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Polyphone Bezugnahmen der Dichtung

  • Uta Degner / Elisabetta Mengaldo (Hg.): Der Dichter und sein Schatten. Emphatische Intertextualität in der modernen Lyrik. München: Wilhelm Fink 2013. 336 S. Kartoniert. EUR (D) 44,90.
    ISBN: 978-3-7705-5607-6.
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Das moderne Paradigma der Originalität, der Drang zur Aemulatio ist allen Künsten zu eigen und bereitet allen Künsten ebenso Mühe. Was aber auch sein historisches Datum trägt und erst mit dem Geniekult des Sturm und Drang eine Verabsolutierung erfährt, wird spätestens mit Nietzsches Aufbegehren gegen die »Originalitätswuth« wieder grundsätzlich in Frage gestellt. In seiner Schrift Der Wanderer und sein Schatten, welcher der Band in abgeänderter Form seinen Titel entlehnt, hält er nüchtern fest, dass jegliche Überbietung von »Convention« wieder neue »Convention« schafft. Damit erstarrt die Moderne in einer steten Bewegung, die Sloterdijk mit dem Bild der Rolltreppe eindrücklich in eine Metapher gebannt und damit das Dilemma aufgezeigt hat, dass auch der stetige Fortschritt einen Leerlauf darstellt.

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Der vorliegende Band bricht jedoch nicht für das postmoderne Zitat eine Lanze. Vielmehr konzentriert er sich auf ein bestimmtes Korpus, auf die Lyrik des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, und auf eine spezifische Theorie, auf eine positive Umwertung von Harold Blooms Einflussangst. Wie die Mitherausgeberin Uta Degner in ihrem eigenen Beitrag zur Dante-Nachfolge der leider kaum beachteten österreichischen Dichterin Marie-Thérèse Kerschbaum ausführt, ist die »agonale Valenz« umzudeuten: »Literatur ist ihrer Konzeption nach nicht von Einfluss-Angst, sondern von Einfluss-Lust bestimmt, insofern sie rezipiert, gehört, gelesen und erinnert werden will« (S. 213).

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Vielstimmiger Einfluss

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Zunächst nur ein Detail: Zu Unrecht wird Bachtin das »Vorurteil« unterstellt, »Lyrik« sei »monologisch« (S. 11). Diese Gattungsbestimmung ex negativo nimmt Bachtin ja nur vor, um die soziolektisch-ideologische Mehrstimmigkeit einer zentrifugalen Prosa vom zentripetalen Moment des Versromans abzuheben. Vielmehr könnte die im Roman orchestrierte Vielstimmigkeit auch auf die intertextuellen Referenzen der Dichtung angewendet werden, was der Band aber wiederum in eindrücklicher Weise macht, indem nicht nur sämtliche Generationen von Literaturwissenschaftlern und Literaturwissenschaftlerinnen, welche sich eingehend mit Dichtung beschäftigen, sondern auch Dichter und Dichterinnen selbst zu Wort kommen. Die »lyrischen Schattenspiele« mit Urs Allemann, Monika Rinck und Steffen Popp am Schluss des Bandes legen beredtes Zeugnis davon ab, wie zeitgenössische Lyrik altbekannte, aber auch verschüttete Formen ›überschreibt‹ (S. 285) oder sich in kollaborativen Projekten wechselseitig beeinflussen lässt.

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Die zentrale Frage des Bandes, welche die Herausgeberinnen in ihrem Vorwort stellen, lautet, worin »die Einfluss-Lust in einer Lyrik« der Moderne besteht, »die immer mehr selbstreferenzielle Züge trägt und sich als Bannenträgerin ästhetischer Autonomie versteht« (S. 11). Dass auf diese Frage sehr verschiedene Antworten gegeben werden können, die das genrespezifisch-methodische Korsett des Bandes wiederum fruchtbar sprengen, trägt zur Mehrstimmigkeit der Reflexionen bei.

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So setzt beispielsweise Marcel Beyer an mit der »Operation Husky, der Landung von US-Truppen auf Sizilien«, welche die fanatischen »Kasernenhofstimmen« durch einen neuen ›Sound‹, durch »Jazzstimmen, Bluesstimmen« (S. 20) ersetzen. Er zeigt aber auch auf, wie sich der späte Gottfried Benn in diese Klanglichkeit einer neuen Ära – im eigentlichen Sinne des Wortes – ›einschreibt‹ und sich der Amerikaner Ezra Pound in seinen »Canti« des Italienischen annimmt. In dieser eigensinnigen, aber eindringlichen Aufarbeitung von Europas Nachkriegszeit wird einem bewusst, wie sehr sich eigenes und fremdes Textmaterial zu durchdringen haben, um ein eigenes Schreibverfahren immer wieder neu auszurichten und zu positionieren.

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Ironische Distanznahmen und aktive Einfluss-Lust

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Wolfram Groddeck konzentriert sich auf Robert Walsers eigenartige Verlaine-Rezeption, die zwischen Abneigung und ironischer Distanznahme oszilliert. Ausgangspunkt ist die Episode, die Alfred Fankhauser, in den Zwanziger Jahren Sekretär des Schweizerischen Schriftstellervereins, zum Besten gibt. So soll er in alkoholisiertem Zustand Walser gestanden haben, mit seinen Versen sei er »der einzige deutsch dichtende Autor, der Verlaines Gedichte übertragen könne«, worauf Walser jäh auffuhr und ihn anbrüllte: »Verlaine, den alten Bock, soll ich übersetzen? Hab ich nötig, dem Burschen den Portier zu machen?« (S. 42)

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In der folgenden Lektüre eines Mikrogrammgedichts aus dem Frühjahr 1925 verdeutlicht Groddeck, wie sehr man – trotz oder wegen der außergewöhnlichen Schriftfixierung der Forschung – in den Worten des anwesenden Lyrikers Urs Allemann das Gedichtete »hören muss« (S. 45): Der immer sechsmal anders ausgesprochene Namen »Verlaine« muss sich auf den Fluss »Seine«, auf »sehne«, auf »wähne«, auf »dehne«, auf »träne« und schließlich auf »meine« reimen. Im zweiten »Gedicht auf Verlaine«, das auf dem Mikrogrammblatt 501 entworfen wird, macht Groddeck anhand einer konzisen Rhythmusanalyse deutlich, wie sehr sich Walser von einem hohen Ton der Lyrik – wie man ihn beispielsweise bei Stefan Zweig vorfindet – distanziert, um sich aus einer anderen Richtung her kommend (oder spazierend) der sich zersetzenden Klanglichkeit auf »eine eigenwillige poetische Verwandtschaft« einzulassen (S. 56).

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Nicht weniger problematisch ist die Beziehung zwischen Hofmannsthal und George, die Norbert Christian Wolf im sozialen Kontext problematisiert – und man fragt sich manchmal wohl zu Recht, ob die »emphatische Intertextualität« im Untertitel des Bandes wirklich so sehr aus dem ›Schatten‹ des Dichters hätte hervortreten müssen. Denn in den Weiterdichtungen von Baudelaires »A une passante« durch George und Hofmannsthal macht Wolf deutlich, wie sehr sich weniger die Dichtungen als vielmehr die Dichter voneinander abzugrenzen haben. Was in der »Nachdichtung« Georges noch als diffizile Eindeutschung des Baudelaire’schen Alexandriners in den kürzeren klassischen Blankvers festgeschrieben wird (S. 61), hält Hofmannsthal ganz im Sinne des Transitorischen der Moderne in der Flüchtigkeit des Originals (S. 71).

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Dass sich Hofmannsthal letztlich Georges homoerotisch grundierter und aktiver »Einfluss-Lust« zu entziehen hat – wie er im autobiographisch zu lesenden Gedicht »Der Prophet« protokolliert –, schlägt sich im vernichtenden Urteil des aus dem George-Kreis stammenden Friedrich Wolters nieder: Hofmannsthal habe sich – so Wolters – »geschickt dem liebenden Zugriff des Freundes [George]« entzogen, um – so ein weiterer Sekundant Georges – »sein Heil in seichten Libretti« zu suchen (S. 87). Damit unterstreicht Norbert Christian Wolf, dass zum einen das Paradigma des Einflusses immer auch im sozialen Kontext zu lesen ist und dieses wiederum nicht nur auf den Dichter einwirkt, sondern auch von ihm ausgehen kann.

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Sprache der Utopie und Befreiung vom Kanon

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Hans-Jost Frey zeigt auf, wie sich Franz Josef Czernin auf Dante bezieht. Die Trümmer der Vergangenheit werden vor allem in ihrer Struktur, in ihrer »Art des Gesagtseins« gesichtet (S. 91) und verweisen damit wieder auf sich selbst (S. 96). Dabei geht es weniger um die solipsistische Abschließung der Dichtung, sondern um ihre Öffnung zum Anderen – zu einer fremden und verfremdenden Sprache der Utopie, wie sie durch Mechthild von Magdeburg oder in Rudolf Borchardts Dante-Übersetzungen (S. 101) beschworen wird. Die Wortsubstanz kommt dadurch selbst unter die Lupe, indem Zusammensetzungen invertiert und kontaminiert werden.

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Dabei geht es Frey um eine tiefere semantische Struktur als Eckhard Schumacher, der sich für die »Oberflächenübersetzung« (S. 164) insbesondere von Ralf-Rainer Rygulla und Rolf Dieter Brinkmann interessiert. Gerade hier wird deutlich, wie schnell die Analyse auch ans Ende ihres Lateins kommen kann und lediglich ein Kompendium an klanglichen Übersetzungsmöglichkeiten abgibt, spricht sie nur von ›Einflüssen‹, ohne diese genauer zu untersuchen, wie das beispielsweise Wolfram Groddeck oder Hans-Jost Frey in geradezu vorbildhafter Art und Weise tun.

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Ebenso exemplarisch ist Dieter Burdorfs Analyse, welche auf Thomas Klings Beschäftigung mit Rudolf Borchardts Bakchen-Stoff eingeht. Während zunächst Borchardts Übernahme von Schillers metrischer Form und weniger des Bakchenstoffs selbst im Zentrum steht – da Borchardt Nietzsches Dichotomie zwischen dem ›Apollinischen‹ und ›Dionysischem‹ als »eine haltlose Träumerei der Nachromantik« abtut (S. 125) –, sichtet Kling wiederum im Sinne von Borchardt quasi hinter der ganzen Tradition im Umgang mit dem Bakchenstoff (von Epiphanie, Christusbezug und Säkularisierung) im antiken Kontext. Ganz im Geiste seiner Gedichtanthologie Sprachspeicher (2001) geht es ihm explizit um eine Befreiung von kanonischen Vorgaben, welche das Gedicht in der Tradition erstarren lassen.

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Übersetzen und Vermitteln

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Weitere Beiträge im Band konzentrieren sich vor allem auf die Übersetzertätigkeit der Dichter und deren Einfluss auf die eigene Dichtung: So zeigt Elisabetta Mengaldo die »Brecht-Funktion« bei Franco Fortini auf (S. 137 f.); Michael Gratz setzt die Dante-Rezeption in der (Ex‑)DDR in von der Larmoyanz eines Durs Grünbein ab; Theresia Prammer wiederum interessiert sich für Oswald Eggers Nachdichtungen der Verse des spanischen Mystikers Juan de la Cruz; Armin Schäfer geht den Rilke-Fehllektüren in William H. Gass’ Roman The Tunnel nach.

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Und last but not least untersucht Hans-Joachim Hahn die Lyrik des Übersetzers Henryk Bereskas. In diesem Beitrag wird ausdrücklich auf die kollektive Dimension des Einflusses verwiesen. So bestimmte Bereskas Selektion und Übersetzungstätigkeit die Rezeption der polnischen Literatur in der DDR maßgeblich; und auch wenn Bereska »in seinen Gedichten und Essays, bezogen auf die politischen Umstände, eine Art Kult der Einflusslosigkeit« »zelebrierte« und sich von den anderen Dichtern seiner Zeit unterscheidet, so lässt sich ein impliziter Bezug seiner Dichtung zu seiner Übersetzertätigkeit insbesondere von Tadeusz Różewicz wunderbar nachzeichnen (S. 230 f.).

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Vielfalt an Modellen, Polyphonie der Dichtung

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Der Band zeichnet sich durch einen klar formulierten Theorieansatz aus, der sich von Harold Blooms – inzwischen in die Jahre gekommenen – »Einflußangst« explizit absetzt. Zudem haben es die Herausgeberinnen geschafft, dem Fokus auf die Dichtung und somit auf eine besonders durch Form und Klanglichkeit geprägte literarische Form treu zu bleiben. Dass sich trotz des definierten Genres aus einer bestimmten Zeit in einem spezifischen Sprachraum der Theorieansatz zu ungenügend erweist, mag zunächst erstaunen. Die Abkehr von einer agonalen Intertextualität ist durchwegs nachvollziehbar und ist in vielen Fällen auch völlig einsichtig. Dennoch hätte sich wohl ein größeres theoretisches Angebot an Text-, Werk-, Autor- und Literaturbeziehungen gelohnt.

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Einzelne Artikel bringen alternative Modelle in Anschlag, die sich durchwegs lohnen, vertieft zu werden. So hält beispielsweise Norbert Christian Wolf fest, dass Harold Bloom einer Theorie der Einfluss-Lust sicherlich nicht abgeneigt wäre, und ortet das Problem vor allem darin, dass die »Problematik des Einflussbegriffs« »vor allem darin« bestehe, »dass er tendenziell eine Schwäche oder Passivität der Übernehmenden suggeriert« (Norbert Christian Wolf, S 58). Zu fragen ist, warum gerade Intertextualitätstheorien so schnell als zu wenig spezifisch und zu wenig fruchtbar deklariert werden (Einführung, S. 8 f.).

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Der bruchstückhafte Rückgriff auf Julia Kristeva, Roland Barthes und Jacques Derrida ist noch nicht ausreichend, gerade wenn der Systematiker Gérard Genette mit seinem Modell nicht nur von – quasi autorlosen und anonymen – Beziehungen zwischen Texten, sondern von verschiedenen aktiven auch auktorial intendierten Palimpsesten gänzlich fehlt. »La littérature au second degré« hätte auch einen Reflexionsraum eröffnen können für verschiedene Schreibverfahren des Pastiche, der Parodie, der Ironie, des Zitats. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass einige Artikel in diesem Band explizit von ›Überschreibungen‹ – auch wenn es sich angeblich um ›Fehllektüren‹ handelt – ausgehen.

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Gerade wenn man von Dichtung spricht, hätte wohl noch eine weitere Dimension theoretisiert werden sollen: diejenige des implizierten medialen Wechsels zwischen Schriftlichkeit und Klanglichkeit – so utopisch er manchmal auch sein mag. So wäre es vielleicht besser, von Akustik anstatt von »Oberfläche« zu sprechen. Zu Recht erweisen sich metrisch-rhythmische Analysen als äußerst fruchtbar, um das Verhältnis zwischen Herkunfts- und Zieltext möglichst präzise zu erfassen.

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Zu Recht verweist Dieter Burdorf darauf, dass beispielsweise der Verlust der Stimme bei Thomas Kling dazu führe, dass »die Dominanz der mündlichen Seite der Dichtung in den Schrifttexten hervorgekehrt« werde (S. 129). Und zu Recht hält Johann Reisser fest, dass »die Spur der Musik Brinkmann dabei immer wieder zu Verfahren« führe, »Bewusstseinsformen und Kollektive zu erzeugen, zu strukturieren, zu unterwandern und umzuformen« (S. 172). Die Musik steht gerade im Modell der Mehrstimmigkeit, für die Marcel Beyer bereits in seinem Eröffnungsbeitrag plädiert, wichtiger Pate zur Theoretisierung des Beziehungsgeflechts zwischen Dichtungen.

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Oder in den Worten Hans-Jost Freys: »Alles schimmert schon immer. Das Nacheinander tritt hinter das Miteinander zurück. […] Die Zurückstellung des Linearen zugunsten des im Raum Gleichzeitigen schließt das Argumentative und Erzählende aus. Stattdessen gibt es punktuelle Textherde, die ausstrahlen […].« (S. 113) Das hier Beschriebene ist eine höchst musikalische Theorie der Polyphonie. Mit anderen Worten: Der hier vorliegende, wunderbare Band beinhaltet um einiges mehr, als er vorgibt zu beinhalten. Und das ist auch das Verdienst der beiden Herausgeberinnen.