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Der wiedergefundene Leser?

Zur Dys-/Funktionalität bisheriger Lesermodelle für eine historisierende Rezeptionsanalyse

  • Marcus Willand: Lesermodelle und Lesertheorien. Historische und systematische Perspektiven. (Narratologia 41) Berlin: Walter de Gruyter 2014. 362 S. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-034184-3.
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Letztendlich geht es dem Autor um die »zeitgenössische [..] Rezeption eines Textes in seinem Publikationszeitraum.« (S. 16 f.) Die Rekonstruktion dieser Rezeption nennt er ›historisierende Rezeptionsanalyse‹ anhand von Sekundärtexten konkreter (individueller) Leser des in Frage stehenden Zeitraums. Dieser methodische Zugriff impliziert also das Modell eines realen, singulären Lesers als meta-/theoretische Fundierung auch aller weitergehenden interpretativen Verarbeitungen, die in Abhebung zur Daten liefernden Rezeptionsanalyse als Rezeptionsforschung bezeichnet werden. Eine solche systematische Unterscheidung von empirischen Leser-Daten qua Sekundärtexten und darauf aufbauenden Sekundär- bzw. Primärtext-bezogenen Interpretationen zeigen allerdings, so Willand, die meisten Lesermodelle der literaturwissenschaftlichen Theoriediskussion und Interpretationspraxis des letzten Jahrhunderts nicht. Er analysiert und diskutiert daher die bisherigen Lesermodelle und -theorien unter Heranziehung von drei kategorialen Dimensionen, nämlich dem ontologischen, funktionalen und epistemologischen Status der Modelle. Dadurch begründet er die bessere Geeignetheit des realen Lesermodells (wie das Modell des realen Lesers auch zur sprachlichen Vereinfachung genannt wird) im Vergleich zu allen konkurrierenden Modellen, was zugleich ein Plädoyer für die Revitalisierung einer historisierenden Quellensammlung und -analyse darstellt.

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Die vier ontologischen Modell-Kategorien

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Das zentrale Problem für den Modell-Vergleich besteht darin, dass es mittlerweile eine sehr große Zahl von Lesermodellen unterschiedlichster Herkunft und Struktur gibt (Willand führt als stichwortartige Zusammenstellung 46 Modelle auf: S. 48 f.); zu deren Analyse braucht es kategoriale Dimensionen, innerhalb derer und mit deren Hilfe ein Vergleich durchgeführt werden kann. Dazu werden als fruchtbarste Dimensionen drei Kategorien postuliert und elaboriert: der ontologische, funktionale und epistemologische Status der Lesermodelle.

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Im Laufe der weiteren Ausarbeitung und Argumentation erweist sich schlussendlich die ontologische Kategorisierung als die für eine historisierende Rezeptionsanalyse entscheidende, wobei allerdings gewisse Affordanzen zu den Kategorisierungen der anderen beiden Dimensionen bestehen. Es werden 4 Kategorien des ontologischen Status von Lesermodellen unterschieden (vgl. S  68):

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• der (historisch) reale Leser, der als konkretes Individuum in einem jeweiligen Sekundärtext unter Rückgriff auf das damalige Kontextwissen den Bezug zu einem Primärtext herstellt;

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• der probabilistische Leser, der eine Leser-Klasse darstellt, die vom Literaturwissenschaftler konstruiert wird, und zwar durch Zusammenfassung von realen, individuellen Lesern nach forschungsseitig eingeführten Stratifizierungen, u.a. auch in Bezug zu unterstelltem Kontextwissen, so dass es sich letztlich um einen nicht-realen Leser handelt;

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• der theoretische Leser, der (ebenfalls) einen ontologisch nicht-realen Leser beschreibt, allerdings ohne auch nur vermittelten Rückgriff auf reale Leser, sondern lediglich – zumeist hermeneutisch – die ›Möglichkeiten der Bezugnahme von Primärtext und Kontextwissen‹ expliziert, eben ›ohne ontologische Restriktionen‹;

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• der fiktionale Leser, der Teil der fiktionalen Welt ist und als solcher den schwächsten Bezug zum realen historischen Leser aufweist.

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Beim fiktionalen Leser sind explizite und implizite Varianten unterscheidbar, von denen aus zwar durchaus gewisse Rückschlüsse auf die historische Rezeption des literarischen Textes möglich sind, die aber immer an externem Kontextwissen validiert werden müss(t)en (S. 81) – was in der Interpretationspraxis jedoch so gut wie immer unterbleibt. Ein Modell des theoretischen Lesers liegt (nach Willand) vor, wenn zusätzlich zu Annahmen über reale Leser auch normative Setzungen impliziert werden, die aus einer bestimmten literaturwissenschaftlichen Verstehenskonzeption abgeleitet sind (S. 94 f.). Hier wird historisches Kontextwissen vom Literaturwissenschaftler eingeführt und vorausgesetzt. Das gilt auch für das probabilistische Lesermodell, das zwar von realen Lesern ausgeht, diese aber nach typologischen Merkmalen zu Leser-Klassen zusammenfasst und durch diese abstrahierende Klassifikation (wie der fiktionale und theoretische Leser) dem ontologischen Status nach als nicht-real einzustufen ist (S. 84). Folglich kann nur das reale Leser-Modell als ontologisch real und theoretisch neutral gelten (S. 97), insofern es nicht von den Prämissen einer hermeneutischen Verstehenskonzeption abhängt und die historischen Rezeptionen deskriptiv beschreibt und nicht in Bezug auf ihre historische Adäquanz oder Plausibilität bewertet (S. 106 ff.).

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Die funktionale und epistemologische Kategorisierung

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In Bezug auf die Funktion von Lesermodellen für die literaturtheoretische Konzeptualisierung sowie die Interpretationspraxis ist die wichtigste Unterscheidung die epistemologische Differenzierung zwischen Erkenntnismittel und Erkenntnisgegenstand. Beim realen und probabilistischen Modell fungiert der Leser als Instrument für (vor allem interpretative) Erkenntnis, beim theoretischen und fiktionalen Lesermodell als Erkenntnisgegenstand (S. 109). Für das probabilistische und theoretische Modell sind darüber hinaus verschiedene Restriktionen des Kontextwissens, das im jeweiligen Modell angesetzt wird, unterscheidbar (S. 117 ff.). Bei probabilistischer Modellierung handelt es sich vor allem um diastratische Limitationen, d.h. die Differenzierung nach Leser›schichten‹ (seien es soziologische, politische, psychologische oder pädagogische Schichtung). Die diatopische Restriktion kommt, wenn auch heute insgesamt relativ selten, sowohl bei probabilistischen wie theoretischen Modellen vor, indem sie sich auf die Rezeption besonders berühmter Autoren fokussiert. In den meisten (hermeneutisch-) theoretischen Modellen aber geht es vor allem um diachronische Differenzierungen, mit der Binnenunterscheidung von synchronisch-historisierend vs. -aktualisierend sowie diachronisch-prozessual (S. 120 ff.).

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Die epistemologische Perspektive bezieht sich nur auf den Leser als Erkenntnisgegenstand und bezeichnet die Frage, »welche Instanz für die literarische Bedeutungsgenerierung aus Sicht des Lesers als die epistemisch relevanteste eingeschätzt wird.« (S. 126) Hier werden subjektivistische, objektivistische und interaktionistische Modellierungen unterschieden. Bei den subjektivistischen Modellen werden vor allem auch die ›poststrukturalistischen Lese(r)konzepte‹ rekonstruiert (Derrida, Barthes, de Man), für die allerdings übereinstimmend – wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen – festgestellt wird, dass die theoretische Position der Struktur der Strukturlosigkeit durch die eigene Interpretationspraxis konterkariert wird (S. 181 f.). Den entscheidenden Grund dafür sieht Willand in der programmatisch aufgegebenen Unterscheidung von (am literarischen Prozess) teilnehmenden Leser vs. (diesen Prozess reflektierenden) Wissenschaftler, was solche Positionen aber für eine systematische Rezeptionsanalyse disqualifiziert. Bei den objektivistischen Modellierungen ist zwischen einem Text- und Interpretationsobjektivismus zu differenzieren (S. 186 ff.), obwohl es selbstverständlich Verbindungslinien zwischen beiden gibt. Der Textobjektivismus geht von einem zeitstabilen Bedeutungskern des literarischen Primärtextes aus, der durch zeitabhängige Rezeptionen der Leser/innen (mehr oder weniger) aktualisiert wird (S. 190 ff.). Der Interpretationsobjektivismus sucht dagegen Objektivität durch die Systematik des methodischen Zugangs zu erreichen, was im Optimalfall (qua empirisches Lesermodell) zur Konzentration auf Sekundärtexte als Rezeptionsdaten führt (S. 196 f.). Von hier aus sind sowohl der systemtheoretische als auch der hermeneutische Objektivismus kontraproduktiv, weil sie durch spekulative Abstraktion den Vor-Urteilen des Literaturwissenschaftlers zu viel Raum einräumen (S. 201 ff.). Interaktionistische Ansätze versuchen dem zu entgehen, indem möglichst eine Gleichgewichtung von Text und Leser modelliert wird (S. 217 ff.). Allerdings erweist sich hier die Richtung der Modellierung als entscheidend: Geht sie vom Text zum Leser, so kommt durch (z.B. rezeptionsästhetische) Konzepte wie dem intendierten Leser doch wieder die spekulative Abstraktion hinein, die nur bei der Fokussierung auf den (realen) Leser zu vermeiden ist, weil hier der »(veränderliche) historische Kontext […] als Beeinflussung des realen Lesers, nicht des Textes verstanden« wird (S. 248).

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Der reale als der Modell-Leser: für eine historisierende Rezeptionsanalyse

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Damit ist die Konsequenz, die zwischendurch immer schon in der Kritik der übrigen Leser-Modelle aufscheint, unausweichlich: Das Modell des realen Lesers ist das für eine historisierende Rezeptionsanalyse einzig wirklich brauchbare! Das wird abschließend programmatisch zusammengefasst (S. 249 ff.) und an einer Interpretationsanalyse (im Kontrast zum theoretischen Modell des impliziten Lesers) verdeutlicht (S. 265 ff.). Beim realen Leser handelt es sich um konkrete, historische Individuen, deren Rezeption eines literarischen Primärtextes in den vom Wissenschaftler zu beschreibenden und zu analysierenden Sekundärtexten manifestiert ist. Die systematisch-methodische Trennung dieser beiden Instanzen kann so »dem historischen Leser die Subjektivität seines Primärtextumgangs ebenso« zugestehen »wie dem Literaturwissenschaftler die Möglichkeit einer objektiven Analyse der Sekundärtexte.« (S. 256) Gegenüber dem auf Primärtexte ausgerichteten (rezeptionsästhetisch-hermeneutischen) Interpretieren hat das den Vorteil, dass auf diese Weise ein (auf Leserseite) faktisch vorhandenes historisches Wissen rekonstruiert wird statt einem nur idealiter (auf Forscherseite) hypothetisiertes und damit potenziell anachronistisches Kontextwissen (S. 261). »Die historische Rezeptionsanalyse ermöglicht also den Zugriff auf die Interpretation eines (anderen) Lesers als ein explizites, faktisch umgesetztes und notwendig historisch angemessenes Verstehensangebot, während die historisierende Primärtextinterpretation nur eigene hypothetische Annahmen über ein historisch mögliches, aber nicht zwangsläufig historisch angemessenes Verstehen zu formulieren erlaubt.« (Ebda.)

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Präzise Rekonstruktion als systematische Diskussionsgrundlage…

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Bei der oben nachgezeichneten Analyse des Buches sind zwei Argumentationsstränge ineinander geschoben: ein mehr induktiver und ein eher deduktiver. Nachdem zu Beginn das Ziel der Fundierung einer empirisch-historisierenden Rezeptionsanalyse umrissen ist, werden in der Folge alle bisher vorliegenden Lesermodelle rekonstruiert und dabei auf ihre Brauchbarkeit für die angestrebte Rezeptionsanalyse überprüft. Diese rekonstruktiv-explizierende Präzisierung der Lesermodelle realisiert über die drei Kategorisierungsdimensionen des ontologischen, funktionalen und epistemologischen Status der unterschiedlichen Modellierungen ein eher deduktives Vorgehen. Dabei wird mit der Kritik an den rekonstruierten probabilistischen, theoretischen und fiktionalen Modellen immer auch schon die (bessere) Geeignetheit des realen Lesermodells dargelegt, was eine eher induktive Argumentation darstellt, die am Ende zur zusammenfassenden Explikation der Leistungsfähigkeit dieses Ansatzes führt. Vom Umfang her umfasst daher die Rekonstruktion und Kritik der nicht-realen Lesermodelle den größeren Teil, was aber sicherlich zur Begründung des innovativen Ansatzes nicht nur berechtigt, sondern auch unvermeidlich ist. Denn schließlich läuft das Projekt einer historisierenden Rezeptionsanalyse anhand von Sekundärtexten realer Leser auf eine Abkehr von der klassischen hermeneutisch-historischen Primärtextinterpretation und damit auf eine Empirisierung hinaus, die gerade vor dem Hintergrund der rezenten rezeptionsästhetischen und poststrukturalistischen Wissenschaftsgeschichte eine besonders umfassende Begründungsanstrengung verlangt.

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Ob nun alle Rezipienten/innen dem Autor bei diesem spezifischen Empirisierungsvorschlag folgen werden oder nicht, muss die Rezeptionsgeschichte dieses und ähnlicher wissenschaftlicher Texte zeigen. Unabhängig davon aber stellt die rekonstruierende und präzisierende Explikation der bisherigen Lesermodelle ein Verdienst und eine Leistung dar, die einen substanziellen Fortschritt und damit eine Grundlage für die weiterführende Diskussion bietet. Insbesondere die rekonstruierende Aufarbeitung auch der poststrukturalistischen Modelle (gegen deren programmatische Ablehnung von kohärenten und konstanten Begriffskonzeptualisierungen) hat mich in höchstem Maße beeindruckt. In Bezug auf die rezeptionsästhetischen Modelle ist manche Kritik schon öfters vorgebracht worden, wird hier aber in einem überzeugenden Gesamtzusammenhang zusammengefasst. Insofern wird durch diese Arbeit ein Explizitheits- und Präzisionsniveau erreicht, das ganz im Popperschen Sinn die theoretische und metatheoretische Kritik und Diskussion zu beflügeln vermag, und das heißt: das ein faszinierendes Anregungspotenzial besitzt.

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Zur Demonstration dieser Faszination möchte ich gleich zwei kritische Diskussionspunkte bzw. -vorschläge anschließen: Willand sieht in Bezug auf die strikte Unterscheidung von Leser als Erkenntnisobjekt und Literaturwissenschaftler als Erkenntnissubjekt die Kritik voraus, dass mit der historisierenden Rezeptionsanalyse nur Aussagen über die Sekundärtexte, nicht aber den literarischen Primärtext gemacht werden (können) (S. 263). Dem hält er entgegen, dass man ja auch bei literaturwissenschaftlichen Interpretationen, die zweifellos als Sekundärtexte einzustufen sind, nicht davon ausgeht, darin nur Informationen über den interpretierenden Wissenschaftler zu finden, sondern durchaus auch Aussagen über den Primärtext (Ebda.). So berechtigt dieses tu quoque-Argument auch ist, daraus gilt aber nicht im Umkehrschluss, dass alle Aussagen des Sekundärtextes automatisch als Informationen über den Primärtext gelten können. Vielmehr muss man sich (auf die Dauer) dem Problem stellen, auf welche Weise methodisch geklärt werden kann und soll, welche Teilmengen vor allem etwas über den Leser und welche mehr über den Primärtext aussagen. Sicher kann man die am Schluss des Buches für die Rezeptionsanalyse ausdifferenzierten Erkenntnisinteressen (vom einzelnen Leser über Gruppen von literarischen Texten bis zum ›Zeitgeist‹ als Erkenntnisinteresse: S. 302 ff.) als erste Annäherung an diese Problematik verstehen, auf lange Sicht muss aber auf jeden Fall noch eine systematischer-generelle Diskussion und Zusammenfassung erfolgen.

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… und Anregungspotenzial

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Wichtiger noch ist aber der bei der Diskussion des ontologischen Status implizierte Theorie-Begriff. Die Kritik an der hermeneutischen Spekulation der von Willand so genannten theoretischen Lesermodelle (impliziter Leser etc.) führt dazu, dass Theoretizität in diesem Zusammenhang als etwas Negatives, zu Vermeidendes bewertet und postuliert wird. »Je größer der theoretische Anteil eines Lesermodells ist, desto anfälliger wird dieses Modell zumindest potentiell für fehlerhafte Annahmen bei der Historisierung literarischer Texte.« (S. 93 f.) Dies entspricht nun aber keinesfalls dem Theorie-Begriff der empirisch-szientifischen Wissenschaftstheorie. Da Willand mit seiner Rezeptionsanalyse auf der Grundlage eines realen Lesers im Prinzip jedoch einen konkreten Empirisierungsvorschlag vorlegt, wäre es eine sinnvolle weitere Präzisierung, wenn seine zentralen Konzepte auch mit den metatheoretischen Strukturierungen der empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften übereinstimmen würden. Und nach deren wissenschaftstheoretischen Konzeptualisierungen sollte alle Forschung eine theoriegeleitete Forschung sein. Das gründet darauf, dass Theorien als Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis eben gerade empirisch validierte Annahmen enthalten. So lange eine Annahme nur spekulativ ausgedacht ist, handelt es sich um eine Hypothese. Erst wenn diese empirisch an Daten überprüft und als gültig nachgewiesen ist, liegt eine Theorie (bzw. die Teilmenge einer Theorie) vor. Damit wäre gerade das reale Lesermodell als ein theoretisches (weil auf empirische Validierung ausgerichtetes) zu bezeichnen. Und das stimmt durchaus mit den Explikationen von Willand überein, weil die im realen Lesermodell thematischen Sekundärtexte in Bezug auf das darin manifestierte historische Kontextwissen rekonstruiert werden müssen (S. 261). Rekonstruktion jedoch ist allemal auch ein theoretisches Unterfangen. Das bedeutet allerdings, dass für die von Willand so genannten theoretischen Lesermodelle eine andere metatheoretische Kennzeichnung zentral sein muss. Er führt selbst mehrfach den spekulativen Charakter dieser Modelle an, ohne dass diese Spekulation – und das ist das Entscheidende – empirisch überprüft wird. Solche Spekulation, die ohne empirische Überprüfung sozusagen als Letztbegründung gesetzt wird, nennt man in der szientifischen Wissenschaftstheorie Axiomatik. Diese axiomatische Setzung ist m.E. auch genau das Strukturmerkmal, das Willand an den Modellen der hermeneutisch-historischen Primärtextinterpretation – überzeugend – kritisiert. Deshalb meine ich, dass die Benennung und Konzeptualisierung seiner ontologischen Lesermodelle sozusagen eine Stufe höher rutschen müsste, nämlich folgenderweise:

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• statt reales Lesermodell: theoretisch-singuläres Lesermodell;

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• statt probabilistisches Lesermodell: theoretisch-klassifikatorisches Lesermodell;

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• statt theoretisches Lesermodell: axiomatisch-literaturwissenschaftliches Lesermodell;

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• statt fiktionales Lesermodell: axiomatisch-literarisches Lesermodell.

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Eventuell könnte man statt ›literaturwissenschaftliches‹ auch ›narratologisches‹ und statt ›literarisches‹ ›narrationales‹ Lesermodell sagen. Aber das sind nur Benennungsfragen, entscheidend ist, dass mit einer solchen Kohärenz zur szientifischen Wissenschaftstheorie die Kritik und metatheoretische Begründung der Willandschen Konzeption noch einmal weiter geschärft und ausdifferenziert werden könnte. Aber, um es abschließend noch einmal zu betonen, das sind alles faszinierende Konzeptualisierungsfragen und -fortschritte, die sich der hervorragenden Rekonstruktionsarbeit des vorliegenden Werkes verdanken!