgesetzt, erwartet, zugelassen oder verboten sind« (S. 15).

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Berlemann präsentiert in seinem Beitrag einen Teil seiner Dissertation Wertvolle Werke, in der er die Genese des Gedächtnisses des Literatursystems aus dem Reputationscode als dessen Nebencode erklärt. Zuerst greift er die Gedächtnistheorie von Heinz von Foerster auf. Von Foersters neurophysiologischer Gedächtniskonzeption und Luhmanns systemsoziologischer Gedächtniskonzeption »liegt zunächst die Auffassung zugrunde, dass Gedächtnisaktivitäten sowohl hirnphysiologischer als auch kommunikativer Provenienz als informationsverarbeitende Prozesse zu verstehen sind, in deren Vollzug intern vorgefundene Informationen bestimmten Prozeduren unterzogen werden, die sich verallgemeinern lassen. Beide Gedächtnistheorien modellieren Gedächtnisleistungen als zirkuläre Prozesse, die in der jeweils aktuellen Gegenwart bestimmte Gedächtnisinhalte hervorbringen, die sich im Lauf der Zeit ganz erheblich verändern können.« (S. 106) Dann wendet er sich dem Bochumer Modell literarischer Kommunikation zu. Diesem Modell zufolge sind das System der modernen Kunst und das der modernen Literatur als sein Teilsystem um 1770 angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Kontingenz der Freizeit entstanden. Demnach erfüllten sie die Funktion, diese Freizeit durch »die Lektüre unterhaltsamer Werke« auszufüllen. Der Zentralcode des modernen Kunstsystems ist folglich interessant/langweilig. Jedoch kann dieser Code keine Systemidentität stiften und braucht daher einen Nebencode, nämlich wertvoll/wertlos. »Und gerade im Kontext der Gedächtnisbildung spielt der Nebencode wertvoll/wertlos, der mit dem Zentralcode interessant/langweilig in Gestalt einer Zyklusstruktur verbunden ist, eine tragende Rolle innerhalb des Literatursystems.« (S. 105–106)

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Das Wachstum des Büchermarkts führt zu einem stetig steigenden Bedarf nach der Qualitätskontrolle von Neuerscheinungen, da kein durchschnittlicher Leser dazu in der Lage ist, den Überblick über die Gesamtlage des Büchermarkts zu behalten. Aus diesem Bedarf sind in Deutschland das Rezensionswesen und die Literaturkritik – »[d]ieser Gedächtnis generierende Mechanismus der Verarbeitung literarischer Informationen« (S. 114) – entstanden, die das Gedächtnis des Literatursystems ausmachen, indem sie unterscheiden, was als wertvolle Werke gelesen und erinnert werden soll und was nicht.

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Berlemann erklärt sehr plausibel die Entstehung der Literaturgeschichte als Gedächtnis des Literatursystems. Einen kleinen Kritikpunkt möchte ich dennoch anbringen: Der Autor geht davon aus, dass das um 1770 ausdifferenzierte Literatursystem bis zur Gegenwart als geschlossen interpretiert werden kann. Der Ausdifferenzierungsprozess in die funktional differenzierte Gesellschaft verläuft jedoch nicht immer geradlinig. Oft kommt es zur vorübergehend engen Kopplung eines Systems mit einem anderen. Shakespeare repräsentiert heute England, Goethe Deutschland, Dante Italien. Jedoch hängt die Kanonbildung einer nationalen Literaturgeschichte mit der jeweiligen Nationenbildung zusammen. Sie wird nicht ausschließlich innerhalb des Literatursystems entschieden, sondern von anderen Systemen wie dem politischen mitbestimmt. Mit dieser Fragestellung habe ich mich am Beispiel der japanischen Literaturgeschichte beschäftigt. Daher stehe ich dem Gedanken mit einer gewissen Skepsis gegenüber, dass die literarische Kanonbildung nur durch die Kommunikation innerhalb des Literatursystems erklärt werden kann.

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Fenkart zeigt in ihrem Beitrag in diesem Band die am stärksten soziologische Herangehensweise. Die Beziehung zwischen Kunst und Wirtschaft ist ein klassisches Thema in der Soziologie, so etwa bei Adorno/Horkheimer und Bourdieu. Anschließend an Niklas Luhmanns Systemtheorie formuliert Fenkart die Frage nach dieser Beziehung als gegenseitige Beobachtung der beiden Systeme. Auf der Grundlage dieser theoretischen Formulierung präsentiert sie ihre Erkenntnisse aus insgesamt 28 narrativen Interviews mit bildenden Künstlern (12), Vertretern von Unternehmen und Banken (12) sowie Wirtschafts- und Kunstprofessoren (4).

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Fenkart bestätigt in ihrem Beitrag die klassische Prämisse des gegenseitigen Narrativs von Unternehmern und Künstlern. Im Interview von Unternehmern werden Kunstwerke hauptsächlich im Hinblick auf ihren Nutzen für das Unternehmen decodiert und bewertet, nicht als Wert an sich. »Das unternehmerische Kunstengagement (insbesondere der eigens konzipierte Begriff des Kunstsponsoring) verweist in seiner Semantik exklusiv auf eine funktionseigene Umgangsweise mit Kunst innerhalb des Wirtschaftssystems, die nur hier anzutreffen ist und die nur hier Sinn macht.« (S. 199) Im Auge der Künstler ist der Vertrag mit einem Unternehmen immer ein »faustischer Pakt« (S. 203). »Trotzdem ist es für Künstler und ihre Reputation äußerst riskant, sich bei der Wahl von Form und Inhalt an der Wirtschaft zu orientieren. Denn der Eigenwert der Kunst steht im Gegensatz dazu, was im marktwirtschaftlichen Sinne als erfolgreich gilt.« (S. 207)

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Fenkart richtet mit diesem interessanten Beitrag die Aufmerksamkeit leider nur auf die Leistungsträger in den beiden Funktionssystemen und beschränkt auch ihre Interviews auf diese. Das Publikum bzw. die Kunden, die im Informationsverarbeitungsprozess eines Funktionssystems als systeminterne Umwelt eine wichtige Rolle spielen, bleiben dagegen unbeachtet. Zwar wurden auch Kunstprofessoren interviewt, jedoch repräsentieren diese nicht »die systeminterne Umwelt«. Ihr Beitrag wäre aufschlussreicher und spannender, hätte sie beispielsweise Verbrauchern die Frage gestellt, was sie von Unternehmen halten, die Kunst bzw. Künstlertätigkeit sponsern und unterstützen und ob eine solche Tätigkeit das Image des Unternehmens verbessert. Ebenfalls hätte man an das Kunstpublikum die Frage richten können, wie Künstler bewertet werden, die eng mit Unternehmen kooperieren.

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Fazit

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Insgesamt ist festzuhalten, dass der Band der selbst gesteckten Zielsetzung gerecht zu werden vermag. Einführend wurde der Ausgangspunkt des Bandes von den Herausgebern konstatiert, dass »Konzepte der systemischen Wissenschaft […] in den Geistes- und Sozialwissenschaften längst etabliert [sind]« – in der Tat ist Siegfried J. Schmidts Position altbekannt – und dass »Debatten [über die Fruchtbarkeit systemischer Erklärungsmodelle] nicht nur über die Grenzen der einzelnen Disziplinen hinweg sinnvoll sein können, sondern dass sie auch über nationale Grenzen hinweg sehr fruchtbar sein können.« (S. 8) Und weiter: »Zentrales Anliegen des vorliegenden Bandes ist es deshalb, zeitgenössische Forschungspraktiken der Literatur- und Kunstforschung aus dem mitteleuropäischen Forschungsraum, der sich seit den 1990er Jahren neu formuliert, vorzustellen und in einer Zusammenschau zu verbinden.« (S. 9) Der Band zeugt im Gegensatz zu früheren Auseinandersetzungen mit diesem Thema daher nicht von einer angeregten Debatte, die einen Paradigmenwechsel fordert. Stattdessen ist die Erweiterung von Forschungsgegenständen und die lose Verknüpfung von Einzelpositionen zu beobachten, was auf die Etablierung der systemischen Kunst- und Literaturforschung als normal science im Sinne Thomas Kuhns hindeutet.