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Der Generationenroman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Probleme, Desiderate und Deutungsalternativen

  • Julian Reidy: Rekonstruktion und Entheroisierung. Paradigmen des 'Generationenromans' in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bielefeld: Aisthesis 2013. 316 S. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 978-3-89528-968-2.
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Eine Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen deutschsprachigen Generationenroman scheint ohne Rückgriff auf kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien und erinnerungskulturelle Kontexte gar nicht mehr auszukommen – das gilt nicht nur für die Literaturwissenschaft, sondern auch für die feuilletonistische Literaturkritik. Laut Julian Reidy hat dies bereits zu einem Schablonendenken geführt, welches nicht nur alternative Funktionspotenziale völlig außer Acht lässt, sondern zudem grundlegende Fehllektüren nach sich zieht. Einen ähnlichen Befund hatte bereits Markus Neuschäfer geäußert, auf den Reidy im Klappentext verweist: »Diese Studie unternimmt den Versuch einer Überwindung der von Markus Neuschäfer konstatierten ›Fixierung‹ auf eine rein ›erinnerungskulturelle Funktion von Generationenromanen‹.« Ausgehend von diesem gemeinsamen Problembewusstsein verfolgt Reidy jedoch ein ganz eigenes Lösungskonzept und distanziert sich von Neuschäfers Ansatz. 1

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Erweitertes Blickfeld: Entheroisierung – ›Väterliteratur‹ – Intertextualität

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Reidy kritisiert die einseitige, nur auf erinnerungskulturelle Funktionen und gedächtnistheoretische Fragestellungen ausgerichtete Forschung zum zeitgenössischen Generationenroman gleich in mehrfacher Hinsicht: Zunächst dürfe nicht pauschal vom Verfahren der ›Rekonstruktion‹ auf eine Praxis des Erinnerns geschlossen werden – in vielen Generationenromanen werde zwar ›rekonstruktiv‹ erzählt, aber nicht erinnert. Darüber hinaus versucht Reidy nachzuweisen, dass die Gegenwartsliteratur auch Generationenromane hervorgebracht hat, in denen von vornherein weitgehend oder völlig auf ›rekonstruktive‹ Erzählverfahren verzichtet wird – Reidy nennt diese Erzählungen ›postheroisch‹. Während die Familie im ›rekonstruktiven‹ Generationenroman als Generationenfolge und somit in diachroner Perspektive dargestellt werde, stehe im ›postheroischen‹ Generationenroman die Gleichzeitigkeit der Familienmitglieder und somit das gegenwärtige Zusammenleben mehrerer Generationen im Vordergrund – in der Forschung sei diese Differenz bisher weitgehend ignoriert worden.

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Reidys Befund einer »Pauschalisierungstendenz in der Forschung« (S. 20) ist zwar nicht von der Hand zu weisen, jedoch muss ergänzend erwähnt werden, dass er sein Paradigma der ›Entheroisierung‹ an Texten nachweist, die in der Literaturwissenschaft bisher kaum Beachtung gefunden haben, nämlich an Judith Zanders Dinge, die wir heute sagten (2010), Clemens Setz’ Die Frequenzen (2009) und Peggy Mädlers Legende vom Glück des Menschen (2011). Die Einführung eines zweiten Paradigmas ist daher weniger als Reaktion auf Fehlinterpretationen zu verstehen, sondern ergibt sich vielmehr aus einer – von Reidy selbst vorgeschlagenen – Erweiterung des Analysekanons. 2

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Der Vorwurf an seine Vorgänger geht indes noch weiter: Reidy macht darauf aufmerksam, dass eine strikte literaturhistorische bzw. gattungsgeschichtliche Trennlinie zwischen der sogenannten ›Väterliteratur‹ und den aktuellen ›Generationenromanen‹ – wie sie etwa von Aleida Assmann, Friederike Eigler, Elena Agazzi und Ariane Eichenberg vorgenommen werden – nicht aufrechtzuerhalten ist. Erstens lasse die Heterogenität auf beiden Seiten eine solche strikte Gegenüberstellung nicht zu und zweitens seien bereits in den ›Väterbüchern‹ Verfahren verwendet und Probleme verhandelt worden, die heute – irrtümlicherweise – als innovativ eingeschätzt werden. Reidy kann hierbei unmittelbar an die Ergebnisse seiner Dissertation 3 anknüpfen, in der er das Konzept der ›Väterliteratur‹ und ihre literaturhistorische Einordnung einer grundlegenden Kritik unterzogen hatte: Das vermeintlich gemeinsame Thema der ›Väterliteratur‹ – der Bruch zwischen zwei Generationen und die Abrechnung mit den Kriegsteilnehmern – erweist sich bei gründlicher Lektüre der kanonischen Texte als Trugschluss und literaturhistorisches Vorurteil. Reidy geht sogar so weit zu sagen, dass aufgrund der Heterogenität der ›Väterbücher‹ streng genommen nicht einmal von einer Gattung gesprochen werden kann. 4 Demnach hält er es auch für höchst problematisch, eine Bestimmung des Generationenromans mittels Abgrenzung von der ›Väterliteratur‹ vorzunehmen: Die Interpretationen der Generationenromane werden verzerrt, weil sie angeblichen gattungsgeschichtlichen Differenzkriterien gehorchen, statt sich unvoreingenommen dem Text zu widmen. Dass sich elaboriertere Interpretationen der einzelnen Texte durchführen lassen, wenn man erst einmal die Brille der ›Väterliteratur‹ abgenommen hat, möchte Reidy in seinen Analysen zeigen. Ein besonderes Gewicht legt er hierbei auf intertextuelle Bezüge – diese nämlich seien bisher in der Regel unbeachtet geblieben oder unterschätzt worden.

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Kurzum, den Kollegen seiner Zunft wirft Reidy »akklamatorisch[e] und harmlos[e]« (S. 38) Lektüren vor, bei denen tiefere Bedeutungsebenen und subtilere Wirkungsabsichten schlichtweg nicht wahrgenommen werden. Reidys eigene Analysen zielen einerseits auf den Nachweis bisheriger Interpretationsmängel, andererseits wirbt er – ebenso nachdrücklich wie ideenreich – für alternative Interpretationen und Lesarten, und zwar mit dem Ziel, »dass sich am Ende der Studie ein einigermaßen abgerundetes Bild dessen ergibt, was der ›Generationenroman‹ der Gegenwartsliteratur sein könnte und was er leistet« (S. 41).

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Probleme mit dem Paradigma der ›Rekonstruktion‹

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Im Kapitel zum ›rekonstruktiven Generationenroman‹ nimmt sich Reidy zuerst Reinhard Jirgls Roman Die Unvollendeten zur Analyse vor. Dieser Text habe bisher fast durchweg eine unzureichende oder gar falsche literaturhistorische Einordnung erfahren, da man ihn pauschal in das Narrativ der ›deutschen Opfer‹ eingeschrieben oder als ›Vertriebenenliteratur‹ deklariert und auf diese Weise in den Dienst eines erinnerungskulturellen Gedächtnisses gestellt habe. Reidy macht darauf aufmerksam, dass der Roman diese Anforderungen nicht erfüllen kann, denn zwar handle es sich bei den Unvollendeten um einen ›rekonstruktiven Generationenroman‹, jedoch habe der transgenerational traumatisierte Enkel Reiner kein gezieltes Interesse an der Familiengeschichte und den Leiden der Vorfahren – statt Identitätsangebote wahrzunehmen oder selbsttherapeutische Schritte zu erwägen, verharre er in Resignation und Isolation.

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Mit Jirgls Roman vom »›Verfall‹ einer Familie« (S. 62) vermag Reidy – sowohl am Text als auch anhand der Rezeptionsgeschichte – exemplarisch aufzuzeigen, dass allzu strenge Erwartungen an die – vermeintlich homogene – Gattung des Generationenromans zu Fehllektüren führen: Das Paradigma der Rekonstruktion wurde leichtfertig mit Erinnerungsfunktionen in Verbindung gebracht – daraus folge »eine gewisse Blindheit für abseitigere und subtilere Interpretationsansätze« (S. 50). Einen solchen legt Reidy nun vor, indem er Die Unvollendeten – aus durchaus überzeugenden Gründen – in ein intertextuelles Verhältnis zu Arno Schmidts 1953 erschienenen Kurzroman Die Umsiedler rückt. Jirgls Roman fasst er als Metatext des fünfzig Jahre älteren Prätextes auf und liest ihn somit als dessen Kommentar: Jirgl gibt Antwort auf die Fragen, die Schmidt einst gestellt hat – wenngleich sich darin die Interpretation der Unvollendeten freilich nicht erschöpft, wie Reidy sicherheitshalber anmerkt.

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In den anderen beiden Analysen zum ›rekonstruktiven Generationenroman‹ geraten nicht nur die Berufsrezipienten in die Kritik, sondern auch die Autoren – es geht um Monika Maron und Stephan Wackwitz. Zunächst spielt Reidy auf die verbreitete ›naive‹ Lesart an: Auch Marons autobiografische Erzählung Pawels Briefe entspricht »auf den ersten Blick […] exakt dem Paradigma des ›Generationenromans‹, das ich in dieser Studie als ›rekonstruktiv‹ bezeichne« (S. 89). Und weiter: »Dieses rekonstruktive Paradigma des aktuellen ›Generationenromans‹ mit seinem Fokus auf literarischer Selbsttherapie und Identitätsstiftung mittels postmemorial untermauerter Vergangenheitsbearbeitung scheint in Pawels Briefe in idealtypischer Form verwirklicht zu sein.« (S. 89 f.) Laut Reidy hat sich die Autorin jedoch eines Verstoßes gegen dieses Paradigma schuldig gemacht: Statt die Freiheiten des Imaginierens, die ihr durch das Verfahren der Postmemory gegeben sind, für Zwecke der Selbsttherapie und Identitätsbildung zu verwenden, strebe sie vielmehr die moralische Rettung ihrer – infolge ihrer Stasi-Vergangenheit in Misskredit geratenen – eigenen Person an. Für Reidy steht damit fest, dass die Rekonstruktion von Familiengeschichte erneut nicht die Funktion erfüllt, die man diesem Paradigma gemeinhin zuspricht. Statt die Lücken in einer fragmentierten Familiengeschichte imaginativ aufzufüllen, werde schlichtweg eine Vergangenheit erfunden, und zwar um eine problematische Gegenwart zu rechtfertigen: Mittels Vereinnahmung des moralisch integren Großvaters grenze sich die Erzählerin respektive Autorin von ihrer Mutter Hella ab, die metonymisch für die DDR stehe. Aufgrund dieser Funktionalisierung unterstellt Reidy der Autorin »denkwürdige«, ja sogar »hochproblematische[] Wirkungsabsichten« und merkt an, dass ihr »Umgang mit ›postmemory‹ alles andere als harmlos ist« (S. 107 f.).

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Auch bei Ein unsichtbares Land von Stephan Wackwitz handelt es sich um einen ›rekonstruktiven Generationenroman‹, jedoch meint Reidy zeigen zu können, »dass die Fallstricke und Schattenseiten des […] ›rekonstruktiven‹ Paradigmas in kaum einem anderen ›Generationenroman‹ so deutlich zutage treten wie in Wackwitz’ Beitrag zum Genre« (S. 109). Mit Wackwitz’ Erzählung werde nämlich »einmal mehr dem ›rekonstruktiven‹ Paradigma des ›Generationenromans‹ ein erkenntnisstiftendes Potenzial zugesprochen, das dieser kaum einlösen kann« (S. 130). Obwohl in Ein unsichtbares Land ein wohl kaum zu überbietender Rechercheaufwand betrieben und Material zusammengetragen wird, entstehe kein objektives Panorama der Großvatergeschichte – vielmehr »eignet dem Text durchweg ein höchst problematischer apologetischer Grundton« (S. 132). Die vom Erzähler respektive Autor gestiftete transgenerationale Kontinuität sei gleich in dreierlei Hinsicht bedenklich: Erstens werde die Geschichte der ›anderen‹ – nämlich der Opfer – ausgeblendet. Zweitens werde ein solidarisches Verhältnis zum Großvater hergestellt und dadurch eine Verharmlosung der NS-Verbrechen vorgenommen. Und drittens täusche die innerfamiliäre Kontinuität über die makrohistorischen Brüche des 20. Jahrhunderts hinweg. Reidys Fazit: »Ein unsichtbares Land leistet also das Gegenteil von wie auch immer gearteter Aufklärung« (S. 149).

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Reidys Vorbehalte gegen das ›rekonstruktive‹ Erzählen beruhen zu einem Großteil auf normativen Kriterien. So schreibt er sich etwa das Verdienst zu, exemplarisch »die potenziellen ethischen Defizite eines rein ›rekonstruktiv‹ und kontinuitätsbildend ausgerichteten ›Generationenromans‹«(S. 164) aufgezeigt zu haben. Hiermit überschreitet er jedoch den Kompetenzbereich der Literaturwissenschaft, da diese nicht über moralische Kategorien verfügt. Zwar steht außer Frage, dass Literatur außerliterarische Themen und Probleme aufgreifen und somit auf die Meinungsbildung ihrer Leser einwirken und zum Handeln anleiten kann, aber üblicherweise werden ihr dabei beinahe unbegrenzte Möglichkeiten eingeräumt. Wird ein literarischer Text dennoch für seinen Gegenstand oder die Art der Darstellung kritisiert, so werden hierfür in der Regel Maßstäbe herangezogen, die aus ganz anderen – politischen, moralischen, juristischen etc. – Diskursen stammen. Während in der Literaturkritik solche Anleihen üblich sind, erwartet man von der Literaturwissenschaft, dass sie sich von populären Vorurteilen distanziert. Reidys implizite Forderung, dass der (rekonstruktive) Generationenroman aufklären soll, mutet demnach eher feuilletonistisch an. Davon abgesehen ließe sich sein Fazit zu Ein unsichtbares Land auch wohlwollend akzentuieren, indem man es zu einer Variante seiner Leithypothese umformuliert: Weil die literarische und literaturkritische Öffentlichkeit von den Generationenromanen erwartet, sie mögen sich in den Dienst ›der Aufklärung‹ stellen, werden sie unterschiedslos so gelesen, als würden sie tatsächlich aufklärerische Funktionen erfüllen. Und in Bezug auf Monika Maron: Weil die Redlichkeit der Schriftsteller außer Frage steht, können sie diesen Vertrauensvorschuss bei Bedarf auch einmal missbrauchen, ohne dass es jemand merkt.

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Das ›postheroische‹ Paradigma

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Abgesehen von den genannten Problemen mit dem ›rekonstruktiven‹ Paradigma stellt Reidy fest, dass dieses Konzept bei einigen Generationenromanen überhaupt nicht mehr zur Anwendung gelangt. Für solche Fälle schlägt er die Kennzeichnung ›postheroischer Generationenroman‹ vor, womit er für ein zweites Paradigma des Generationenromans plädiert. Um einen klassischen Paradigmenwechsel handelt es sich indes nicht, denn laut Reidy treten auch Mischverhältnisse auf – insbesondere bei Arno Geigers Roman Es geht uns gut handle es sich um eine solche »Hybridform« (S. 166), weshalb dessen Analyse auch bewusst zwischen beiden Hauptkapiteln angesiedelt ist.

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In seiner Analyse von Dinge, die wir heute sagten ist Reidys Zuordnung hingegen eindeutig, da »ein ›rekonstruktiver‹ Zugriff auf die Vergangenheit bei Zander ein Ding der Unmöglichkeit ist« (S. 237): In der Beschränkung auf den ländlich-provinziellen Handlungsraum sind die Figuren »eingebunden in ein statisch-zyklisches Raum-Zeit-Gefüge« (S. 238), wodurch »vergangenheitsorientierte Sinnstiftung erschwert oder gar verunmöglicht« (S. 231) wird. Davon abgesehen sind »›Rekonstruktionen‹ […] streng genommen auch gar nicht nötig«, da »die wichtigsten Vertreter der drei genealogischen Schichten […] alle noch am Leben und im Text präsent« (S. 203) sind. Zudem erteilt die polyperspektivische Erzählweise »eine Absage an die aus anderen ›Generationenromanen‹ hinreichend bekannte ›rekonstruktive‹ Form der nachgeholten Sinnstiftung« (S. 224). Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – insbesondere mit der DDR-Geschichte – findet, so Reidy, lediglich auf einer intertextuellen Interpretationsebene statt, nämlich im Kontext von Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob und Christa Wolfs Erzählung Leibhaftig: »[W]ann immer in Dinge, die wir heute sagten über die DDR nachgedacht wird, speisen sich diese Reflexionen nicht aus ›Rekonstruktionen‹ irgendwelcher Art, sondern primär aus der Auseinandersetzung mit den beiden hier identifizierten Prätexten« (S. 230 f.) – eine »Sinn- und Erkenntnisstiftung« (S. 231) werde aber auch hiermit nicht erzielt.

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Während in den ›rekonstruktiven‹ Texten die Generationenbeziehungen beispielsweise zur Identitätsbildung anleiten und auf Selbsttherapie hinwirken, macht Reidy nachdrücklich darauf aufmerksam, dass die Generationalität in Dinge, die wir heute sagten eine ganz andere Funktion erfüllt: In Zanders ›postheroischem‹ Roman sieht sich die jüngste Generation – angesichts ihrer geografischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Marginalisierung – stets der Gefahr ausgesetzt, so zu werden wie ihre Eltern. Aufgrund dieser »kritischen Zeitdiagnostik« (S. 232) stellen die Jugendlichen den Sinn von Nachkommenschaft infrage, sodass sogar »die Geschlechterfolge abzureißen droht« (S. 232). Wenn überhaupt ein Blick über die Gegenwart hinaus gewagt wird, so ist dieser nicht in die Vergangenheit gerichtet: »Dinge, die wir heute sagten sucht, anders als die ›rekonstruktiven Generationenromane‹, nicht primär den Blick durch das ›Teleskop‹ auf historische Traumata und belastete Familiengeschichten, sondern schwenkt das Fernrohr um und wagt einen ›diagnostischen‹ Blick in die Zukunft.« Diese jedoch wird bei Zander fast »nur noch als karikaturesk verzerrte Wiederkunft des bereits Dagewesenen vorstellbar« (S. 239).

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Ein ›rekonstruktiver Generationenroman‹, der keiner ist – angeblich

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Während Reidy anhand von Zanders Roman überzeugend darlegt, was er mit ›Entheroisierung‹ meint, kann ausgerechnet das abschließende Kapitel der Monografie am wenigsten überzeugen. Gleich zu Beginn seiner Analyse von Peggy Mädlers Roman Legende vom Glück des Menschen räumt Reidy ein, dass es sich »[a]uf den ersten und vielleicht auch auf den zweiten Blick […] um einen mustergültigen ›rekonstruktiven Generationenroman‹«(S. 275) handelt. Dies jedoch sei zu widerlegen, da der Roman mit dem üblichen ›rekonstruktiven‹ Erzählverfahren breche und daher als ›postheroischer‹ Generationenroman verstanden werden müsse.

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Mädlers Roman verfolgt zwei Erzählstränge, zwischen denen kapitelweise gewechselt wird – er beginnt mit einer homodiegetischen Gegenwartserzählung, die dann sechsmal von einer heterodiegetischen Erzählung unterbrochen wird, die bei Kriegsbeginn einsetzt und bis in die Nachwendezeit reicht. Laut Reidy handelt es sich um einen »gespaltenen Text« (S. 284), da in der Gegenwartserzählung ein autobiografischer Pakt, in der Vergangenheitserzählung jedoch ein Romanpakt geschlossen werde: Die Ich-Erzählerin sei eindeutig mit der Autorin zu identifizieren. Die heterodiegetisch erzählte Familiengeschichte stehe jedoch – vorläufig – in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Ich-Erzählerin. Dass in beiden Erzählsträngen dieselbe Familie figuriere, müsse von den Lesern erst mühsam erschlossen werden, denn der Text liefere dazu keine expliziten Hinweise – erst in der zweiten Hälfte des Romans werde der Zusammenhang deutlich gemacht.

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Reidy ist dahingehend zuzustimmen, dass der Wechsel der Erzählsituation Irritationen auslöst. Aber mit seiner streng strukturalistischen und allein auf textuelle Kodierungen fokussierten Analyse gelangt Reidy zu massiven Fehleinschätzungen. Den Lesern des Romans scheint er allen Ernstes die Fähigkeit absprechen zu wollen, von einer eben beerdigten Großmutter den thematischen Anschluss an eine Erzählung zu finden, die – eine Seite später – mit dem »Beginn des Krieges« 5 einsetzt und von einer gewissen Elsa Schubert handelt. Dabei ist dies ein weithin bekanntes Erzählverfahren: Der Tod der Großeltern veranlasst die Enkel dazu, deren Lebensgeschichte zu erzählen. Dass diese in der dritten Person wiedergegeben wird, sollte bei einigermaßen flexiblen Lesern kein allzu großes Befremden hervorrufen.

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Von diesem grundsätzlichen methodischen Einwand einmal abgesehen, muss sich Reidy bereits in Bezug auf die Ausgangsthese seiner Argumentation den Vorwurf gefallen lassen, ein entscheidendes Detail übersehen zu haben: Die Großmutter von Seite 15 heißt auch dort – in der homodiegetischen Gegenwartserzählung – bereits Elsa: »Die Broschen nehme ich an mich. Eine davon ist in Form ihres Namens gebogen, Elsa, ein feiner silberfarbener Schriftzug.« 6 Die von Reidys eigenen erzähllogischen Maßstäben eingeforderte textuelle Markierung der Identität der Großmutter mit Elsa Schubert ist somit gegeben und die inhaltliche Verknüpfung beider Handlungsebenen explizit hergestellt.

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Doch von diesem Fauxpas kann wohlwollend abgesehen werden, denn Reidy geht es letztlich um etwas anderes: Der Binnenerzählung fehle sowohl die Rhetorik als auch die Praxis des Rekonstruierens. Stattdessen sei einem »freimütigen Fabulieren« (S. 279) Tür und Tor geöffnet, wie etwa durch die zahlreichen familiengeschichtlichen Fakten und persönlichen Details unterstrichen werde, die unmöglich überliefert worden sein können: Gedanken, Gerüche, Kleidung, Frisur der Bäckerin usw. Durch solche Fiktionssignale weise sich das Erzählte als bloße Konstruktion aus und sei somit nicht mit dem Paradigma der ›Rekonstruktion‹ vereinbar. Diese beiden Konzepte –›Konstruktion‹ und ›Rekonstruktion‹ – versteht Reidy offenbar als strikten Gegensatz (vgl. S. 286). Davon abgesehen, dass dies schon mit Blick auf die Wortbildung kontraintuitiv ist, kann man heute wohl kaum noch ernsthaft behaupten, eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit käme ohne Konstruktionen aus. Daher kann nur angenommen werden, dass Reidy hierbei die Markierungsdeutlichkeit von Konstruktion respektive Rekonstruktion im Blick hat. So verstanden wäre seine konzeptionelle Unterscheidung immerhin nachvollziehbar, denn freilich besteht ein Unterschied darin, ob eine Erzählung ihre Konstruktionstechniken – Selektion, Narration, Kohärenzbildung, Perspektivierung etc. – benennt und reflektiert oder grundlegend auf derartige Metaisierungen verzichtet.

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In der Tat bleiben die Quellen der Großelterngeschichte innerhalb der heterodiegetisch erzählten ›Legenden‹-Kapitel ungenannt – demnach wird dort nirgendwo explizit auf ein rekonstruktives Verfahren verwiesen. Dass aber grundsätzlich kein rekonstruierendes Subjekt ausfindig zu machen sei, kann Reidy nur behaupten, weil er zuvor die beiden Handlungsebenen erzähllogisch streng voneinander getrennt hat. Tatsächlich aber nimmt bereits im zweiten Gegenwartskapitel die Enkelerzählerin alle Verantwortung für das Erzählte auf sich und definiert den Geltungsradius ihres Verfahrens: Vom Großvater habe sie lediglich »wenige[] Erzählungen vom Krieg« und auch ihr »Vater […] wisse nicht viel mehr«, sie bedauert, »nicht nachgefragt [zu haben]« und stellt eine »Kluft zwischen Geschichtswissen und Familienwissen« fest. Daher muss sie kreativ vorgehen: »Inzwischen reime ich mir zusammen, was ich nicht erfragt habe, das, was nicht erzählt wird.« Sie ist sich aber auch darüber im Klaren, »dass die Leerstellen unbewusst mit fremden Material gefüllt werden, mit Gehörtem oder Gelesenem, sodass es gar nicht auffällt, dass es möglicherwiese entscheidende Lücken im Ablauf gibt«. Sie weiß auch, dass die »vielen […] Geschichten aus dem Familienalbum« durch das wiederholte Erzählen allmählich umgebildet werden – bis hin zu »Widersprüche[n]«. 7 Wir haben es also mit einer Erzählerin zu tun, die sich bestens mit den Schwierigkeiten des Erzählens und Erinnerns auskennt.

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Da sich Reidy überholten fiktionstheoretischen Prämissen verpflichtet, verstellt er sich selbst den Weg zu einer angemessenen Interpretation von Mädlers Roman. So wäre etwa zu fragen gewesen, welche Wirkungsabsicht eigentlich damit einhergeht, dass sich die Erzählerin aus der Binnenerzählung zurückzieht und somit ihre Gegenwartsperspektive aufgibt. Der Verzicht auf ein sinnzentrierendes Gegenwartssubjekt ermöglicht nämlich die Darstellung einer historischen Offenheit, die wiederum spezifischen Erkenntnisinteressen verpflichtet werden kann: Mädlers Erzählverfahren kann mithin als Versuch verstanden werden, von einer noch uneingelösten Zukunft der Großeltern zu erzählen, in der Erwartungen und Hoffnungen noch nicht von einem späteren ›besseren Wissen‹ relativiert worden sind. 8

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Spätestens mit dieser letzten Romananalyse wird deutlich, wie sehr es Reidys Monografie insgesamt an Stimmigkeit fehlt. Seine jeweils spezifische Akzentuierung des Erkenntnisinteresses und sein bemerkenswertes Methoden- und Theorierepertoire wirken zwar zunächst erfrischend, zugleich aber riskiert er damit Widersprüche bei der Gegenüberstellung einzelner Analysekapitel: Reidys Argumente gegen die ›Rekonstruktion‹ bei Mädler müssten umso mehr bei Jirgls Unvollendeten greifen, denn auch dort gibt es weder Rekonstruktionsrhetorik noch Quellenangaben. Dennoch werden die unscheinbarsten Details, Empfindungen, Sinneseindrücke etc. von einem auktorialen Erzähler aneinandergereiht – der vermeintlich rekonstruierende Enkelerzähler sagt erst auf Seite 157 das erste Mal »ich«. Würde Reidy Die Unvollendeten mit denselben Methoden bearbeiten wie die Legende vom Glück des Menschen, käme er zu grundlegend anderen Ergebnissen. Diese Divergenz ist wohl – so mutmaßt der Rezensent – darauf zurückzuführen, dass Reidy vier der sieben Analysen im Vorfeld bereits einzeln publiziert hat. Wenngleich er sie »hier in stark überarbeiteter und erweiterter Form« (S. 301) erneut vorlegt, gelingt es ihm nicht mehr, einen überzeugenden Zusammenhalt herzustellen.

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Fragwürdige Theorieexkurse

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Der Kritik ist damit noch nicht genug, denn obschon Reidy einen präzisen sprachlichen Ausdruck pflegt und insgesamt einen souveränen Eindruck in seinen Argumentationsgängen vermittelt, verunsichert er seine Leser allzu oft mit dubiosen Thesen und Kontexten. Wenngleich derartige Fehltritte zumeist nur im Kleinen auftauchen und daher verzeihlich sein sollten, seien im Folgenden zwei Beispiele gegeben: In Verbindung mit den vermeintlich antiaufklärerischen Harmonisierungstendenzen in Ein unsichtbares Land wirft Reidy dem Autor Wackwitz eine »Naturalisierung« der »Verwerfungen des 20. Jahrhunderts« vor und verweist in diesem Zusammenhang mit Nachdruck auf Jonathan Cullers Konzept der naturalization – »exakt einem solchen Naturalisierungsprozess unterzieht Wackwitz die Vergangenheit und die eigene Familiengeschichte« (S. 149) –, was er sogar mit einem Zitat aus Cullers Structuralist Poetics belegen zu können meint. Leider schlägt diese literaturtheoretische Querverbindung fehl, denn als naturalization bezeichnet Culler – ausdrücklich und durchgängig – eine intuitive kognitive Operation des Lesers: »naturalization […] is an inevitable function of reading« 9 . Da Reidy im Folgenden nicht mehr auf Culler zu sprechen kommt, hat dieser Lapsus jedoch keine weiteren Auswirkungen auf den Argumentationsgang.

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Als zweites Beispiel sei eine Stelle im Kapitel zu Clemens Setz’ Frequenzen kommentiert: Im Roman geht ein Spiegel zu Bruch, was Reidy – gewiss nicht zu Unrecht – als Inszenierung einer Subjektivitätsproblematik interpretiert. Die Begründung dieser Interpretation fällt indes eher abenteuerlich aus: »Denn vom kaputten Spiegel ist es nicht weit zu Jacques Lacans hinlänglich bekanntem Konzept des ›Spiegelstadiums‹ als ›Bildner der Ichfunktion‹ in der frühkindlichen Entwicklung – ein Konzept, von welchem auch der kulturwissenschaftlich geschulte Clemens Setz Kenntnis haben dürfte.« (S. 250 f.) Statt nun die Funktion dieses vermeintlichen Prätextes zu erörtern, bringt Reidy lediglich ein – in den Fußnotenapparat ausgelagertes – halbseitiges Zitat aus Lacans Aufsatz, das er dann kurz und knapp wie folgt kommentiert: »Der zerbrochene Spiegel in den Frequenzen zeigt demnach nicht nur die Unmöglichkeit der Identitätsbildung für den prekären Protagonisten Alexander auf. Verwiesen wird hier auch auf die arretierte Entwicklung dieses Charakters, denn Lacan beschreibt ja ein frühkindliches Entwicklungsstadium, das Alexander als beinahe Dreißigjähriger noch nicht überwunden zu haben scheint« (S. 251). Hätte sich Reidy in diesem Interpretationsansatz etwas engagierter gezeigt, wäre er wohl zu anderen und vor allem weniger fadenscheinigen Ergebnissen gelangt. So wäre etwa zu bedenken gewesen, dass im ›Spiegelstadium‹ nicht nur das Ich gebildet, sondern gleichzeitig die für Lacan so bedeutende ›Spaltung des Subjekts‹ vollzogen wird und der Mensch in einen Zustand grundlegender Entfremdung überwechselt – der Spiegel dient bei Lacan nicht der »Identitätsbildung«, wie Reidy behauptet, sondern vielmehr einer Art Alteritätsbildung.

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Wenngleich Reidy mit derartigen – ebenso sprunghaften wie knappen – Theorieexkursen oft genug auch richtig liegt, muss ihm angelastet werden, sich allzu häufig auf Nebenschauplätze zu begeben, die er nur unzureichend beherrscht. Dass seine Arbeit dadurch unnötigerweise an Substanz einbüßt, ist schlichtweg ärgerlich.

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Fazit

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Reidy unterzieht das ›rekonstruktive‹ Erzählverfahren einer grundlegenden Kritik, indem er zeigt, dass es häufig ganz andere Zwecke erfüllt, als man gemeinhin annimmt. Dass er hierbei neue Sichtweisen freilegt und den Generationenroman wieder zur streitbaren Angelegenheit macht, darf ihm als Verdienst angerechnet werden. Methodisch kann Reidy jedoch nicht überzeugen: Zum einen hat er keine einheitliche Methode, was die oben genannten Divergenzen zwischen den Einzelanalysen nach sich zieht. Zum anderen verliert er den Boden unter den Füßen, wenn er Autoren moralisch verwerfliche und antiaufklärerische Wirkungsabsichten vorwirft – derartige Aussagen können nur als Polemik aufgefasst werden, nicht aber als literaturwissenschaftliche Erkenntnis. Ungeachtet dieser offensichtlichen Schwächen werden sich Reidys Ausführungen zum ›postheroischen‹ Paradigma vermutlich als impulsgebend für die anhaltende Debatte um den Generationenroman erweisen.

 
 

Anmerkungen

Reidy bezieht sich auf Markus Neuschäfer: Vom doppelten Fortschreiben der Geschichte. Familiengeheimnisse im Generationenroman. In: Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung. Hg. v. Gerhard Lauer. Göttingen 2010. S. 164–203. Es handelt sich hierbei um einen programmatischen Aufsatz, der Neuschäfers inzwischen erschienene Dissertation in nuce abbildet.   zurück
Im Kapitel zu Arno Geigers Roman Es geht uns gut, den er als Mischform zwischen ›Rekonstruktion‹ und ›Entheroisierung‹ konzipiert, behauptet Reidy, die Literaturwissenschaft schenke der ›postheroischen‹ Erzählung deshalb keine Beachtung, weil sie ihr mit ihrem konventionellen Analyseinstrumentarium nicht beizukommen und sie daher schlichtweg nicht einzuordnen vermag: »Aufgrund der ›Eindimensionalität‹ der germanistischen Sichtweise auf den ›Generationenroman‹ der Gegenwartsliteratur liegen […] noch keine Untersuchungen zu Es geht uns gut vor, welche die Idiosynkrasien des Textes in befriedigender Weise zu erklären beziehungsweise das literaturwissenschaftliche Befremden ob dieser Eigenarten zu exorzieren vermögen.« (S. 171 f.)   zurück
Julian Reidy: Vergessen, was Eltern sind. Relektüre und literaturgeschichtliche Neusituierung der angeblichen Väterliteratur. Göttingen 2012.   zurück
Reidys Fazit im Wortlaut: »Das wichtigste Charakteristikum der ›Väterbücher‹ scheint das der Heterogenität zu sein: In jedem diskutierten Text begegnen genuin eigene Zugänge zu komplexen Problemstellungen, wobei die formal- und wirkungsästhetische Variabilität so groß ist, dass die Etablierung eines gemeinsamen Genres abstrus erscheinen muss […]. In der Tat ist die Heterogenität, die wir in unserer Auseinandersetzung mit der ›Väterliteratur‹ antreffen, so frappierend, dass man sich zunächst fragen muss, wie es je zur Etablierung der homogenisierenden Kategorie der ›Väterliteratur‹ kommen konnte.« (Ebd. S. 341 f.)   zurück
Peggy Mädler: Legende vom Glück des Menschen. Berlin 2011. S. 16.   zurück
Ebd. S. 14 f.   zurück
Alle Zitate ebd. S. 53–55.   zurück
Die Vorteile eines solchen Verfahrens werden sogar in der Geschichtswissenschaft diskutiert: »Um dieser anhaltenden Vernichtung vergangener Zukunftsperspektiven zu entgehen, ist es für die Geschichtswissenschaft notwendig, einen Blick für die Vergangenheit als Gegenwart zu gewinnen. […] Nötig ist eine Ausmessung der Offenheit vergangener Zukunftshorizonte, mithin die Einsicht, dass das, was dann geschah, nicht notwendig geschehen musste und deshalb auch nicht eindeutig vorhersehbar war, sondern bestenfalls nur eine von mehreren Möglichkeiten darstellte« (Lucian Hölscher: Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte. Göttingen 2003. S. 52.).   zurück
Jonathan Culler: Structuralist Poetics. Structuralism, Linguistics and the Study of Literature. London 1975. S. 159.   zurück