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Ein Sammelband zum Werk Jürgen Beckers kartografiert das »Delta der Zusammenhänge« 1

  • Anne-Rose Meyer-Eisenhut / Burkhard Meyer-Sickendiek (Hg.): Fluxus und / als Literatur. Zum Werk Jürgen Beckers. (neoAVANTGARDEN 4) München: edition text + kritik 2014. 288 S. Kartoniert. EUR (D) 29,00.
    ISBN: 978-3-8691-6325-3.
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Literatur und Kunst im Kontext der 1960er Jahre

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»Die Grenzen sind / alle falsch.« 2 Auf diese Zeilen, die sich am Ende des ersten Teils aus Jürgen Beckers Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft (1988) finden, macht Lutz Seiler in seiner Laudatio auf Jürgen Becker anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises 2014 aufmerksam. Losgelöst aus dem Kontext des Gedichts bringen sie auf den Punkt, was im Grunde alle einzelnen Beiträge des von Anne-Rose Meyer-Eisenhut und Burkhard Meyer-Sickendiek herausgegebenen Bandes Fluxus und/als Literatur. Zum Werk Jürgen Beckers reklamieren, nämlich Beckers nicht nur für seine frühen Texte programmatische Zurückweisung der Verbindlichkeit literarischer Gattungen wie der strikten Grenzziehungen zwischen den Künsten überhaupt.

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Der Band reflektiert facettenreich die künstlerisch-literarische Situation der 1960er Jahre. Spätestens 1960 – mit dem Erscheinen des Prosatextes Der Schatten des Körpers des Kutschers von Peter Weiss – kündigt sich eine tiefgreifende Wandlung der deutschsprachigen Prosaliteratur an. Die in dieser Zeit zu beobachtende Abwendung von klassischen Erzählformen hin zu einer experimentellen Prosa, die sich der Abbildung und genauen Fokussierung von Bewusstseinsvorgängen verschreibt, ist einerseits auf den Einfluss des französischen Nouveau Roman zurückzuführen. Von großem Einfluss waren darüber hinaus jedoch die Arbeiten der österreichischen Avantgarde, der Wiener Gruppe um H.C. Artmann, Ernst Jandl, Konrad Bayer und Oswald Wiener sowie insbesondere die literarischen und theoretischen Texte Helmut Heißenbüttels, die die Autoren der von den Herausgebern des Bandes so bezeichneten ›Neoavantgarde‹ wie etwa Jürgen Becker, Peter Handke, Ror Wolf oder Friederike Mayröcker dazu veranlassten, neue Schreibverfahren zu erproben. Die starken Impulse aufzuzeigen, die von Fluxus- und Aktionskunst auf solche experimentellen literarischen Formen ausgingen, ist ein zentrales Anliegen des Bandes. Doch nicht nur der Austausch zwischen Fluxus und Literatur wird eingehend und sachkundig thematisiert, auch der Einfluss der Neuen Musik eines Karlheinz Stockhausen findet verschiedentlich Erwähnung, dessen »am Kompositionsprinzip der Momentform orientiertes Frühwerk ähnlich wie Beckers frühe Prosa ein Mosaik aus Momenten zusammensetzt.« 3 – Jenes »Delta der Zusammenhänge« zu kartografieren, in dem die frühen experimentellen und im Kontext von Fluxus, Happening und Nouveau Réalisme entstandenen Arbeiten Beckers mit seinen späteren Gedichten und seinen noch späteren Erzähltexten, Journalgeschichten und Erinnerungsromanen zusammenlaufen, ist das Anliegen des Bandes, mit dem die Herausgeber die Hoffnung »auf eine längst fällige Neuentdeckung« (XIII) des Werks von Jürgen Becker verbinden, für die mit diesem Band sicherlich ein Grundstein gelegt ist.

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Die Anordnung der einzelnen Beiträge des Bandes folgt nicht chronologisch der Schreib-Entwicklung des Autors, sondern konstituiert eine Ordnung eigener Art. Die einzelnen Studien organisieren sich zu einem eigenen Koordinatensystem, schaffen eine Struktur sich akkumulierender wechselseitiger Bezüge, in der sich disparate Elemente und Kontexte schließlich zu einem komplexen Gesamtbild zusammenfügen. Wenn den vier Sektionen des Bandes, die das Werk Jürgen Beckers aus theoretischer Perspektive beleuchten, eine fünfte hinzugefügt wird (»Über und an Jürgen Becker«), in der dessen literarische Bedeutung als Quelle spezifisch literarischer Erkenntnis und Inspiration in Selbstaussagen zweier Schriftstellerkollegen Beckers, Marcel Beyers und Norbert Hummelts, gespiegelt wird, so trägt auch dies prinzipiell der engen Verschränkung von Literatur, Kunst und Kunsttheorie Rechnung, die für die Neoavantgarde der 1960er Jahre ausschlaggebend war.

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Beyer und Hummelt reflektieren in ihren kurzen Beiträgen darauf, wie stark das Werk Beckers den Bezugspunkt des eigenen Schreibens und – wie Lutz Seiler in seiner bereits angesprochenen Laudatio auf Becker zum Ausdruck bringt – des eigenen Geschichtsverständnisses darstellt. Die Faszination, die von Beckers Arbeiten auf jene jüngere Generation von Autoren ausgeht, der auch Seiler selbst angehört, sei nicht zuletzt darin begründet, dass Beckers Texte nicht »abgedichtet [sind] für oder gegen eine wie auch immer geartete Nachwelt« 4 ; vielmehr sprechen sie von einer Gegenwart des Erinnerns.

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Die erste Sektion des Bandes thematisiert das Verhältnis von Fluxus und experimenteller Prosa und geht der Bedeutung der Décollage als Verfahren in Kunst und Literatur nach. Insbesondere der Beitrag Christoph Zellers ist hier hervorzuheben, der die programmatischen Zielsetzungen von Fluxus-Kunst und Happening-Bewegung sowohl im Kontext damaliger zeitgenössischer Kunstformen wie des französischen Nouveau Réalisme als auch im Vergleich zur Avantgarde der 1920er Jahre beleuchtet. Ausführlich widmet sich Zeller dem Verfahren der Décollage, deren »bewusstseinsverändernde Wirkung«, anders als die der Collage, in der »Erschütterung von Wahrnehmungskonventionen« bestehe (S. 19). Zeller betont den destruktiven Charakter dieses Verfahrens; Vostells Décollagen versuchten, die Unbeständigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse (welche wiederum die Möglichkeit revolutionärer Veränderung birgt) einzuholen, sie zeigten den Prozess der »Abbildung als Aneignung« sowie der »Aneignung als Entfremdung« (S. 19). Eine Verwandtschaft zwischen der experimentellen Literatur dieser Zeit und Vostells Typografien und Bild-Text-Décollagen sieht Zeller zunächst einmal in der »Befreiung von sprachlichen Konventionen« (S. 29). Auf dieser Basis erarbeiten die Vertreter der Konkreten und Visuellen Poesie (unter ihnen Helmut Heißenbüttel, Franz Mon oder – leider in keinem der hier versammelten Beiträge berücksichtigt: Jochen Gerz) in dieser Zeit eine »Poesie der Fläche«, wie Franz Mon einen seiner poetologischen Essays betitelte. 5

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An diesen Punkt knüpft Johanna Bohley in ihren – auch mit Blick auf den gesamten Band – grundlegenden Ausführungen »Zu Jürgen Beckers Phasen und Felder« an. Das Strukturprinzip der ›Phasen‹ – so auch der Titel des ersten von Becker und Vostell 1960 gemeinsam gestalteten Bandes, der Texte von Jürgen Becker und Lithografien von Wolf Vostell versammelt 6 – wie auch jenes der ›Felder‹, so stellt Bohley heraus, zielten auf die simultane Repräsentation der Sinneseindrücke, Wahrnehmungen und Bewusstseinsvorgänge (vgl. S. 35). Mithin, so Bohley unter Verweis auf Heißenbüttel, folgten beide einem präsentischen Zeitmodell; während die ›Phase‹ aber durch zeitliche Abfolge definiert sei, erprobten die Felder (1964) ein »zeiträumliches experimentelles Erzählen« (S. 35). 7

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Unter Bezug auf Max Benses Vorwort zu dem Band Phasen erläutert sie das für Beckers Texte dieser Zeit bestimmende Konzept der lyrischen ›Phase‹. Der visuell (etwa durch Leerstellen) markierte »Phasenunterschied« zwischen den einzelnen sprachlichen Elementen verkehre den ursprünglich linearen Charakter des Textes in einen flächigen. Wenn Bense schreibt, die ästhetisch intendierte Zerstörung der »formulierte[n] Korrelationen« 8 von Welt und Text ereigne sich nunmehr auf »jeder Plakatwand«, dann ist damit auf die Plakatabrisse im Rahmen von Kunstaktionen der Affichisten im Umkreis des Nouveau Réalisme angespielt, die Klaus Gereon Beuckers in seinem Beitrag zu diesem Band erörtert (vgl. S. 10–13). Zugleich aber, so führt Bohley aus, verweist das Konzept der lyrischen Phase auf die Kompositionstheorie der Neuen Musik, in der es um die Komposition von Zeitmaßen gehe (vgl. S. 41). Durch den Band Felder erfahre die Phasenästhetik dann eine Erweiterung um »komplexe, sich der Erzählung annähernde Mittel« (S. 43). Dennoch bleiben Beckers mikroskopische Reflexionen auf die eigene Wahrnehmung des alltäglichen Geschehens als »Selbsterkundungen« (S. 45) eine Verweigerung gegenüber dem Fiktionalen, sie stellen »ein Ich als jedermann verfügbares Medium« (S. 45) dar.

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Sowohl Beckers Versuche, in experimentellen Prosaformen ein »authentisierendes Erinnerungs- und Bewusstseinskonzept« (S. 36) zu realisieren, als auch das Überschreiten der Gattungsgrenzen zwischen Lyrik und Prosa – letztlich bis heute eines der Markenzeichen von Beckers Texten – begreift Bohley als Aufnahme und Weiterverarbeitung von Heißenbüttels literarischen Experimenten, die Autorschaft und Werkbegriff weitgehend auflösten und so gewissermaßen einen »Spielraum« für die Konfrontation des Lesers mit sich selbst schüfen (vgl. S. 36 f.). Bedeutsam für den Gesamtkontext des Bandes wie auch das Werk Jürgen Beckers ist Bohleys Hinweis, die neue künstlerisch-literarische Avantgarde der 1960er Jahre sei als Reaktion auf die Traumata und die Wiederkehr des Verdrängten individueller und kollektiver Erfahrungen der NS-Zeit zu verstehen und in diesem Sinne gerade nicht als Versuch der Wiederbelebung der Avantgarde der 1920er Jahre.

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Wie Sprache als Sprachmaterial literarisch bearbeitet und bis an die Grenzen ihrer Auflösung geführt wird, zeigt Mario Grizelj, der in seinem Beitrag gerade die leeren Seiten fokussiert, die die Mittelachse von Beckers Prosaband Ränder bilden und auf die die Textabschnitte von beiden Seiten des Buches aus symmetrisch zulaufen bzw. sich wieder von ihnen entfernen. Grizelj kommt in seiner Analyse zu dem Schluss, die weißen Seiten stellten die Logik der Repräsentation in Frage, indem sie lediglich das ›Material‹, die Fläche, ausstellten und repräsentierten. Zugleich macht er aber deutlich, dass die Sprache nicht »das schlechte Instrument einer Bewusstseinsnormierung [ist], sondern das Medium, in dem sich das Bewusstsein als Bewusstsein erfährt« (S. 61); die leeren Seiten der Ränder und die auf diese zulaufende Konstruktion und Dekonstruktion der Sprache lassen die Sprache überhaupt erst als das Medium der Bewusstwerdung erfahrbar werden (vgl. S. 61).

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Beckers Werk im Spannungsverhältnis von ›Alltagslyrik‹ und poetologischer Reflexion

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Die zweite Sektion widmet sich neben Beckers lyrischem Werk aus den 1970er Jahren im Kontext von ›Neuer Subjektivität‹ und ›Alltagslyrik‹ auch der von Becker konsequent erprobten Journalform als gattungsübergreifendem poetologischem Prinzip. Mit der hybriden Form des literarischen tagebuchartigen Schreibens befasst sich der Beitrag von Sven Hanuschek, der in seinen Betrachtungen einen weiten Bogen von Beckers frühem Gedicht Fragment aus Rom (1971) bis hin zu dem bislang letzten Buch der Reihe von Journaltexten, den 2009 erschienenen »Journalsätzen« Im Radio das Meer spannt. Dabei mag es wesentlich der Journalform des fragmentierten Textes geschuldet sein, dass Becker gerade in den drei Heften von Im Radio das Meer auf das »Modell von Gleichzeitigkeit«, damit aber zugleich auf seine frühen experimentellen Texte reflektiert.

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Die enge Verbindung zwischen Beckers frühen Gedichten und der Fluxus-Bewegung wird in dem Beitrag von Anne-Rose Meyer-Eisenhut »Zwischen Mimesis und Metapoetik: Zu Jürgen Beckers Gedichtband Schnee« diskutiert. Obgleich sich Becker bereits Mitte der 1960er Jahre deutlich von Fluxus und Happening distanzierte, finden sich in den Gedichten wiederholt Anklänge an diese Kunstformen, etwa was die spezifisch lyrische Auseinandersetzung mit intermedialen Verfahren der Kunst oder allgemeinere medienreflexive Inhalte betrifft. Konkret verdeutlicht sie Beckers Auseinandersetzung mit Fluxus anhand eines von George Brecht erprobten künstlerischen Verfahrens der Transposition, der Ende der 1960er Jahre entstandenen »Land Mass Translocations«. Es handelt sich dabei um künstlerisch, also mit Pfeilen und anderen optischen Markierungen bearbeitete Landkarten, auf denen die räumliche Ordnung infrage gestellt wird. Ähnlich, nur im Medium der Sprache, verfahre Becker in seinem Schnee-Gedicht, 1969: »Das lyrische ›Ich‹«, so die Deutung der Verfasserin, »ist nicht in seiner Subjektivität […] präsent, sondern fungiert als Medium, das Entfernungen aufzuheben vermag, Getrenntes verbindet« (S. 82).

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Burkhard Meyer-Sickendiek geht mit seinem Beitrag »Von der freien zur notwendigen Rhythmik des Gedichts: Walter Höllerers Poetik und die Alltagslyrik von Becker, Brinkmann und Kiwus« zugleich literarhistorischen wie poetologischen Fragen nach. Höllerers gegen die Tradition einer hermetischen Lyrik gerichtete Theorie der modernen Lyrik wird von ihm als Aufnahme und Weiterentwicklung von Charles Olsons Theorie des projektiven Verses rekonstruiert. Wesentliche Merkmale von Höllerers Konzeption, deren Einfluss Beckers lyrisches Werk, insbesondere der 1974 erschienene Gedichtband Das Ende der Landschaftsmalerei, nicht verhehlt, seien erstens der Aspekt der Offenheit im Sinne der Loslösung von vorgegebenen metrischen Strukturen. Zweitens sei es um die Ersetzung von Metrik durch eine Rhythmik zu tun, »die nicht an Versfüßen, sondern an Akustik und Aspiration orientiert ist, also am Hören auf die Silbe und am Atmen innerhalb der Zeile« (S. 94). Drittens, und darin kündigt sich Höllerers Aufnahme der Theorie des ›projektiven Verses‹ an, intendiere die moderne Lyrik im Sinne Höllerers eine »Rhythmisierung der Wahrnehmung«, durch welche die lyrische Formgebung auf die Wiedergabe einer unmittelbaren Abfolge einzelner Erkenntnisschritte verpflichtet werde.

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Abschließend analysiert Meyer-Sickendiek die beiden Gedichte Entfremdende Arbeit (1976) von Karin Kiwus und Beckers Lift aus seinem 1977 erschienenem Band Erzähl mir nichts vom Krieg. Zweifellos finden seine Thesen Deckung in den von ihm ausgewählten Texten, allerdings erhält die Arbeit an der formalen Textgestalt, die zeigen soll, wie die rhythmisierte Wahrnehmung der sozialen oder häuslichen Umgebung zum lyrischen Konstruktionsprinzip wird, im Vergleich zu den vorangegangenen theoretischen Überlegungen entschieden weniger Gewicht.

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Weiter schreibt Meyer-Sickendiek, entscheidend an dem Gedicht Lift »ist jedoch keineswegs der soziale Realismus« (S. 106); dieser werde vielmehr in »sinnlich-akustische[] Impressionen und assoziative[] Gedanken« aufgelöst, was sich allerdings so nicht am Text belegen lässt und überdies dann auch noch einmal die Frage nach der Bedeutung von ›Alltagslyrik‹ auf den Plan ruft. Vielmehr, so ist hier kritisch einzuwenden, stellt dieses Gedicht den Versuch einer ›Abbildung‹ individueller Zeit- und Raumerfahrung innerhalb der sozialen Wirklichkeit eines großstädtischen Hochhauskomplexes dar, ohne die der von Meyer-Sickendiek angesprochene Rhythmus der Wahrnehmung, der sich als Konstituens moderner Lyrik ausweisen soll, gar nicht denkbar wäre.

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Worauf sollte ›Wahrnehmung‹ bezogen sein, wenn nicht, subjektiv vermittelt oder gar gebrochen, auf die soziale Wirklichkeit, die wiederum – und ganz wesentlich für Jürgen Becker – zum Anlass und Gegenstand literarischer Selbsterkundung wird? Eine bloß formale Analyse literarischer Texte, die den ›materialen‹ Gehalt der Texte, also die Frage, in welcher Weise individuelle Erfahrungen der sozialen Realität repräsentiert werden und in welchem Verhältnis diese Formen der Repräsentation und die diese Formen bedingende soziale Wirklichkeit zueinander stehen, gänzlich ausblendet, läuft generell Gefahr, ins Belanglose abzugleiten.

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Beckers Werk im Kontext der Literatur der 1960er Jahre

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Die dritte Sektion des Bandes thematisiert die theoretisch-poetologische Selbstreflexion Beckers im Kontext der neuen Avantgarde der 1960er Jahre (Hans-Edwin Friedrich) und fokussiert in den beiden weiteren Beiträgen dieser Sektion Kontakte oder auch Grenzverläufe zwischen dem Werk Beckers und dem von Konrad Bayer (Roland Innerhofer) sowie zu Texten von Gisela Elsner und Peter Handke (Evelyne Polt-Heinzl). Alle drei Beiträge schließen in unterschiedlicher Hinsicht an die Erörterungen im Zusammenhang der literarischen Adaption künstlerischer Verfahren in den 1960er Jahren an, die sich in den Aufsätzen der ersten Sektion finden.

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So zeigt Friedrich auf, dass zentrale Begriffe und Theorieelemente, die Becker u.a. in Auseinandersetzung mit literarischen Texten von Kurt Schwitters, Arno Holz oder Konrad Bayer diskutiert, auf Heißenbüttels Poetik zurückzuführen seien (vgl. S. 135). Wenn Becker bis etwa 1968 als »Protagonist der Avantgarde« (S. 131) anzusehen ist, wie Friedrich konstatiert, so gelten für ihn damit als zentrale Aufgaben »die gattungstranszendierende Schreibweise, die Konzentration auf Sprache, auf literarisches Sprechen, die tentative Suche nach Neuem, der Versuch, das Jenseits der Sprache auszudrücken.« (S. 135) So fügt sich letztlich auch die im Kontext avantgardistischer Kunstkonzepte zentrale Kategorie der Authentizität in Beckers zunehmend autoreflexive Auseinandersetzung mit Kunst und Literatur dieser Zeit ein. Für eine angemessene Rekonstruktion von Beckers eigenständigen kunsttheoretischen Reflexionen erweise sich dessen umfangreiches Werk aus Rezensionen, Radiosendungen, Essays und Reden als eine wahre Fundgrube, wobei eine zusammenfassende Edition allerdings noch ausstehe (vgl. S. 130).

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Auf die avancierten und für das literarische Schreiben adaptierten künstlerischen Verfahren wie Montage oder Décollage kommt auch Innerhofer in seinem Beitrag »Grammatische Grenzgänge: Jürgen Becker und Konrad Bayer« zu sprechen. Wie Konrad Bayer es mit Der Kopf des Vitus Bering erprobe, so bediene sich auch Becker im Prosaband Felder des Prinzips der Montage fragmentarischer Wahrnehmungsprotokolle, durch die das kontinuierliche Erzählen zerstört werde (vgl. S. 164). Beide Autoren problematisierten das wahrnehmende und schreibende ›Ich‹ und damit einhergehend Konzepte von Autorschaft und Identität; beide machten in der ›Dekomposition‹ des Sprachmaterials und der weitgehenden Auflösung kohärenter syntaktischer und semantischer Strukturen durch Verfahren der Dissoziation und des Kontrastes vielmehr das ›Auseinanderfallen der Phänomene‹ sichtbar (vgl. S. 165).

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Evelyne Polt-Heinzl trägt in ihrem Beitrag »›Möglichkeiten für Bilder‹ oder Wie vom Leben erzählen in dürftiger Zeit« eine ganze Reihe überzeugender Einsichten in einzelnen kleineren Werkanalysen zusammen, auch wenn sich der thematische Zusammenhang erst am Schluss ihrer Ausführungen erschließt. Was die drei von ihr untersuchten literarischen Arbeiten – Elsners Die Riesenzwerge (1964), Beckers Ränder (1968) und Handkes Die Hornissen (1966) – gemeinsam haben, sei, dass sie in vergleichbarer Weise kollektiv Verdrängtes in verfremdender und sprachkritischer Manier aufdecken (vgl. S. 183 f.). Die Texte, so führt Polt-Heinzl aus, markierten charakterliche Deformationen der Menschen, überkommene Macht- und Gewaltverhältnisse innerhalb der bürgerlichen Familie als Keimzelle der Gesellschaft sowie deren soziale Defizite. Mit Hilfe unterschiedlicher Strategien thematisieren sie die Traumata als Folge von NS-Regime, Krieg und Holocaust, die eine erinnernde Aufarbeitung erschweren. Allerdings, so ist hier kritisch anzumerken, werden die drei von ihr diskutierten Texte im Wesentlichen über eine (vermeintliche) gemeinsame Generationen-Erfahrung ihrer Autoren sowie über das Faktum einer aus Sicht der Verfasserin fehlgeleiteten Rezeption der Texte zum Zeitpunkt ihrer Erstveröffentlichung miteinander in Beziehung gesetzt. So könnte dieser Beitrag auch als Anregung verstanden werden, diese Texte noch einmal anhand kompositioneller, formaler und sprachlicher Verfahren miteinander zu vergleichen.

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Von neuen Anfängen des Schreibens und der immer gleichen Frage

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Die vierte Sektion schließlich nimmt in drei sehr unterschiedlichen Beiträgen und Analysekontexten das erzählerische Spätwerk Beckers in den Blick. So bezieht sich Erk Grimm in seinem Essay »Tempi passati: Zeitbilder und Bildzeiten im Werk Jürgen Beckers« auf eine Vielzahl von Texten Beckers. Anhand der Untersuchung verschiedenartiger Bilder (Fotografien, Bilder der gegenständlichen und abstrakten Malerei), die in Beckers Texten betrachtet, beschrieben oder auf andere Weise evoziert werden, eröffnet der Beitrag zahlreiche Kontexte, deren sachsystematischer Zusammenhang zu den Texten allerdings nicht immer ohne Schwierigkeit nachzuvollziehen ist.

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Andreas Wirthensohn widmet sich in seinen Untersuchungen Beckers 1983 erschienenem Prosaband Die Türe zum Meer, den er insofern als einen Wendepunkt im Gesamtkontext seines literarischen Werkes begreift, als er »programmatisch neue Möglichkeiten des Weiterschreibens demonstriert« (S. 188). In den Worten Rolf Dieter Brinkmanns könnte man in Bezug auf dieses Werk Beckers auch von der »Einübung einer neuen Sensibilität« 9 sprechen, die allerdings – gerade im Kontext des vorliegenden Bandes – weniger als ein Wendepunkt denn als Suchen nach einer Antwort auf letztlich immer diese eine Frage erscheint: wie sich Bewusstseinsvorgänge adäquat versprachlichen lassen. Denn auch das Erproben surrealistischer Textstrategien in dem Band Die Türe zum Meer zielt, wie Wirthensohn darlegt, auf eine »vollständigere, ›authentischere‹ Realitätserfahrung« (S. 196), die den vor- bzw. transrationalen Bereich der Wahrnehmung miteinschließt. Allerdings, und das zeigen auch die ausgewählten Textstellen, artikuliert sich doch mit Die Türe zum Meer nunmehr deutlich ein »Anspruch auf literarische Zusammenhangstiftung und dargestellte Bewusstseinstotalität«, nur verlagere sich dieser Anspruch »endgültig vom Festhalten der gegenwärtigen Wahrnehmungsmomente« (S. 195), wie es für das frühe wahrnehmungs- und sprachexperimentelle Werk Beckers noch in stärkerem Maße gilt, auf die Bereiche der Erinnerung und der Imagination.

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Eugenio Spedicato befasst sich in seinem Beitrag mit Beckers Erinnerungs- und Familienroman Aus der Geschichte der Trennungen, der 1999 erschienen ist – zu einer Zeit also, in der die fiktionale wie nicht-fiktionale Erinnerungsliteratur Hochkonjunktur hatte. Auch Beckers Roman thematisiert die deutsch-deutsche Geschichte; berichtet wird, gebrochen autobiografisch, von Reisen, die den Protagonisten u.a. nach Thüringen, an die Orte seiner Kindheit führen. Der Roman zeichnet ein differenziertes Bild der historischen Ereignisse; gerade jene Passagen, welche die Öffnung der Grenzen zwischen DDR und BRD im November 1989 und das Ende der DDR thematisieren, bilden die das politische Tagesgeschehen begleitenden und formierenden Diskurse ab, in denen es zu kontroversen Beurteilungen der politischen Entwicklung kommt. Beckers Roman Aus der Geschichte der Trennungen stellt damit auch ein Archiv von Diskursmaterial dar.

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Spedicato wirft in seinen Ausführungen jedoch durchaus literaturwissenschaftlich relevante Fragen auf, so etwa die nach dem Begriff des Fiktionalen. Mit Bezug auf Beckers Roman bemerkt er, das fiktionale Gefüge des Textes konstituiere eine »zweite Realität als Version der gegebenen Wirklichkeit« (S. 209). Mit dieser »Abgrenzungsleistung«, die den Raum des ›Realen‹ oder der erfahrenen Wirklichkeit gewissermaßen fiktional erweitert, geht eine Brechung des autobiografischen Erzählens einher, die dadurch möglich wird, dass die Erzählerfigur nicht der Autor selbst ist, wie es der ›autobiografische Pakt‹ (Lejeune) erfordern würde, sondern dessen »Wunsch-Ich[]«, welches die »optative Realität[] eines im Hintergrund wirkenden Regisseurs« (S. 209) darstellt. Fiktion – so scheint der Verfasser hier nahezulegen – entsteht durch die Übernahme einer Erzählstimme, einer leicht verschobenen Optik, die vordergründig nicht die eigene ist, selbst wenn das, worauf sich der schreibende Blick richtet, die eigene Vergangenheit und die Landschaften der eigenen Kindheit sind. Anstatt vom Nicht-Geschehenen oder bloß Möglichen zu künden, impliziert das Fiktionsgefüge eines Textes vielmehr »ein Hervortreiben des Intelligiblen aus dem Wahrnehmbaren, des Universellen aus dem Vereinzelten, des Notwendigen aus dem Zufälligen.« (S. 209) Diese Bemerkung ist wiederum von Bedeutung, wenn man – wie Spedicato es tut – nach den Legitimationsstrategien fragt, die es dem Erinnern gestatten, ins kollektive Gedächtnis transferiert zu werden, individuelle Erfahrung als Ausdruck von Zeitzeugenschaft im Medium der Literatur zu beglaubigen und zu verallgemeinern. Außerdem liefert die Behauptung Spedicatos, die von Becker erprobten literarischen Fiktionalisierungsstrategien seien die Bedingung der Möglichkeit von (Selbst-)Erkenntnis, eine Erklärung dafür, wie mit Aus der Geschichte der Trennungen ein »organisches Werk« entstehen konnte, »in dem kaum etwas von der Brüchigkeit und Unverlässlichkeit fernster Erinnerungen übrig geblieben ist.« (S. 211)

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Fazit

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Gerade die eingangs dargestellte Konzeption dieses Bandes und die zahlreichen erhellenden Einzelanalysen und Kontextualisierungen des Beckerschen Werkes bestätigen die von den Herausgebern formulierte Einsicht hinsichtlich der gebotenen Intensivierung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Werk. So bietet der Band zwar wichtige Erkenntnisse hinsichtlich der Prosabände Felder und Ränder, keiner der Beiträge jedoch – um nur ein augenfälliges Desiderat der Forschung zu markieren – beschäftigt sich mit dem Prosaband Umgebungen, der die frühe ›Trilogie‹ abschließt.

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Wenn man darüber hinaus die Frage aufgreift, welchen Werken innerhalb des Gesamtwerks Beckers eine ›Scharnierfunktion‹ zukommt (Wirthensohn), dann ist hier noch einmal an Beckers 1971 publizierten Band Eine Zeit ohne Wörter zu erinnern, der als dichtes Bild-Text-Gefüge die Schnittstelle zum lyrischen Werk Beckers darstellt und leider (wieder einmal) viel zu kurz kommt. Kurz: Dieser Band bündelt bisherige Erkenntnisse zum Werk Beckers, wie er erfreulicher Weise auch wichtige Aufgabenfelder für eine künftige editorische und wissenschaftliche Erschließung desselben markiert.

 
 

Anmerkungen

Jürgen Becker: Die folgenden Seiten. Journalgeschichten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, o.S., Abschnitt 100   zurück
Jürgen Becker: Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft. In: Ders.: Die Gedichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 515.   zurück
Anne-Rose Meyer-Eisenhut/Burkhard Meyer-Sickendiek (Hg.): Fluxus und/als Literatur. Zum Werk Jürgen Beckers. München: edition text + kritik 2014, S. IX. (Seitenangaben, die sich auf Textstellen in diesem Band beziehen, sind künftig in Klammern direkt in den Haupttext eingefügt.)   zurück
Lutz Seiler: Laudatio auf Jürgen Becker (25.10.2014). http://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/juergen-becker/laudatio; eingesehen am 27.02.2014.   zurück
Franz Mon: Zur Poesie der Fläche (1966). In: ders.: Gesammelte Texte 1. Essays. Berlin: Gerhard Wolf Janus press 1994, S. 77–80.   zurück
Über den frühen Band Phasen gibt der Beitrag von Klaus Gereon Beuckers Auskunft.   zurück
Jürgen Becker: Felder. In: ders.: Felder/Ränder/Umgebungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. (Die Texte sind 1964, 1968 und 1970 erschienen.)   zurück
Max Bense: Phasentheorie. In: Jürgen Becker/Wolf Vostell: Phasen. Galerie Der Spiegel. Köln 1960, o.S.   zurück
So der Titel eines seiner Essays, in: Maleen Brinkmann (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Literaturmagazin Sonderheft Nr. 36. Reinbek: Rowohlt 1995, S. 147–155.   zurück