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»Zusammenhang soll sein!«

Zum Versuch, die Theorie der Literaturgeschichte zu beleben

  • Matthias Buschmeier / Walter Erhart / Kai Kauffmann (Hg.): Literaturgeschichte. Theorien - Modelle - Praktiken. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 138) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2014. 384 S. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-028729-5.
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Als im November 2010 in Bielefeld ein Podiumsgespräch zwischen Achim Geisenhanslüke, Ernst Osterkamp und Joseph Vogl über die Möglichkeit und Probleme einer Literaturgeschichtsschreibung stattfand, 1 wurde bald deutlich, dass die dekonstruktivistische Position einer grundsätzlichen Unmöglichkeit der Literaturgeschichte im Wettstreit mit der philologischen und der kulturwissenschaftlichen Position nicht mehr das Rennen machte. Nach der ›Rückkehr des Autors‹ und dem ›neuem Erzählen‹ war es nur eine Frage der Zeit, wann die ›Rückkehr des Werkes‹ und schließlich auch die ›Rückkehr der Literaturgeschichte‹ wieder in den Bereich der legitimen wissenschaftlichen Diskurse rückten. Tatsächlich war die Literaturgeschichte aber nie verschwunden, im Gegenteil: Die im Zuge der Bologna-Reformen eingeführten BA- und Masterstudiengänge erzeugten einen regelrechten Markt von Angebot und Nachfrage für Einführungs- und Überblickswerke zur Literaturgeschichte. Ihnen fehlt es aber an einer elaborierten Theorie-Reflexion.

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Der Hauptherausgeber des Bandes, Matthias Buschmeier, versuchte bereits in seinem der Podiumsdiskussion zugrunde gelegten Thesenpapier die Möglichkeiten einer »Literaturgeschichte nach dem Ende der Theorie« neu auszuloten. 2 Zentrale Gedanken greift das Vorwort auf: Nach dem letzten ›Narrativ‹ oder nach dem gescheiterten »Versprechen der Sozialgeschichte (der Literatur)«, 3 ästhetische und gesellschaftliche Entwicklungen zu vermitteln, folgte der ›linguistic turn‹, der die Aufmerksamkeit auf die »rhetorisch-literarischen« Aspekte richtete (S. 5). Diskursanalyse, Kulturwissenschaften, Cultural Studies und New Historicism hätten die diachron-geschichtlichen Narrative zugunsten der synchronen Diskurse und Texturen einer Kultur vernachlässigt. Die heutigen, Übersichtswissen vermittelnden Literaturgeschichten rekurrierten auf das Modell der erzählenden Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Andererseits gebe es literarturgeschichtliche Darstellungen, die das Modell der Ereignisgeschichte verfolgten und die ›Geschichtlichkeit‹ der Texte zugunsten einer ›Textualität‹ der Geschichte vernachlässigten. Sie tendierten daher zur Sammlung, zum Archiv oder zur Enzyklopädie. 4 »Das Ergebnis: eine Literaturgeschichtsschreibung ohne Theorie, eine Literaturtheorie ohne (Literatur-)Geschichte« (S. 3).

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Der Herausforderung, Literaturgeschichte und Literaturtheorie neu zu verbinden, möchte sich der Band stellen. Das Vorwort deutet dabei die Richtung an: In einer gleichsam anti-positivistischen Wendung gelte es, »nicht bloßen Daten und vorgefertigten Entwicklungslinien zu folgen« (S. 7), sondern es sollen neue ›Narrative‹ zur Auswahl und Ordnung des literaturgeschichtlichen Materials entwickelt und verbunden werden. Buschmeier spricht in seinem eigenen Beitrag die Hoffnung aus, der Band möge dazu beitragen, »die literaturgeschichtliche Erzählung beherzt zu wagen« (S. 29). Dem Ziel einer neuen, ›beherzten‹ Narration folgt auch ein großer Teil der Beiträge, jedoch nicht alle.

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Die Beiträge gehen auf Vorträge zurück, die im Rahmen eines literaturwissenschaftlichen Forschungskolloquiums der Universität Bielefeld in den Jahren von 2011 bis 2013 gehalten wurden. Sie ergänzen den 2011 in IASL publizierten Themenschwerpunkt »Literatur und Geschichte«. 5 Gegliedert werden sie nach zwei Teilen: »Methodische Überlegungen« und »Modelle von Literaturgeschichtsschreibung«. Da sich aber in jeder Literaturgeschichte auch der zugrunde gelegte Literatur-Begriff auswirkt, sind Theorie und Praxis nicht klar zu trennen. Im Rahmen dieser Rezension sollen stattdessen die Beiträge in einem zweipoligen Spannungsfeld zwischen »Narrativität« – im Sinne der (Wieder-)Herstellung von Zusammenhang durch Ordnung und Sinndeutungen – und »Konstruktivität« – im Sinne einer analytischen Explikation des Konstruktionscharakters – umgruppiert werden.

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Das Spektrum der Literaturgeschichten

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Bereits mit der Sozialgeschichte der Literatur und dem Wandel von der ›Ableitung‹ zur ›Beziehung‹ 6 fand eine Pluralisierung der methodischen Zugänge statt. Die kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft führte die Auffächerung der literaturgeschichtlichen Funktionen weiter. Der Band dokumentiert einerseits diese Pluralisierung, andererseits ein Bemühen um Zusammenführungen durch die reflexive Rückschau auf Konzepte der literatur- und geistesgeschichtlichen Tradition, wie bereits aus einigen Überschriften hervorgeht: »Rückblickende Überlegungen zu einer narrativen Erneuerung der Literaturgeschichte« (Friedmar Apel) oder »Zur Frage, was heute noch möglich ist – mit einer disziplingeschichtlichen Rückblende« (Daniel Fulda).

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Jörg Schönert, der wie kein anderer Beiträger in der Theorie der Literaturgeschichte und insbesondere der Sozialgeschichte der Literatur ausgewiesen ist, 7 zeigt sich in seinem Beitrag »Viererlei Leben der Literaturgeschichte?« diplomatisch. Zunächst stellt er eine Reaktivierung der theoretischen Grundlegung der Literaturgeschichtsschreibung fest, die er auf eine fachgeschichtliche Rekonstruktion und Revision zugunsten der fachlichen Grundlagen zurückführt (vgl. S. 33). Dann unterscheidet er verschiedene ›Lebensformen‹ der Literaturgeschichtsschreibung in gleichsam ›friedlicher Koexistenz‹: 1. eine im interdisziplinären Zusammenhang von Historiographie, 2. eine für den Wissenschaftsgebrauch, 3. eine für Studierende – an dieser Stelle wird deutlich, wie sehr die Trennung von Forschung und Lehre fortgeschritten ist –, schließlich 4. eine Literaturgeschichte für die nichtakademische Öffentlichkeit. Zu letzeren zählt er David Wellberys A New History of German Literatur, 8 die im Band immer wieder als Referenz- und Reibungspunkt auftaucht, und damit endet Schönerts ›diplomatischer‹ Beitrag dann doch mit einem kritischen Seitenhieb auf einen präsentischen Geschichtsbegriff.

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Plädoyers – die Pragmatiker

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Für die Fraktion der ›Pragmatiker‹ steht vor allem Matthias Buschmeier. Ausgehend von Stephen Greenblatts Auseinandersetzung mit dem Moderne-Begriff, die die Textualität der Kultur betont und daraus die Notwendigkeit vielfältiger und immer wieder neu ausgehandelter ›Erzählungen‹ ableitet, setzt sich Buschmeier mit der »Linie der Präsenzästhetik« bis hin zu Hans Ulrich Gumbrecht auseinander (vgl. S. 18). 9 Dabei deutet er dessen Grundannahme um, dass ›Narrative‹ der Literaturgeschichtsschreibung notwendiger Weise metaphysische Prämissen voraussetzten. Buschmeier geht es um die Rehabilitierung und Neufassung von ›Narrativen‹ für die Literaturgeschichte, die er als eine pragmatische verstanden wissen möchte. »Pragmatische Literaturgeschichte« meint für ihn eine »liberale[] Kulturpoetik« (S. 17), die sich »radikal zu ihrer Perspektivität, Kontingenz und Fragmentarität bekennt« (S. 18). Die angestrebten narrativen Modelle unterschieden sich von denen des 19. Jahrhundert durch die Absage an einen Objektivitätsanspruch. Perspektivismus wird pragmatisch als Realität der unterschiedlichen Darstellungen von Literaturgeschichte aufgefasst. Unter Berufung auf Richard Rorty gelte es, Inkommensurabilität und Heterogenität auszuhalten, sie narrativ anzugleichen und sich ihrer Relativität und Fiktionalität bewusst zu bleiben (vgl. S. 28). Dieses ›liberale‹, pragmatisch-hermeneutische Plädoyer für neue Ordnungsmuster, die im narrativen Prozess die Verbindung des Inkommensurablen immer wieder aufs Neue entwickeln und relativieren, erinnert stark an Uwe Japps Konzept einer Beziehungsgeschichte, dessen auf Nietzsche zurückgehender »Beziehungssinn« bereits die Grenze zwischen narrativer Literatur und Literaturgeschichte verwischte. 10

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An die pragmatische Position direkt anschließbar ist der Beitrag von Wagner-Egelhaaf, der die »Literaturgeschichte als operative Fiktion« versteht. Ausgehend von der These, dass es nach den medien- und kulturwissenschaftlichen Debatten ein Bedürfnis gebe, »sich wieder verstärkt auf das literaturwissenschaftliche Kerngeschäft zu besinnen« (S. 86), tritt Wagner-Egelhaaf für eine Literaturgeschichtsschreibung ein, deren chronologische Ordnung als nachträgliche, operative Fiktionssetzung erfolgen solle. Die literaturwissenschaftliche Tätigkeit, die diese chronologische Ordnung nicht mehr im starken, expliziten Sinne behaupten könne, werde gleichwohl von dieser Fiktionssetzung eines historischen Ablaufs wie von einem »Unterstrom« getragen (S. 89). Auch Ansätze des Gleichzeitigen und Präsentischen, wie der des New Historicism, seien von einer Dynamik sich verändernder Konstellationen geprägt. Mit Luhmann wird diese operative Fiktion als heuristische oder performative ›Als ob‹-Annahme verstanden, um Operationen und Anschlussoperationen zu ermöglichen. Ähnlich wie Buschmeier argumentiert Wagner-Egelhaaf, dass gerade die Unbestimmtheit und Unschärfe der operativ gesetzten, flexibel sich wandelnden fiktiven Ordnungsmuster einer zeitlichen Abfolge – sie greift hier auf eine ›Fluss-‹ bzw. ›Magma‹-Metaphorik zurück – die Leistungsfähigkeit literaturwissenschaftlichen Arbeit gewährleiste. Auch in diesem operativ-pragmatischen Modell würden »Realität« und »Konstruktion«, »Referenz« und »Performanz« nicht länger Gegensätze bilden, sondern sich in der permanenten ›Verhandlung‹ mit dem Gegenstand, aber auch inner- und interdisziplinär produktiv ergänzen (vgl. S. 95, 98). In dieser an die Evolutions- und Systemtheorie angelehnten operativen Zusammenführung scheinen Konflikte und Unvereinbarkeiten zu verschwinden. Hier zeigt sich, dass Begriffe wie ›Narration‹, ›operative Fiktion‹ oder ›Verhandlung‹ eine große suggestive Kraft entfalten können und wie die Kruste eines ›Magna‹-Stromes viel ›Glut‹ verdecken kann.

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Auch Dirk Werle plädiert für die Rückbesinnung auf ›Zusammenhänge‹ – hier auf die Zusammenführung von Metaphern-, Symbol- Themen, Motiv- und Topoi-Geschichte in einer »Literaturgeschichte semantischer Einheiten«. Um zu verhindern, dass diese nicht in zu große Nähe zur klassischen Ideengeschichte rückt, betont Werle die Textgebundenheit der semantischen Einheiten. Ähnlich wie den anderen Pragmatiker geht es auch ihm nicht um die Aufhebung der Differenzen der Spezialgeschichten, sondern um eine Art operativen Oberbegriff, der es wieder erlaube »bei der Rekonstruktion historischer Reihen oder auch Tableaus nicht dogmatisch den theoretischen und terminologischen Vorgaben der spezielleren Begriffe zu folgen« (S. 78). Eine Geschichte semantischer Einheiten wird als Problemgeschichte spezifischer Text-Text- und Text-Kontext-Konstellationen konzipiert, die es in der Fachdiskussion weiter zu diskutieren gelte. Ähnlich wie Wagner-Egelhaaf mit dem Bild des Magma-Stroms wird hier die Komplexität der Verknüpfungsmöglichkeiten und die Idee eines »Prozesses von Kontinuität und Umbesetzung«, »Vielgestaltigkeit« und »literarische Tradition« als Austauschbeziehung zusammengedacht (S. 82 f.). Fiktion und Literaturgeschichte sollen sich wechselseitig ergänzen. Am Ende steht die Vision vom Literaturwissenschaftler, der gleichsam zu einem diskursiven und den Dichter rhetorisch überbietenden Erzähler semantischer Einheiten geworden ist (vgl. S. 85). Auch hier wird der Ausweg aus dem Theorie-Defizit im Syntheseversuch von Narration und Reflexion im Modus des narrativen ›Als ob‹ gesucht.

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Wiederherstellungen von Master-Narrativen (in aufsteigender Ordnung)

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Eine nächste Gruppe von Beiträgen steht für die variierende Wiederherstellung von ›Master-Narrativen‹, die aus den verschiedenen Traditionslinien der Literatur- und Geistesgeschichte stammen. Jürgen Paul Schwindt präsentiert zunächst im wörtlichen Sinne die Wiederherstellung seiner 2001 gehaltenen Heidelberger Antrittsvorlesung. Die Hauptausrichtung seines Beitrags »Querelles – Zu einer Literaturgeschichte der Intensität« zielt weniger auf eine Theorie der Literaturgeschichte als auf eine fachinterne Reform der Klassischen Philologie. Für die Frage nach der Literaturgeschichte ist die im Titel erstgenannte Kategorie der »Querelles« von größerer Relevanz, da deren agonales Moment konstitutiv ist für die Ausbildung von Gattungen und Kunstrichtungen und für den Konflikt zwischen kanonisierten Formen und formalästhetischen Umstürzen. Der im zweiten Teil des Titels genannte zentrale Begriff der »Intensität« meint diese »intrinsische[] Revolte« (S. 146). Er zielt auf deren kategorialen, ästhetisch-erkenntnistheoretischen Status (vgl. S. 149). Hier geht es um so noble Dinge wie Plötzlichkeit, Kairos, Erhabenheit etc. und deren produktions- und rezeptionsästhetische Übertragung in (Sprach-)Bilder. Das deutet auf eine (Re-)Auratisierung des Kunstwerkes. Leider besteht aber die Kultur- und Literaturgeschichte nicht nur aus Plötzlichkeits- und Erhabenheitserfahrungen.

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Ein zweites Master-Narrativ, das wiederbelebt werden soll, ist das der Geistesgeschichte. Ähnlich wie bei Schwindt lassen sich im Beitrag von Daniel Fulda zwei Momente bereits im Titel unterscheiden: Im ersten Teil geht es um eine Theorie der Literaturgeschichte (»Starke und schwache Historisierung«), im zweiten Teil geht es grosso modo um ein Plädoyer für die Wiederherstellung der Reputation der Geistesgeschichte. Unter einer »schwachen Historisierung« versteht Fulda die »Berücksichtigung historischer Kontexte als erklärungsrelevant«, während eine »starke Historisierung« die »Rekonstruktion historischer Verläufe« meint (S. 107). Auch hier wird das präsentische und synchrone Geschichtsverständnis von Gumbrecht und Wellbery mit triftigen Gründen kritisiert. Denn die vorgebliche ›radikale Historisierung‹ der New History erweise sich letztlich als »schwache Historisierung«, da sie »wohl Geschichten – und das mit Lust und zur Freude der Leser –, aber nicht eigentlich Geschichte« erzähle (ebd.). Was das zweite Anliegen angeht, die Reinthronisierung der Geistesgeschichte, so ist vor allem die Rekonstruktion der historischen Genese des geistesgeschichtlichen Ansatzes interessant. Sich auf eine Studie von Holger Dainat beziehend, 11 versteht Fulda das geistesgeschichtliche Paradigma der Zusammenführung als Antwort auf die von der zunehmenden Spezialisierung der Philologien um 1900 ausgelösten Krise und er zieht eine Parallele zur heutigen Situation mit der Klage über »explodierende[s] Detailwissen[]«(S. 111). Entsprechend legt Fulda nahe, dass Konzepte der Geistesgeschichte – insbesondere das der »Aufklärung«, verstanden als historische Selbstbestimmung und -verortung – fortdauerende Aktualität besäßen. Der präsentischen Fundamentalkritik an der Vorstellung von Geschichte wird zu Recht die Kontinuität von Grundproblemen der Literaturgeschichtsschreibung, wie zum Beispiel die »Frage nach dem Verhältnis von Konstruktion und Objektivität hinsichtlich der erzählten Geschichte« (S. 121), entgegengehalten. Es bleiben aber doch Zweifel, ob ein regenerierter Begriff der »Geistesgeschichte« geeignet ist, die Theorie der Literaturgeschichte ›nach der Theorie‹ neu zu begründen.

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Den dritten Versuch einer »narrative[n] Erneuerung der Literaturgeschichte« unternimmt der Beitrag von Friedmar Apel mit Rückgriff auf die frühromantische Ästhetik von Novalis und Schlegel. Nach einer ausführlichen Diskussion verschiedener Ästhetik- und Literaturgeschichtsmodelle kommt Apel zu seinem Schlüssel-Ansatz einer Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinen, bei der die Werk-Kategorie als ›Subjekt‹ wieder zur zentralen Instanz wird. Als »Subjekt« sei das Werk bereits »ein Problemzusammenhang, in dem sich Altes und Neues, Fremdes und Eigenes, Besonderes und Allgemeines in je verschiedenen Verhältnissen zueinander befinden.« (S. 60) In der Argumentation an Walter Benjamins Kritik- und Geschichts-Begriff erinnernd, könne die heutige Diskussion um die Literaturgeschichte von den Frühromantikern lernen, dass es die Aufgabe der Philologie sei, die jeweilige Konstellation im Werk »als historische und zugleich gegenwärtige zu charakterisieren« (ebd.). Auch diese proklamierte, im Einzelnen methodologisch aber unklare Transzendierungsleistung der philologischen Kritik solle im Modus der Erzählung erfolgen. Apel plädiert schließlich für eine

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»methodische[] Literarisierung der Literaturgeschichte nach dem Muster des modernen Romans […]. Literaturgeschichte könnte frei nach Friedrich Schlegel als Performanz des Literaturwissenschaftlers begriffen werden, als die Form, in der er seine Auffassung der Seinsweise und der Bedeutung der Literatur für die jeweilige Gegenwart kunstvoll zur Geltung bringt.« (S. 62)
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Auch hier wird also die Lösung des Theorie-Defizits weniger in einer Abstraktions- und Konstruktionsleistung als vielmehr in einer wissenschaftlich-künstlerischen Narration und Performanz gesehen.

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Die vierte Bestrebung der Wiedereinsetzung von Ordnungsmustern, die aus der Tradition gewonnen werden können, richtet sich auf das Master-Narrativ des Idealismus, genauer: auf das Sinn-Gerüst eines anthropologischen Idealismus. In einem gut vierzig Seite langen, Manfred Frank gewidmeten Beitrag nimmt uns Wolfgang Braungart mit auf seine lange Fahrt durch die Kulturgeschichte, die ebenfalls das Kunstwerk als Individuum und den Autor als Subjekt wiederherstellt. Es geht Braungart um die »Inthronisation eines in besonderer Weise freien, selbstbestimmten Traditionsverhaltens« (S. 287) und ähnlich wie bei den anderen Versuchen einer Synthese von Narration und Reflexion werden hier Prinzipien der »Individualität« mit deren »Bändigung« durch »Modelle von Autorschaft« (S. 272) zusammengedacht. Beim Durchgang durch die (Bild-)Geschichte kultureller Autorität nimmt Braungart den Leser anthropologisch an die Hand. Dabei gehe es um »[e]ine der Grundfragen an das, was uns nicht als ›gerade eben jetzt‹ 12 erscheint. Aber warum wollen wir das wissen? Weil wir mit der uns sinnfällig, ästhetisch begegnenden geschichtlichen Zeit umgehen und zu ihr in ein Verhältnis kommen wollen« (S. 270).

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Braungarts »Verteidigung des Individuellen« (S. 268, Anm. 12), die sich auf Manfred Franks Selbstgefühl (2002) und Unhintergehbarkeit von Individualität (1986) stützen kann, synthetisiert vor allem Gedanken aus dem Fundus der eigenen Studien. Entworfen wird eine ›starke‹ Narration des Individuellen, die durch vier »Korrektur-Modi« modifiziert wird: »Korrektur subjektiver Selbstvergötzung« durch ästhetische Religiosität und Kunstreligion, »Korrektur subjektiver Selbstisolierung« durch das Moment ästhetischer Geselligkeit, »Korrektur sich vereinseitigender neo-religiöser Heilserwartungen an Literatur« durch ästhetische Ironie und Kritik, schließlich »Korrektur sich verselbständigender […] ästhetischer und sozialer Performanz« durch einen ästhetischen Realismus (vgl. S. 290 f.). Unter dem Schlagwort des »Kunstwerks«, das sich als Individuum befragt, wird schließlich eine Großkategorie der »Moderne« entworfen, deren Ästhetik als eine einzige »Folge von Fußnoten zur Kritik der Urteilskraft« (S. 294) begriffen wird und bereits avant la lettre bei Friedrich von Hagedorn einsetze und bis Martin Mosebach in der Gegenwart reiche! Auch den Realismus bindet Braungart in seine Narration einer anthropologischen, subjektzentrierten Moderne ein und zwar in Form von Jeremias Gotthelfs »handfeste[n] und konkrete[n] Realismus« mit seinem Ideal des »bildsamen und gebildeten Landmann[es]« (S. 304 f.): Allen Unkenrufen der Diskurstheorie vom entmachten Subjekt hält Braungart resümierend dessen »Bezogensein auf hohe, womöglich höchste kulturelle Werte (Kunstreligion), die freie Intellektualität (Ironie und Kritik), die freie Soziabilität (literarische Geselligkeit), schließlich die Offenheit für das Empirische, für Glück und Elend dieser Welt, für das wirkliche Hier-Sein (literarischer Realismus)« entgegen (S. 306 f.). Statt im Sande zu vergehen, feiert in dieser subjektzentrierten Erzählung der Mensch seine Auferstehung.

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Epochenkonstruktionen

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Das Problem der Epochenkonstruktion stellt einen Kernbereich der Literaturgeschichte dar. Was Braungart unter Berufung auf anthropologisch-subjektphilosophischen Notwendigkeiten zur Moderne erklärt, stellt Manfred Engel im leichten Ton als explizite Konstruktion aus: »Wir basteln uns eine Großepoche: Die literarische Moderne«, lautet sein Beitrag. Im Unterschied zu den verschiedenen Ismen, die auf einen überschaubaren Personenkreis in Austauschbeziehungen stehen, verlange die Großepoche einen »sehr viel prekäreren Konstruktionsakt« (S. 247). Engels Baukasten zur Großepoche ›literarische Moderne‹ umfasst einen engen Begriff der Moderne, der sich auf das Kriterium der formalästhetischen Erneuerung stützt. Dabei richtet sich seine Kritik 13 vor allem gegen primär sozialgeschichtliche Bestimmungen der Moderne im Sinne eines vagen Begriffs von ›Modernisierung‹. Dagegen grenzt Engels die Epoche der Moderne auf vier klar zu benennende Phasen ein (Jahrhundertwende, Zehnerjahre oder Avantgarde, Weimarer Republik, auslaufende Nachkriegszeit, wo die Moderne nur eine unter mehreren Strömungen war). Er beruft sich dabei auf das forminnovative Kriterium, das auf ›abstrakte‹ oder ›konkrete‹ Verfahren zielt und sich von realistischer Mimesis abkehrt. Die Bestimmung einer formalästhetisch definierten Moderne führt Engels schließlich am Beispiel einer Verfahrens- und Funktionsgeschichte der modernen Lyrik vor. Wie bei den Akteuren der Moderne selbst wird hier allerdings die Produktionsästhetik überbetont und die Logik der rezeptionsgeschichtlichen Anerkennung formalästhetischer Innovation vernachlässigt.

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Der rezeptionsgeschichtliche Anteil an der Herstellung von Epochen und ihrer literarischen ›Wertigkeit‹ lässt sich insbesondere am Einfluss der wissenschaftlichen Konsekrationsinstanzen studieren. Peter Sprengel legt in seiner wissenschaftsgeschichtlich ausgerichteten Studie exemplarisch die Mikrologik bei der Herstellung der Moderne-Epoche frei. Er zeigt detailliert, wie Literaturhistoriker in der Nachfolge des Positivisten Wilhelm Scherer mithalfen, die Epoche der Moderne zu inthronisieren. Bei der Analogiesetzung des Frühnaturalismus mit dem Sturm und Drang als vorbereitende Phase für die Klassik ging es um die wissenschaftlich beziehungsweise literaturgeschichtliche Nobilitierung einer ›klassischen Moderne‹. Diese Inthronisierung einer Epoche aus dem Geiste des Positivismus über das Merkmal sozialer Relevanz erfolgte zu Gunsten von Gerhart Hauptmann und zu Ungunsten von Arno Holz, dessen Modernität auf der Ebene formalästhetischer Innovationen lag.

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In ähnlicher, wissenschaftsgeschichtlicher Weise zeigt Klaus Stierstorfer den konstitutiven Beitrag der englischen Literaturgeschichte bei der ›Erfindung‹ der Evolutionstheorie am Beispiel der Arbeiten von Robert Chambers (1802–1871) auf. Fabian Lampert geht den Auswirkungen des ›spatial turn‹ nach und führt aus, dass und wie die italienische Germanistik und Italianistik in den letzten Jahren besonders von produktiven Versuchen der Verschränkung von Literaturgeschichte und Raumkonzepten geprägt sind. Isabella von Treskow diskutiert die Auswirkungen des ›cultural turn‹ auf die romanistische Literaturgeschichtsschreibung. Dabei stellt sie unter anderem neue sprachliche Zugänge und bewusste semantische Unbestimmtheiten wie z. B.: »Naissances«, »Renaissances«, »Modérnités« (vgl. S. 317) fest. Diese verweigern sich einerseits Monokausalitäten und den traditionellen, starren Schemata der romanistischen Literaturgeschichtsschreibung. Andererseits verraten sie auch eine Unsicherheit und eine gewisse Unbedarftheit der ›parlierenden Narration‹ (vgl. S. 336), wie sie dem Streben nach einer neuen Verbindung von wissenschaftlicher Historiographie und Narration allgemein drohen.

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Eine besondere Herausforderung stellt der literaturgeschichtliche Umgang mit der Gegenwartsliteratur dar, wie Kai Kauffmann in seinem Beitrag ausführt. Traditionell ein Gegenstand der Literaturkritik, hat sich die Literaturwissenschaft in den letzten zwanzig Jahren zunehmend für die Gegenwartsliteratur geöffnet. Damit stellt sich automatisch die Frage nach der Definition, dem Beginn (nach ›1968‹, nach ›1989/90‹, seit ›2000‹ etc.) und dem zeitlichen Verlauf einer ›Epoche Gegenwartsliteratur‹. Kauffmann rekonstruiert die Geschichte des Bewusstseins für eine zeitbezogene, sich mit ›Gegenwart‹ auseinandersetzende Literatur, wie sie erstmals in den 1920er Jahren und dann vor allem in der Literatur der 1950er und 60er Jahren zu beobachten war. Die Literatur ›in der Gegenwart‹ war in der Nachkriegszeit vor allem eine, die an die Traditionen moderner Poetik anknüpfte. Mit der Ablösung der Epochenzäsur ›1945‹ durch das ›Wendejahr 1989/90‹ verlagerte sich auch die Definition der Gegenwartsliteratur: von einer Orientierung an der Moderne hin zu einer Schwerpunktsetzung auf seine Auseinandersetzung mit ›Gegenwart‹ und ›Gegenwärtigkeit‹, wodurch der zeitliche und zeitgeschichtliche Aspekt in den Vordergrund rückte. Paul Michael Lützeler und Michael Braun gehen entsprechend von einem zeitlich gleitenden Epochenkonzept aus. Gegenwartsliteratur habe »einen wandelbaren Anfang und ein unabsehbares Ende«. 14 Dieser häufig in der Forschung zur Gegenwartsliteratur anzutreffenden Überbetonung des ›Gegenwarts-‹ und ›Gegenwärtigkeits‹-Paradigmas, für das insbesondere Hans Ulrich Gumbrecht eintritt, 15 hält Kauffmann unter Berufung auf den Zeithistoriker Martin Sabrow den sinnvollen Vorschlag entgegen, die »Vergangenheitsbestände« in das Konzept der Gegenwartsliteratur einzubeziehen, »die von der aktuellen Literatur präsent gehalten werden, weil sie für das kommunikative Gedächtnis der Gesellschaft wichtig sind« (S. 363). In Analogie zu Fuldas Unterscheidung ließe sich so von ›starken‹ und ›schwachen‹ geschichtliche Zäsuren sprechen. So bleibt die Epochenzäsur ›1945‹ gegenüber der ›Wende‹ 1989/90 im kommunikativen Gedächtnis wie auch in der Literatur ungleich präsenter.

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Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die Gegenwartsliteratur seit 1990 zunehmend von Bestimmungen der »Gegenwärtigkeit« geprägt ist, sei es in Form einer Präsenz- und Performanzästhetik oder in Form sozialgeschichtlicher Bezüge zur »realen« Situation der heutigen Zeit. Kauffmann zieht daraus seine Schlussfolgerung, dass eine Geschichtsschreibung der Gegenwartsliteratur »die literarischen Konzepte und Modelle von Gegenwärtigkeit in synchroner und diachroner Perspektive darstellen« müsste und dabei würde man immer wieder auf die »Frage nach der ,gesellschaftlichen Funktion‘ von Literatur stoßen« (S. 374). Hier zeigt sich der Versuch, sozialgeschichtliche Ansätze, die tendenziell auf die diachronen gesellschaftlichen ›Funktionen‹ zielen, und kulturwissenschaftliche Perspektiven, die sich auf die synchrone ästhetische ›Präsenz‹ fokussieren, zusammenzudenken.

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Verfahrensgeschichten

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Eine Alternative zur Literaturgeschichtsschreibung über ›Narrative‹ (im starken Sinne) stellen Geschichten literarischer oder ästhetischer Verfahren dar, die sich vor allem auf dem Kriterium formalästhetischer Innovation gründen. Jan-Dirk Müller diskutiert die Schwierigkeit, eine Geschichte vormoderner Literatur zu schreiben, weil hier die Kategorie des ›Neuen‹ fehle. Da für ›vormoderne‹ Literatur ein anderer Begriff von Geschichtlichkeit gilt, plädiert er für eine ›postmoderne Enzyklopädie‹, die allerdings nicht auf enzyklopädische Vollständigkeit, sondern auf einen additiven Zugang ziele, um »von verschiedenen Punkten aus Zugang zur Geschichtlichkeit eines literarischen Textes, eines Autors, eines literarischen Phänomens zu gewinnen« (S. 171). Auch Müller setzt sich kritisch mit Wellberys Neuer Literaturgeschichte auseinander und plädiert letztlich für eine »mittlere Ebene zwischen ›Meistererzählung‹ und historischer Einzelanalyse« (S. 177). Dabei schwebt ihm eine »Literaturgeschichte als Geflecht von Partialgeschichten« (S. 178) vor, in denen Mikrohistorien Einsicht in die Heterogenität und Diskontinuität historischer Prozesse geben. Aus einer derartigen ›vormodernen Geschichte‹ ließen sich alternative Bewältigungsformen historisch vorgegebener Konstellationen rekonstruieren, denn in den Fokus rückten hier konstellative Partialgeschichten, die sich nicht fortsetzten, weil sie sich historisch nicht durchgesetzt haben.

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Auch Monika Schmitz-Emans Vorschlag, den Wechselwirkungen von Literaturgeschichte, Mediengeschichte und Mediendiskursgeschichte nachzugehen, zielt auf eine konstruktivistische Verfahrensgeschichte, der es um »wechselseitige[] Modellierung« geht (S. 125). Schmitz-Emans betont, dass es keine ›Medien‹ oder ›Künste‹ an sich gebe, sondern dass sie stets aus Konzeptualisierungen und Diskursivierungen entstünden (vgl. S. 124). Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Sehens stehe methodisch vor analogen Problemen wie des Literarhistorikers, denn beide changierten »zwischen einem geschichtsspekulativ fundierten und einem konstruktivistischen Ansatz« (S. 128). Dem ›visual‹ bzw. ›pictorial turn‹ komme für die Literaturgeschichte eine besondere Bedeutung zu. Einerseits bilden literarische Texte Beiträge zu einer ›Geschichte des Sehens‹ und der Bildmedien. Schließlich haben sie teil an Wissensdiskursen und neuen kompositorisch-darstellerischen Modellen. »Geschichte« sei nicht gegeben, sondern »Produkt von Sehweisen, Bildproduktionsverfahren, Sprechweisen und Diskursen« (S. 140). Photo-Text-Literatur wie z. B. Peter Henisch: Die kleine Figur meines Vaters (1975) zeigten ein »hohes Maß an Darstellungsreflexivität« und Geschichtsbewusstsein. »Sie setzen sich u. a. mit der Frage auseinander, was ›historische Erfahrung‹ bedeutet, was ›Erinnerung‹ ist, welche Medien des Erinnerns, der Archivierung, der Darstellung historischer Erfahrungen wie funktionieren, was sie leisten etc.« (S. 141).

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Einer der innovativsten Beiträge für ein angewandtes Modell einer neuen Literaturgeschichtsschreibung ist Moritz Baßlers »Prolegomena zu einer Verfahrensgeschichte deutscher Erzählrosa 1850–1950«. Sie verweisen auf eine jüngst erschienene monographische Literaturgeschichte. 16 »Narration« wird hier als Trope und als eine unter vielen Formen der »Vertextung von Archivdaten« verstanden (S. 231). Baßler versucht also nicht, die kulturpoetische Bedeutung von Narrationen in einer allgemeinen Erzähltheorie zu fassen. Stattdessen verfolgt er einen strukturalistischen bzw. verfahrenstechnisch-semiotischen Literaturbegriff angesichts einer »Welt post-narrativer Netzpraxis, die Sinn bevorzugt über enzyklopädische Verknüpfungen zu generieren scheint, über Links im Netz, Algorithmen, Kommentare, getippte Dialoge, Überschreibungen, kurz: über gespeicherte Assoziationen« (S. 232). Angestrebt wird kein Narrativ, sondern eine Literaturgeschichte als Geschichte literarischer Verfahren im Anschluss an Denker des russischen Formalismus wie Viktor Šklovskij oder Roman Jakobson. Dessen Unterscheidung dominanter Modi textueller Verknüpfung und Zuordnung zu literaturgeschichtlichen Epochen – das metonymische Verfahren, das den Realismus prägt im Unterschied zu metaphorischen Verfahren der Moderne – nimmt Baßler zum Ausgangspunkt seiner Skizze einer Verfahrensgeschichte deutschsprachiger Erzählprosa von 1850 bis 1950. Dabei versteht er realistisches Erzählen als metonymische Organisation der Sequenz durch konventionelle ›frames‹ und ›Skripte‹, die ein automatisches Verstehen oder Entstehen der Darstellungsebene erzeugen – dies im Unterschied zu einem ›modernistischen Erzählen‹, das durch die Unterbrechung der kulturellen ›frames‹ durch Metaphern charakterisiert ist. Dieser verfahrenstechnischer Ansatz ist kompatibel mit Engels Bestimmung der Moderne über das Kriterium formalästhetischer Innovationen. Literaturgeschichte soll so über Dominanzverhältnisse unterschiedlicher und sich historisch auch überlagernder Verfahren bestimmbar werden. Dabei ist kein linearer Fortschritt zu erkennen und Baßler geht es auch nicht um den Nachweis einer literarischen Evolution. Vielmehr interessiert ihn die Frage, wie sich Veränderungen in der Dominanz von Verfahren erklären lassen. Bei seiner literaturimmanenten Argumentation greift er auf Juri Tynjanows Bestimmung von Form-Funktions-Verhältnissen zurück. 17 Damit ist ein produktiver Ansatz zur Bestimmung des historischen und geschichtlichen Orts eines Verfahrens genannt. In dieser Richtung könnte man weitergehen, denn Form-Bestimmungen zielen tendenziell auf autonome Selbstreferenz und modernistische Verfahren, während Funktionsbestimmungen tendenziell Fremdreferenz, realistische Verfahren charakterisieren. Von Baßler selbst bleibt die Frage unbeantwortet, wie sich sein strukturalistisches Modell einer Verfahrensgeschichte mit außerliterarischen Diskursen und Entwicklungen bzw. zu kulturellen Kontexten verbinden lässt.

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Fazit

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Bekanntlich sprach Walter Benjamin einst von der siebenköpfigen Hydra der Schulästhetik. 18 Diese Köpfe haben heute andere, vielfältige und sehr reflektierte Formen angenommen. In der Diskussion um eine Theorie der Literaturgeschichte lassen sich zwei Richtungen ausmachen: Die eine versucht – analog zur Forderung nach einem »neuen Erzählen« in der Gegenwartsliteratur der neunziger Jahre – die Wiederbelebung der Theorie der Literaturgeschichtsschreibung über die narrative Herstellung von geistig-ästhetischen Ordnungen und Sinnzusammenhängen. 19 Dabei soll die Theorie-Reflexion sich im operativ-pragmatischen Bewusstsein und im Prozess der Narration selbst vollziehen. Angestrebt wird gleichsam ein »neu erzählender« Literaturwissenschaftler, der sich mit dem traditionellen wie auch zeitgenössischen »poeta doctus« auf halbem Wege trifft. Die andere Ausrichtung folgt dem Weg der »Konstruktivität«. Der Literaturwissenschaftler erzählt hier nicht im starken Sinne Literaturgeschichte, sondern er analysiert sie und arbeitet mittels einer wissenschaftlichen Metasprache Regeln, Regelmässigkeiten und Brüche heraus. Sicherlich, zwischen beiden Ausrichtungen bestehen zahlreiche graduelle Übergänge und man könnte – in Anlehnung an Fulda – von ›starken‹ und ›schwachen‹ Narrationen einer Literaturgeschichte sprechen, wobei der Begriff der ›Narration‹ suggestiv ist und oft mehr verdeckt als offenlegt. Der Band zeugt erstens davon, dass ›Literaturgeschichte‹ längst wieder ein legitimer Theoriediskurs geworden ist. Er legt zweitens nahe, dass in der Diskussion um die Theorie der Literaturgeschichte zurzeit die ›starken Narrationen‹ die Richtung vorzugeben scheinen. Diese treten an, die Reflexion von Diskontinuität, Perspektivismus oder Individualismus pragmatisch-heuristisch oder anthropologisch-subjektphilosophisch auf übergeordnete Zusammenhänge hin zu transzendieren. Diese Richtung scheint am ehesten die Brücke zu den erzählenden Übersichtswerken schlagen zu können. Weniger dominant, aber auch präsent in der Theorie-Diskussion ist der ›schwach erzählende‹, analytisch fundierte Konstruktivismus. Er geht tendenziell den Weg des von den Übersichtswerken wegführenden Spezialwissens, auf das keine Wissenschaft verzichten kann. Weit abgeschlagen ist im Band der Versuch, literarisch-ästhetische Entwicklungen mit politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen zu vermitteln.

 
 

Anmerkungen

Achim Geisenhanslüke / Ernst Osterkamp / Joseph Vogl: Statements und Diskussion. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36/2 (2011), S. 415–444.   zurück
Matthias Buschmeier: Literaturgeschichte nach dem Ende der Theorie? Thesen zu den (Un-)Möglichkeiten einer bedrohten Gattung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36/2 (2011), S. 409–414.   zurück
Jürgen Fohrmann: Das Versprechen der Sozialgeschichte (der Literatur). In: Martin Huber / Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 105–112.   zurück
Vgl. Moritz Baßler: Zwischen den Texten der Geschichte. Vorschläge zur methodischen Beerbung des New Historicism. In: Daniel Fulda, Silvia Serena Tschopp (Hg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin / New York: De Gruyter 2002, S. 87–100.   zurück
Vgl. Walter Erhart / Gangolf Hübinger: Editorial zum Themenschwerpunkt »Literatur/Geschichte«. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36/1 (2011), S. 116–119, und die Beiträge im Jahrgang 36.   zurück
Klaus Scherpe: »Beziehung« und nicht »Ableitung«. Methodische Überlegungen zu einer Literaturgeschichte im sozialen Zusammenhang. In: Thomas Cramer (Hg.): Literatur und Sprache im historischen Prozeß (Akten des Aachener Germanistentags 1982). Bd. 1. Tübingen: Niemeyer 1983, S. 77–90.   zurück
Vgl. resümierend: Jörg Schönert: Literaturgeschichtsschreibung. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen.Bd. 2: Methoden und Theorien. Stuttgart / Weimar: Metzler 2007, S. 267–284.   zurück
David Wellbury u. a. (Hg.): A New History of German Literature. Cambridge, Mass. u. a.: HUP 2004.   zurück
Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Shall we continue to write Histories of Literature? In: New Literary History 39 (2008), S. 519–532.   zurück
10 
»Die Einsicht in den Beziehungssinn der Geschichte öffnet den Raum des Erzählbaren. Die solchermaßen historisierte Literaturgeschichte ist eine plurale Geschichte, eine Geschichte, die stets neu erzählt werden kann« (Uwe Japp: Beziehungssinn. Ein Konzept der Literaturgeschichte. Frankfurt a. M.: EVA 1980, S. 239).   zurück
11 
Holger Dainat: Ein Fach in der ,Krise‘. Die ,Methodendiskussion‘ in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft. In: Otto Gerhard Oexle (Hg.): Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 247–272.   zurück
12 
Dieser Seitenhieb gegen eine Überbewertung des Gegenwartsparadigmas zielt auf Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreiben der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003.   zurück
13 
»Auch weniger katholische Begriffsbestimmungen der Moderne laborieren daran, dass sie sich zur ,inhaltsinnovativen‘ Richtung der Moderne hin öffnen wollen. Das hat viel dazu beigetragen, den Moderne-Begriff unscharf und vage werden zu lassen« (S. 251).   zurück
14 
Michael Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, zit. n. ebd., S. 361.   zurück
15 
Hans Ulrich Gumbrecht: Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012.   zurück
16 
Moritz Baßler: Deutsche Erzählprosa 1850–1950: Eine Geschichte literarischer Verfahren. Berlin: ESV 2015.   zurück
17 
Juri Tynjanow: Über die literarische Evolution [1927]. In: Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule. Hg. von Fritz Mierau. Leipzig: Reclam 1991, S. 405–421.   zurück
18 
Walter Benjamin: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft. In: W.B.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 3: Kritiken und Rezensionen. Hg. v. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 283–290.   zurück
19 
Diese Position kann sich unter anderem auf die Arbeiten von Hayden White berufen, so vor allem: H. W.: Die Bedeutung der Form: Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt a. M.: Fischer 1990.   zurück