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Störungen im System

Die Wissenschaft und ihre widerständigen Phänomene

  • Carsten Gansel / Norman Ächtler (Hg.): Das 'Prinzip Störung' in den Geistes- und Sozialwissenschaften. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 133) Berlin, Bosten: Walter de Gruyter 2013. 271 S. Gebunden. EUR (D) 79,95.
    ISBN: 978-3-11-031298-0.
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Vom Rauschen in der Telefonleitung über Lärmbelästigungen und den ›Flitzer‹ während eines Fußballspiels bis hin zu Naturkatastrophen und Terrorangriffen eröffnet der Begriff der Störung ein weites Assoziationsfeld. Ob Störungen kalkuliert sind oder als Zufallsprodukte entstehen, ob sie Ordnungen kurzzeitig irritieren oder nachhaltig zerstören, ob ihnen eine Eigengesetzlichkeit zukommt oder sie ausschließlich als relationale Phänomene beschreibbar sind – all das gehört zu den Aspekten, die im Hinblick auf ihre Strukturen und Reaktionsmechanismen erforscht werden müssen. Entsprechend dieser Reichweite des Begriffes und der Anfälligkeit gerade der Gegenwartskulturen für Störfälle wundert es nicht, dass derartige Fragen seit einigen Jahren vermehrt ins Blickfeld der Wissenschaft rücken.

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An die dabei entstandenen Studien aus den Medien- und Kulturwissenschaften 1 schließt der von Carsten Gansel und Norman Ächtler herausgegebene Band an und begegnet dem Phänomen der Störung in einer erklärt interdisziplinären Perspektive, an der Forscherinnen und Forscher aus den Literatur-, Kunst- und Kommunikationswissenschaften, der Soziologie, Theologie und Linguistik beteiligt sind. Er geht zurück auf eine Gießener Tagung im Jahr 2010, die den Herausgebern zu Beginn ihrer Einleitung (S. 7–13) als einziger Beleg für die Aktualität der Störungsforschung dient, obwohl sie auf »mehrere Initiativen und Tagungen« (S. 7) zum Thema hinweisen.

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Leistung und Apodiktik der Einleitung

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Abgesehen von diesem selbstreferentiellen Einstieg gibt die Einleitung einen profunden Überblick über die verschiedenen Forschungstendenzen, die überzeugend auf zwei gemeinsame Nenner gebracht werden: einen destruktiven und einen produktiven. Der erste Ansatz beruft sich auf das kommunikationstheoretische Modell von Claude E. Shannon und Warren Weaver, 2 die Störungen als ein ›Rauschen‹ konzeptualisieren, das im Unterschied zum Informationscode des Signals Kommunikation verhindert. Die zweite von Ludwig Jäger geprägte Position versteht Störungen dagegen als Bedingung von Kommunikation, weil sie zwangsläufig Korrekturmaßnahmen nach sich ziehen und insofern eine Sinn stiftende Funktion erfüllen. 3

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Dieser konstruktiven Auffassung folgen auch die Herausgeber und erweitern sie unter Rückgriff auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns um eine gesellschaftliche Dimension im Sinne sozialer (Selbst-)Verständigungs- und Normalisierungsprozesse. Ihr zufolge erneuern sich Gesellschaftssysteme »beständig gerade auch in der Auseinandersetzung mit ihren anthropologischen, soziopolitischen, technisch-ökonomischen, ökologischen oder auch kulturellen ›Störfällen‹« (S. 9).

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Neben dieser thematischen Sondierung des Forschungsfeldes beruht die Stärke der Einleitung auf ihrer Verbindung von forschungsgeschichtlichem Überblick und Verweisen auf die unterschiedlichen Beiträge innerhalb des Bandes. Beide stehen nicht, wie sonst üblich, monolithisch nebeneinander, sondern sind derart eng miteinander verschränkt, dass die Anschlussfähigkeit der Aufsätze und die Weiterentwicklung von Forschungspositionen unmittelbar einsichtig werden.

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Problematisch ist allerdings die homogenisierende Ambition der Herausgeber. Um den eigenen Zugriff als innovativ zu markieren, fordern sie ein »konsistentes Theoriedesign, das über den gemeinsamen Bezug auf die ältere kommunikationstheoretische Forschung hinausgeht und terminologische wie konzeptionelle Grundlagen für eine konzisere Beschreibung des ›Prinzips Störung‹ bereitstellt« (S. 10). Obwohl sie eingestehen, »nur einige weitere Schritte in Richtung auf eine allgemeinere kulturwissenschaftliche Kategorisierung von Phänomenen der Störung [zu] gehen« (S. 10), nimmt die systemtheoretische Orientierung, auf die sie nolens volens alle Beiträger verpflichten, eine apodiktische Dimension an. Das Fazit der Einleitung lautet dementsprechend: »Eine kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Theorie der Störung kommt ohne die Verbindung von Systemstörung und Systemstabilisierung [...] nicht aus« (S. 13).

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Bedarf es bei einem so ambivalenten und komplexen Phänomen wie dem der Störung aber überhaupt eines einheitlichen Theoriemodells? Oder handelt es sich hier nicht eher um den typischen Reflex einer Wissenschaftstradition, die auch dort noch Kohärenz stiften will, wo die untersuchten Phänomene jegliche Systematisierung verunmöglichen?

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Um diesen Fragen nachzugehen, vollzieht die Rezension nicht den gängigen Parforceritt durch alle Beiträge, sondern sondiert diese danach, welcher Ertrag sich für das Konzept der Störung ergibt. Daher stehen vor allem diejenigen Texte im Fokus, die einen theoretischen Mehrwert aufweisen. Die eher auf konkrete Beispiele abzielenden werden insoweit einbezogen, wie sie die theoretischen Positionen zur Störung bekräftigen, aber auch unterlaufen und ganz eigene Aspekte eröffnen. Da die Herausgeber erklären, dass die im Band versammelten Ansätze alle die »produktive und gleichsam stabilisierende Bedeutung« (S. 13) von Störungen aufzeigen würden, müssen sie sich auch an diesem Anspruch messen lassen.

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Zur Aufteilung des Bandes

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Der Band ist in drei überschriftslose Abteilungen gegliedert, deren jeweiligen Zusammenhang die Herausgeber nicht erläutern. Es bleibt daher dem Leser überlassen zu rekonstruieren, dass der erste Hauptteil einen theoretischen Schwerpunkt aufweist, im zweiten die literaturwissenschaftlichen Artikel versammelt sind und der letzte als Sammelbecken für all jene Aufsätze fungiert, die sich nicht so recht miteinander verbinden lassen (darunter ein film- und ein kunstwissenschaftlicher, aber auch ein religionswissenschaftlicher Beitrag). Warum allerdings dieser letzte Teil durch einen literatursoziologischen Aufsatz eröffnet wird, bleibt im Hinblick auf das implizite Ordnungsraster unklar.

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Verwunderlich ist auch, dass die numerische Gliederung des Inhaltsverzeichnisses im Band selbst gar nicht auftaucht, so dass man sie für das Relikt einer früheren Fassung halten könnte. Jedenfalls verstärkt sich so der Eindruck, dass sich das Forschungsfeld der Störung gegen seine Systematisierung sperrt. Der Verzicht auf eine Unterteilung, für den sich beispielsweise Albert Kümmel und Erhard Schüttpelz in dem von ihnen herausgegebenen Band Signale der Störung entschieden haben, 4 wäre die elegantere Lösung gewesen, zumal der literaturwissenschaftliche Fokus derart dominant ist, dass er quer zur Anordnung in allen Kapiteln durchscheint.

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Systemtheorie als Theorie der Störung?

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Gemäß der dezidiert systemtheoretischen Orientierung steht am Beginn des Bandes der soziologische Beitrag von Gerhard Preyer (»Irritation. Systemtheoretische Grundlagen«, S. 15–29), der vor dem Hintergrund der Globalisierungsprozesse eine »Dauerirritation« (S. 21) der Kommunikationssysteme diagnostiziert. Anlässlich dieses beständigen Bedrohungsszenarios beschwört Preyer jedoch keine Apokalypse des Medienzeitalters herauf, sondern will zeigen, dass »sich soziale Systeme nur durch Irritationen und Grenzziehungen reproduzieren« können (S. 17).

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In einer Paraphrase einschlägiger Passagen aus Niklas Luhmanns Die Gesellschaft der Gesellschaft bestimmt Preyer verschiedene Reaktionsweisen im Umgang mit Störungen (vgl. S. 21), von denen vor allem zwei aufschlussreich sind: (1) die Systemintegration, bei der die Erwartungshaltung der Systemmitglieder in einem Lernprozess angepasst wird, und (2) die Dispension, bei der die Systemmitglieder an ihren Einstellungen festhalten und mit Störungen so umgehen, als seien sie Faktoren der Umwelt. Mit Hilfe dieser Verfahren – so die systemtheoretische Vorstellung – erhalten sich autopoietische Systeme angesichts von Störfällen entweder über ihre Grenzerweiterung oder ihre Grenzverteidigung.

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Bleiben diese Überlegungen ganz im Sinne der Bestimmungen von Luhmann, so überrascht, dass Preyer Störung als »Systemzustand« (S. 20) definiert. Zwar spricht auch Luhmann von Irritationen als »systemeigenen Konstrukten« 5 im Sinne von »Selbstirritationen«, 6 doch müssen diese gerade wegen der Außenreize, die sie in Gang setzen, als Ereignisse beschrieben werden, die Zustände in Frage stellen und nicht ihrerseits als Zustände fungieren können.

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Überhaupt scheint es angemessen, die irritationsfreie Herleitung des Störkonzeptes aus der Systemtheorie kritisch zu hinterfragen. Irritationen als Stabilisierungsfaktoren zu verstehen stellt einen Kunstgriff Luhmanns dar, der es ihm ermöglicht, auch noch die Reibungspunkte der Systeme zu einem Bestandteil der Systemtheorie zu machen. Dass durch sie die Innen-Außen-Schwellen sichtbar und verhandelbar werden, sagt jedoch noch nichts über ihren eigenen Status aus, an dem Luhmann auch gar nicht interessiert ist. Obwohl Störungen die binäre Logik aufrechterhalten, stehen sie selbst außerhalb dieser Ordnung. Damit lautet die Gegenthese zu Preyer (und Luhmann) nicht, Störungen als Außenfaktoren zu bestimmen, sondern sie als ein Drittes zu verstehen, das systemisch eigentlich nicht zu fassen ist.

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Unruhestifter wider die Systemlogik

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Ein weiteres Argument gegen die Annahme, Störungen seien Ergebnisse systemimmanenter Prozesse, lautet, dass es durch sie auch zu Systemauflösungen kommen kann. Auf diesen Umstand macht Burkhard Meyer-Sickendiek zu Beginn seines Beitrags aufmerksam (»›Ruhestörer‹ von Heine bis Harden. Perturbation als Eskalation in der deutsch-jüdischen Moderne«, S. 131–150). Mit seiner Kritik an Luhmanns Verständnis von Kommunikation, demzufolge Störungen immer in »die Form von Sinn gezwungen« 7 und damit verhandelbar werden, unterläuft er das von den Herausgebern angeführte Produktivitätsargument.

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Innerhalb des Bandes tritt Meyer-Sieckendiek gewissermaßen selbst als Unruhestifter auf, weil er sich der Systemlogik widersetzt. Neben der expliziten Kritik an der Systemtheorie gelingt ihm dies dadurch, dass er aufzeigen kann, wie der Sarkasmus deutsch-jüdischer Autoren eine doppelte Wirkung entfaltet: störend nach außen und kompensierend nach innen. Die systemkritische Konsequenz daraus lautet: »Kompensation ist ein Paradox der Störung, keine Funktion« (S. 149). Indem Meyer-Sickendiek die Grenzen systemtheoretischer Modelle aufzeigt, dokumentiert sein Beitrag plausibel, dass man sich wichtige Zugänge zum Phänomen der Störung verstellt, wenn man es so stark auf eine einzige Theorie bezieht, wie es im vorliegenden Band geschieht.

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Typologie der Störung

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Dass diese theoretische Festlegung für sich genommen wichtige Erkenntnisse liefern kann, steht dennoch außer Frage. Dies beweist zumindest der Beitrag von Carsten Gansel (»Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur«, S. 31–56). Stärker noch als in der Einleitung wird zu Beginn des Artikels eine weite Perspektive auf den Komplex der Störung eröffnet, um sie dann – der eigenen literaturwissenschaftlichen Provenienz entsprechend – auf den Literaturbetrieb zuzuspitzen. Biologischen und psychologischen Konzepten der Störung, bei denen Gansel eine durchweg negative Konturierung des Terminus aufzeigt, versucht er eine positive Profilierung in den Geisteswissenschaften entgegenzusetzen.

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Nun muss man diese Schwarz-Weiß-Zeichnung etwas korrigieren, denn die Felder der Ornithologie und der Adoleszenzpsychologie, auf die sich Gansel bezieht, sind nicht die einzigen Wissenschaftszweige, in denen Störphänomene eine Rolle spielen. So geht zumindest die Prägung des Begriffs der Verstörung auf die neurobiologischen Schriften von Humberto Maturana zurück, insbesondere auf das mit Francisco Varela verfasste Buch Der Baum der Erkenntnis. Das Anliegen dieser Studie, der im Übrigen die Systemtheorie wesentliche Impulse zu verdanken hat, besteht darin, alles Lebendige in Gestalt interagierender autopoetischer Systeme zu bestimmen. Kommt es zu Veränderungen dieser Systeme, dann liegt das an bestimmten Auslösungsfaktoren – den so genannten Perturbationen. In einer Erklärung des Übersetzers heißt es hierzu, dass bewusst auf eine Übertragung des spanischen »perturbación« in »Störeinwirkung« oder »Verstörung« verzichtet wurde, weil diese Begriffe zu negativ konturiert seien. 8 Stattdessen entschied er sich für den Ausdruck ›Pertubation‹, um dem wertneutralen Begriffsgebrauch bei Maturana gerecht zu werden.

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Dessen Wendung ins Positive lässt sich Anfang der 1990er Jahre in einem Teilbereich der Psychotherapie beobachten. So werden Verstörungen in der systemischen Therapie als Impulse eingesetzt, die im Sinne eines Überraschungseffektes schematisierte Denkmuster aufbrechen sollen. Kurt Ludewig, der den Begriff für die klinische Forschung etabliert hat, erachtet Verstörungen daher explizit als etwas Produktives, das im Erfolgsfall eine »heilsame« 9 Wirkung aufweist. Daran anschließend sprechen Arist von Schleppe und Jochen Schweitzer von »nachhaltigen Verstörungen«, 10 die grundlegende Veränderungen in Gang setzen.

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Gansel lässt in seinem Plädoyer für die Aufwertung des Störungskonzepts diese Traditionslinien außer Acht und knüpft stattdessen an die sprachtheoretischen Überlegungen Ludwig Jägers und die Systemtheorie Niklas Luhmanns an. Um Störungen in ihrer Aktions-Reaktions-Dimension zu erfassen, bringt er überzeugend den Begriff der Entstörung ins Spiel und entwickelt darüber hinaus plausibel verschiedene Intensitätsgrade. So unterscheidet er zwischen (a) »›Aufstörung‹ im Sinne von Aufmerksamkeit erregen«, (b) »›Verstörung‹ im Sinne einer tiefgreifenden Irritation« und (c) »›Zerstörung‹ im Sinne nachhaltiger Umwälzung« (S. 35). Als besonders ergiebig erweist sich, dass Gansel diese Typologie von den Wahrnehmungsweisen her spezifiziert, indem er die drei Typen als integrierbar (a), reparierbar (b) und irreversibel (c) einstuft.

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Einen Transfer dieser theoretischen Überlegungen auf das Handlungs- und Symbolsystem der Literatur versucht Gansel anhand zweier Beispiele: Christa Wolfs Störfall als literarischer Verhandlung des Reaktorunfalls von Tschernobyl und dem dritten Teil von Erwin Strittmatters Wundertäter-Trilogie, der aufgrund von Zensurmaßnahmen der Stasi selbst zum gesellschaftlichen Störphänomen avanciert. Auch wenn Gansel die jeweiligen sprachlichen Darstellungsweisen berücksichtigt und hieran die Selbstbeobachtung des Mediums festmacht, stehen Störungen bei ihm stets in einem historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang. Eine solche Perspektive hat ihre volle Berechtigung; was einem derartig literatursoziologischem Zugriff allerdings abgeht, sind Fragen nach der genuin ästhetischen Qualität von Störungen, wie sie sich beispielsweise in narrativen Brüchen, Inkohärenzen oder plötzlichen Handlungsumschwüngen zeigen.

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Von der Romantik bis zur Gegenwartsliteratur lassen sich zahlreiche Texte finden – man denke nur an Ludwig Tiecks Der blonde Eckbert, Rainald Goetz’ Irre oder Sibylle Lewitscharoffs Pong –, die Störungen in dieser Form als Wirkungsstrategie einsetzten, ohne eine veränderte gesellschaftliche Sichtweise produzieren zu wollen, sondern gerade auf eine Ungewissheit des rezipierenden Bewusstseins abzielen. Ergänzend zur soziologischen Perspektive gilt es deshalb, literarische Verstörungspraktiken zu erforschen, bei denen strukturelle Komponenten dafür verantwortlich sind, dass eine produktive Lektüre in eine negative umschlägt bzw. dieser Umschlag in der Schwebe gehalten wird.

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Diskurs und Störung

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Ein ähnlicher Einwand lässt sich gegen den Beitrag von Norman Ächtler vorbringen (»›Entstörung‹ und Dispositiv. Diskursanalytische Überlegungen zum Darstellungstabu von Kriegsverbrechen im Literatursystem der frühen Bundesrepublik«, S. 57–81). In ihm werden drei Romane der Nachkriegszeit auf ihre aufstörende Funktion hin analysiert und dahingehend untersucht, welche unterschiedlichen Reaktionen sie in ihren jeweiligen Entstehungskontexten ausgelöst haben. So macht Ächtler anhand von Heinrich Bölls Wo warst du, Adam? eine »Strategie der Entstörung durch Verdrängung« (S. 70) fest, zeigt bei Erich Maria Remarques Zeit zu leben und Zeit zu sterben den Einfluss der Zensurbehörden auf und erläutert anhand von Hans Scholz’ Am grünen Strand der Spree, wie ein Roman gesellschaftliche »Lernprozesse« (S. 70) anstoßen kann.

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Der eigentlichen Analyse geht eine ausführliche und fundierte Engführung systemtheoretischer und diskursanalytischer Prämissen voraus, deren Schnittstelle die handlungsorientierte Weiterentwickelung von Foucaults Diskursanalyse durch Jürgen Link darstellt. Als Scharnierstück der zwei Supertheorien fungiert das Dispositiv als ein Machtmechanismus, der im Falle des Systems Literatur immer dort greife und neu justiert werde, wo literarische Texte als Störungen in Erscheinung treten. Der Artikel mündet deshalb in einen Aufruf zu einem »erweiterten Literaturbegriff«, der »Autoren und Werke in ihre sozialsystemische Umwelt einbettet« (S. 81).

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Nun ist eine solche Erweiterung des Literaturbegriffs erstens nicht neu 11 und zweitens mit einigen Problemen verbunden. Denn Kontexte lassen sich nie vollständig erfassen. Im Zweifel setzt sich deshalb der Normalitätsdiskurs, in dessen Wechselspiel sich Störungen ereignen, aus dem Material zusammen, das der Literaturwissenschaftler zusammentragen kann – und das führt durchaus zu widersprüchlichen, in jedem Fall aber zu keinen objektiven Ergebnissen.

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Wenn sich beispielsweise kaum Rezensionen zu Bölls Roman finden lassen, die die Darstellung der Kriegsverbrechen als anstößig beurteilen (vgl. S. 72) – was Ächtler als einen Vorgang der Verdrängung darstellt –, müsste dann die Schlussfolgerung nicht lauten, dass diese gar nicht als Provokation wahrgenommen wurden? Oder anders und grundsätzlich gefragt: Wie lässt sich eine Störung überhaupt unterstellen, wenn sie nicht explizit als solche aufgefasst wird? Wie viele Mitglieder eines Systems und welche Instanzen müssten ›anschlagen‹, damit etwas als störend eingestuft wird? Entstörungen als Verdrängungen zu qualifizieren, birgt in jedem Fall die Gefahr, den Normalitätsdiskurs allzu homogen zu bestimmen. Und genau das entpuppt sich als der neuralgische Punkt in der systemtheoretischen Anlage des Bandes: In dem Bemühen, Störungen über die Norm zu bestimmen, die sie in Frage stellen, wird ein Systemganzes unterstellt, das so gar nicht greifbar ist.

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Von der Unmöglichkeit der Sinnrestitution

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Nicht alle Beiträger folgen allerdings dieser systemtheoretischen Doktrin. Gegen die allzu glatte Auflösung von Störfaktoren argumentiert etwa der Beitrag von Arndt Niebisch (»Noise. Rauschen zwischen Störung und Geräusch im 19. Jahrhundert«, S. 83–95). Er weist auf ästhetische Positionen hin, bei denen der Akzent weniger auf der produktiven Seite von Störungen liegt als vielmehr auf ihrer Persistenz. So spreche Umberto Eco von der »interpretativen Unschärfe« (S. 84), die konstitutiv für offene Kunstwerke sei. Ähnlich gehe es bei Max Bense um die »Komplexität und Unbestimmtheit von ästhetischen Phänomenen« (S. 85), die mithilfe der Kategorie der Störung beschreibbar würden. Gerade im Zusammenhang ästhetischer Erfahrung lässt sich damit zeigen, dass Störungen zwar Verstehensversuche im Sinne von Anpassungsleistungen nach sich ziehen, diese aber immer nur vorläufig sind.

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Niebisch bringt diese Unabgeschlossenheit auf den Punkt, indem er zum Ende seines Beitrags auf eine zentrale Paradoxie hinweist, die mit dem Konzept der Produktivität von Störungen verbunden ist. Demnach setzen sie zwar den Prozess einer Sinnrestitution in Gang, »aber eine Hermeneutik der Störung geht als Konzept nicht auf, da in der Störung ja eben kein Sinn zu verorten ist« (S. 95). Für die Ausrichtung des Bandes hat dies zur Konsequenz, dass sich die darin in Anschlag gebrachte systemerhaltende Funktion von Störungen als eine äußere Zuschreibung entpuppt. Sie ist das Ergebnis der Reaktion auf Störungen und kein inhärentes Charakteristikum. Eine derartige Annäherung geht daher unter dieser Perspektive an dem eigentlichen Phänomen der Störung vorbei, das sich gegenüber jeder Form der Vermittlung als unzugänglich erweist.

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Störungen in Literatur, Religion und Medien

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Blickt man summarisch auf die übrigen Beiträge, so ergibt sich bei ihnen ein ähnlich heterogener Befund. In den literaturwissenschaftlich orientierten wird das Störungskonzept zum Teil ganz im Sinne der systemtheoretischen Norm des Bandes angewendet (Hans-Christian Stillmark: »Notbremsen, Skandale und Gespenster. Dramaturgien der Störung bei Bertolt Brecht und Heiner Müller«, S. 151–168) bzw. werden die Begrifflichkeiten der Herausgeber nahtlos übernommen (Sonja E. Klocke: »›Das Mittelalter ist keine Epoche. Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur.‹ Aufstörung, Verstörung und Entstörung in Juli Zehs Corpus Delicti«, S. 185–201).

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Andere Aufsätze verwenden den Diskurs der Störung eher zurückhaltend als Präzisierung anderer Termini wie des der Zensur (Matthias Braun: »Recherchen zur Entstehungsgeschichte von Monika Marons Roman Flugasche. Ein Beispiel für ›Aufstörung‹ und Aushandlung gesellschaftlicher Toleranzgrenzen in einer geschlossenen Gesellschaft«, S. 203–216), oder bleiben im Hinblick auf dessen Begriffsbestimmung weitgehend profillos (Verena Ronge: »Gender trouble in der Zwischenwelt. Weiblicher Vampirismus als Störung der Geschlechterordnung«, S. 113–130).

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Einen eigenen Akzent kann hingegen Elisabeth Herrmann setzen mit ihrer Lektüre von Günter Grass’ Roman Die Blechtrommel (»Das Kind (?) Oskar. Totale Verweigerung und anarchische Aufstörung in Günter Grass’ Die Blechtrommel«, S. 169–184). Anhand der vielfältigen Störphänomene sowohl auf figurativer wie auch narrativer Ebene zeigt sie schlüssig auf, wie der Roman eine meta-poetische Reflexion des Störens betreibt, mit deren Hilfe er der »Erwartung des Lesers an eine a priori gegebene Sinnhaftigkeit des Textes« (S. 181) eine Absage erteilt. Herrmann veranschaulicht damit stichhaltig, dass sich Störungen als literarische Verfahren jedem Versuch widersetzen, in einen kohärenten Verstehenszusammenhang integriert zu werden.

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Auch die medien-, kunst- und religionswissenschaftlichen Ansätze müssen in ihrem theoretischen Profil unterschiedlich bewertet werden. Während Franz Josef Bäumer, aus religionswissenschaftlicher Sicht durchaus nachvollziehbar, die Logik von Störung und Entstörung auf den Tod und seine metaphorische Bewältigung bezieht (»Tod – Störung – Raum. Die Thematisierung des Todes in der material-kerygmatischen Katachese«, S. 259–268,), versucht sich Silke Tammen mit ihrem Aufsatz (»Stolpersteine – Bodenbilder. Wahrnehmungs- und Erinnerungsverstörungen«, S. 235–258) an einem »vielfacettigen Störungsbegriff«, den sie »als positiv, intentional und reflexiv wirkend« (S. 239) fasst. Sie aktualisiert damit – ohne es selbst zu thematisieren – Viktor Sklovskijs Verfremdungsthese, der zufolge Kunst die Fähigkeit zukommt, als Störphänomen gewohnte Wahrnehmungsmuster zu irritieren und den Blick auf die Materialität des künstlerischen Mediums zu lenken. 12

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Bleiben beide Ansätze im bekannten Muster etablierter Modelle der Störung, so erweitert vor allem der Aufsatz von Lars Koch deren Horizont noch einmal entscheidend (»Punktzeit als (Ver-)Störung. Über filmische Narrative absoluter Feindschaft«, S. 217–233). Auch er bestimmt Störungen in Relation zur Umwelt, eröffnet darüber hinaus aber im Hinblick auf das narrative Format des Spielfilms eine Dimension der Störung, die sie in ihrer Eigenzeitlichkeit beschreibbar macht. In Anschluss an Karl Heinz Bohrers Überlegungen zur Ästhetik der Plötzlichkeit weist er überzeugend auf den wahrnehmungsästhetischen Effekt exzessiver Gewaltakte im Film hin, die in ihrem »Ereignischarakter spätmoderne Zeitbudgets auf Punktzeit schrumpfen lassen« (S. 222). Störungen wie zum Beispiel die Darstellung eines Amoklaufs verunmöglichen unter dieser Perspektive im Moment ihres Erscheinens jede kompensierende Reaktion, weil sie das Wechselspiel von Rückblick und Vorausschau als Bedingung der Sinnkonstitution radikal verdichten. Angesichts eines plötzlich aufbrechenden Gewaltaktes im Film scheinen die Kontexte – das Vorher und das Nachher einer solchen Szene – zu implodieren.

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Fazit

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Sammelbände sehen sich häufig mit dem Vorwurf konfrontiert, dass die Beiträge in ihrer Zusammenstellung ein zu divergentes Bild abgäben. Ein solcher Vorwurf ist jedoch allzu billig, weil erstens jeder um die Unmöglichkeit weiß, alle Aufsätze auf einen gemeinsamen Kurs zu bringen, und zweitens eine solche Vereinheitlichung auch gar nicht das Ziel von Wissenschaft sein kann. Wird jedoch dieser Anspruch selbst erhoben – wie im vorliegenden Band mit dem Produktivitätsargument und der Binärlogik von Systemstörung und -stabilisierung –, so ist es umso bedauerlicher, wenn mit ihm die durchaus innovativen Beobachtungen einzelner Beiträge überdeckt werden.

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Dabei können die Herausgeber für sich in Anspruch nehmen, den von Niklas Luhmann peripher verwendeten Begriff der Störung für die Systemtheorie profiliert und zugleich wichtige Erkenntnisse über die relationale Grundstruktur von Störungen sichtbar gemacht zu haben. Allerdings erscheint es vermessen, dieses theoretische Modell als Universalwerkzeug zur Beschreibung von Störphänomenen darzustellen. Dass ein solcher Forschungskonsens gar nicht erstrebenswert ist, lässt sich dabei sogar mit Luhmann belegen. Zumindest äußert er sich skeptisch gegenüber einer konsensualen Reaktion auf Störungen, weil bei ihr »die Gefahr des Irrtums, der Fehlleistung, des Stillstandes viel zu groß« 13 sei. Und das gilt nicht nur für gesellschaftliche Verständigungsprozesse, sondern eben auch für die Wissenschaft: »Jede Kommunikation lädt zum Protest ein« 14 .

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Was dem Band deshalb fehlt, ist eine Affirmation des Heterogenen und Widersprüchlichen von Störphänomenen ebenso wie der Modi ihrer Erforschung. So könnten etwa poststrukturalistische Perspektiven zeigen, wie schwer es ist, die Risse zu kitten, die sich angesichts von Störfällen in gesellschaftlichen Kontexten oder ästhetischen Erfahrungen ergeben. Anders als bei einer systemisch orientierten Theorie und ergänzend zu den Reaktionsweisen, die bei ihr im Fokus stehen, würden Störungen bei einem solchen Ansatz als Figuren der Offenheit belassen, deren Eigengesetzlichkeit stärker gewichtet wäre.

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Dass allerdings der Band durchaus Kohärenz erlangt, gehört zu seinen unfreiwilligen Pointen. Freilich ist dies eine Kohärenz, die allen Verdrängungen zum Trotz auf diejenigen Beiträge angewiesen bleibt, die sich der systemtheoretischen Vorgabe widersetzen. So wiederholt sich auf der Metaebene das, was die Herausgeber in der Analyse als Kernelement von Störungen zu entdecken meinen: eine Systemintegration als Reaktion auf Irritationen. Die Frage bleibt allerdings, ob man damit tatsächlich der Vielfalt von Störungen gerecht wird, oder nicht eher einen Akt der Anpassung betreibt, unter dem Störungen aufhören sollen zu stören.

 
 

Anmerkungen

Albert Kümmel / Erhard Schüttpelz (Hg.): Signale der Störung. München: Fink 2003; Julia Fleischhack / Kathrin Rottmann (Hg.): Störungen. Medien – Prozesse – Körper. Berlin: Reimar 2011; Lars Koch / Christa Petersen / Joseph Vogl (Hg.): Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2 (2011): Störfälle; Lars Koch / Stephan Habscheid (Hg.): Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 173 (2014): Katastrophen, Krisen, Störungen.   zurück
Claude E. Shannon / Warren Weaver: The Mathematical Theory of Information. Urbana: University of Illinois Press 1949.   zurück
Ludwig Jäger: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink 2004, S. 35–73.   zurück
Vgl. Kümmel/Schüttpelz (Anm. 1). Der Band erweist sich auch deshalb als origineller und dem Thema adäquater, weil hier die Störung zur Methode erklärt wird, indem »jedem Beitrag« – wie es in der Einleitung heißt –»ein zweiter kürzerer zugesellt [ist], der die Thesen des ersten auf unterschiedliche Weise ›stört‹«; Albert Kümmel / Erhard Schüttpelz: Medientheorie der Störung / Störungstheorie der Medien. Eine Fibel. In: Kümmel/Schüttelpelz (Anm. 1), S. 9–13, hier S. 9.   zurück
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 118.   zurück
Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 237.   zurück
Humberto Maturana / Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern u.a.: Scherz 1987, S. 27.   zurück
Kurt Ludewig: Systemische Therapie. Grundlagen klinischer Theorie und Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta 1992, S. 125.   zurück
10 
Arist von Schleppe / Jochen Schweitzer: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2. Aufl. 2013, S. 209.   zurück
11 
Die Berücksichtigung von Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen stellt eine Kernforderung soziologischer Literaturwissenschaft dar, wie sie sich insbesondere in den 1960/70er Jahren etabliert hat. Vgl. Jürgen Scharfschwerdt: Grundprobleme der Literatursoziologie. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Überblick. Stuttgart: Kohlhammer 1977; Alphons Silbermann: Einführung in die Literatursoziologie. München: Oldenbourg 1981; Jürgen Link / Ursula Link-Heer: Literatursoziologisches Propädeutikum. München: Fink 1980.   zurück
12 
Viktor Sklovskij: Die Kunst als Verfahren. In: Jurij Striedter (Hg.): Texte der Russischen Formalisten. Bd. 1. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München: Fink 1969, S. 3–35.   zurück
13 
Niklas Luhmann (Anm. 7), S. 237.   zurück
14 
Ebd., S. 238.   zurück