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Die deutschsprachige Geschichtswissenschaft entdeckte den ›Kolonialismus ohne Kolonien‹ seit Ende der 1960er Jahre zur gleichen Zeit, als sich die ersten kritischen Forschungen den Ursachen der relativ kurzlebigen kolonialen Expansion des Deutschen Kaiserreichs 1884–1914/18 widmeten
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und verhandelte ihn vorrangig unter dem Begriff ›Kolonialrevisionismus‹
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. Im Zentrum der Untersuchungen stand von Beginn an die ideologiekritische These, dass sich in der vehement vorgetragenen Agitation gegen die ›koloniale Schuldlüge‹ der Nationalismus eines von seinen Kolonialgebieten abgetrennten Deutschlands ausdrückte: Die Entgegnung des Vorwurfes der alliierten Kriegsgegner und assoziierten Mächte in den Versailler Friedensverhandlungen, Deutschland habe »auf dem Gebiete der kolonialen Zivilisation«
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versagt, entwickelte sich zu einem Mantra der Kolonialdiskussion in der Weimarer Republik. Bereits 1969 analysierte Klaus Hildebrand sehr eindrucksvoll die kolonialen Forderungen politischer Parteien und Interessenverbände, die in der Bevölkerung Deutschlands allerdings seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre kaum mehr gezogen und im Nationalsozialismus als rein strategisch außenpolitisches Argument überlebt hatten.
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Insgesamt wird damit die Spur dieser frühen kritischen Kolonialgeschichtsschreibung in ihrer Fokussierung auf ›Realgeschichte‹ deutlich: Eine heute so benannte ›Kultur des Kolonialismus‹, die durch ein koloniales Denken, mithin einen kolonialen Diskurs charakterisiert ist, erklärt die frühe Forschung allenfalls zu ideologischen Versatzstücken einer kolonialen Propaganda, die in den politischen Interessen und Zielen spezifischer Parteien und Verbände verankert ist.
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Seit Ende der 1990er Jahre erlebt die Kolonialgeschichtsschreibung in Deutschland eine neue Konjunktur, die maßgeblich auf Einflüsse der insbesondere englischsprachigen ›Postcolonial Studies‹ zurückzuführen ist.
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Koloniale Diskurse werden nicht mehr nur als »Medium der Abbildung kolonialer Realitäten«
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angesehen, sondern ihnen wird zugebilligt, den Gegenstand des Kolonialismus überhaupt erst hervorzubringen. Koloniale Diskurse sind Aspekte der ›longue durée‹
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und drücken das »Selbstverständnis [der] deutschen Gesellschaft«
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weit über die eigentliche Kolonialzeit hinaus aus. Eine im interdisziplinären Dialog zwischen germanistischer Literatur- und Sprachwissenschaft und Geschichtswissenschaft analysierte ›Kultur des Kolonialismus‹ konnte so zum Beispiel sogar als »nationalsozialistische Kolonialkultur mit großer Popularität«
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fortbestehen, als sich die Realpolitik des Nationalsozialismus schon längst von kolonialen Zielen gelöst hatte.
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Auf die Kultur des Kolonialismus in der Weimarer Republik hat die Forschung seit den 2000er Jahren explizit hingewiesen. Sie manifestierte sich in der über den Kolonialverlust hinaus bestehenden Kolonialpropaganda, in missionarischen Diskursen und in der Kolonialkritik
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, war als Agitation gegen die Rheinlandbesetzung wahrnehmbar
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und brachte eine enorme Produktion von Literatur, Filmen, Kolonialausstellungen, ›Völkerschauen‹ und Denkmälern hervor
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Der hier nun anzuzeigende Sammelband »Weimar Colonialism« von Florian Krobb und Elaine Martin, der auf eine Konferenz an der National University of Ireland Maynooth im Jahre 2012 zurückgeht, ergänzt die Bandbreite der postkolonialen Perspektiven auf die Kultur der Weimarer Republik um weitere Beispiele aus Politik, Sprache, Literatur und Kunst. Der Band lässt eine Systematisierung seiner durchgängig englischsprachigen Beiträge durch ihre Reihenfolge implizit erkennen: Nach einer Einleitung der Herausgeber, die das Forschungsfeld skizziert und auch schon empirische Einblicke liefert, folgt ein sprachwissenschaftlicher Beitrag von Heidrun Kämper, der als überblickende Darstellung des Weimarer Kolonialdiskurses gewissermaßen eine Klammer der Thematik bietet. Vier daran anschließende Aufsätze von Elaine Martin, Catherine Repussard, Stefan Hermes und Brett M. Van Hoesen lassen durch den Blick auf kolonialrevisionistische, literarische und (populär)künstlerische Konstruktionen afrikanischer Alteritäten die koloniale Identität der Weimarer Republik erkennen, bevor durch drei Artikel von Hinnerk Onken, Florian Krobb und Kristin Kopp die Perspektive auf die Weimarer kolonialen Projektionen auf semi- oder nicht-koloniale Regionen der Welt (Südamerika, ›Naher Osten‹, Polen) gerichtet wird. Den Band beschließen zwei literaturhistorische Analysen der Reflexion über den Weimarer Kolonialimus in Deutschland seit 1945 von Jason Verber und Dirk Göttsche.
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Die Artikel des Bandes können insbesondere dort als theoretisch und methodisch innovativ gelten, wo sie die Konzepte und Methoden der Postkolonialismus Studien explizit hervorheben oder bisher nicht betrachtete Quellengattungen erschließen. So verdeutlicht Stefan Hermes den analytischen Wert des Bhabhaschen Mimikry-Konzeptes durch eine Erweiterung als ›Umgekehrte Mimikry‹ (S. 109 f.) und greift über sein eigentliches Thema weit hinaus, weil es gewissermaßen um die großen Fragen der Möglichkeiten und Grenzen eines antikolonialen Postkolonialismus, mithin um die Chancen eines nicht-kolonialen Denkens durch (potentielle) Kolonisatoren geht. In Hermes Untersuchungsbeispiel, der Novelle ›Der Pavian‹ des bekannten Weimarer Autoren Hans Grimm, werden die afrikanischen Protagonisten in ihrem Verhalten und Auftreten weder als ›annähernd Weiße‹ (Mimikry) dargestellt, noch wird ihre ›Inferiorität‹ – wie in der kolonialen Literatur üblich – nur behauptet, sondern demonstriert und für die Leser nacherlebbar (Umgekehrte Mimikry, S. 115) – nicht nur das vermeintliche Wesen ›des‹ Afrikaners, sondern auch der Geist ›des‹ Lesers wird so kolonisiert. Als gleichfalls eindrucksvoll und innovativ kann die Analyse des Einsatzes von Fotomontagen in der Presse der Weimarer Republik durch Van Hoesen gelten. Die Untersuchung zeigt zum Beispiel wie durch eine mit retuschierten kolonialen Fotos von Herero illustrierte Geschichte über die erfundene ›Wunderinsel Nigabsi‹ in der Berliner Illustrirten Zeitung gewissermaßen eine exotisierende Neu-Inszenierung der repressiven Niederschlagung des Herero-Aufstandes in Deutsch-Südwestafrika 1904–1907 erreicht wird und damit 1925 zur Verschleierung des kolonialen Genozids beitrug (S. 137–143).
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Auch die in den Beiträgen neu eröffneten empirischen Perspektiven, die räumlich über die ehemaligen afrikanischen Kolonien und zeitlich über die Zeit der Weimarer Republik hinausgehen, sind lesenswert. Problematisch ist dagegen, dass der Band in seiner Gesamtanlage den Forschungsstand nicht ausreichend aufnimmt. Dass »the propagandist tropes utilised by revanchist writers were an attempt to thwart the so-called Kolonialschuldlüge« und dass »Weimar revanchist discourse was an attempt to salve a humiliated national ego and refashion Germany as a model agent of the ›civilising mission‹ in Africa against the backdrop of military defeat, political collapse and foreign occupation« sollte seit Ende der 1960er Jahre zumindest nicht mehr als »underlying hypothesis« (S. 11) formuliert werden: Es ist eine grundlegende Erkenntnis der Geschichtswissenschaft
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, die allenfalls als These mit neuen empirischen Ergebnissen weiter untermauert werden kann.
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Doch auch die empirischen Ergebnisse, die die Herausgeber in ihrer Einleitung u.a. hervorheben (S. 13–27), greifen zwar wichtige Stränge des Kolonialdiskurses auf: Internationale Konkurrenz der Kolonialmächte, Opferidentität (kolonialloser Staat als ›verstümmelter Körper‹), Überbevölkerungs- und Auswanderungsargumente (›Volk ohne Raum‹), Verklärung der kolonialen Vergangenheit als ›gute‹ Kolonialmacht im Zusammenhang kulturmissionarischer Argumentationen (Bilder des ›treuen Askari‹). Diese Argumentationsmuster sind aber auf Basis der z.T. gleichen Quellen bereits eingehend und weit differenzierter und vor allem systematischer analysiert worden.
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Der Kolonialdiskurs der Weimarer Republik kann nicht nur als übergreifend kolonialrevisionistisch verabsolutiert und verkürzt als eine Reaktion auf den Kolonialverlust und die ›koloniale Schuldlüge‹ dargestellt werden, wie es die Konzeptualisierung des Bandes vorsieht. Seine unterschiedlichen Traditionen in der Bandbreite antikolonialer, gleichzeitig aber kulturrelativistischer, kolonialkritischer, dabei aber rassistischer, missionarischer, wirtschaftsliberaler, paternalistisch-humanitärer, aggressiv-utilitaristischer und sozialdarwinistischer Argumentationen können nicht übersehen werden.
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Damit ist auch schon ein zweites Problem des Bandes angesprochen: Einen Weimarer Kolonialismus konnte es nur auf Basis der Legitimationen der kolonialen Expansion im Deutschen Kaiserreich geben. Die inzwischen eingehend untersuchten Muster des kolonialen Diskurses von den 1870er Jahren bis zum Kolonialverlust
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sollten einleitend im Überblick erläutert werden, damit letztlich auch deutlich wird, welchen Stellenwert eine ›Kultur des Kolonialismus‹ im Bezugsrahmen einer Kolonialtheorie neben den ökonomischen und gesellschaftlichen Triebkräften des Kolonialismus einnimmt.
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