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Globalisierungsmärchen

  • Frederike Felcht: Grenzüberschreitende Geschichten. H.C. Andersens Märchen aus globaler Perspektive. (Beiträge zur Nordischen Philologie) Tübingen: Francke 2013. 312 S. Softcover. EUR (D) 49,00.
    ISBN: 978-3-7720-8487-4.

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Es ist hinreichend bekannt, dass H.C. Andersens Märchen schon zu seinen Lebzeiten (1805-1875) weltweit gelesen wurden, und auch, dass Andersen, dessen Motto »zu reisen ist zu leben« lautete, ein grenzüberschreitender Autor war. Jedes (dänische) Kind weiß, dass der weitgereiste Däne Ambitionen auf Weltruhm hegte, dass er unermüdlich Bestätigung dafür suchte, endgültig die provinzielle Armut seiner Kindheit verlassen zu haben und einer globalen Elite literarischer Genies anzugehören, einer künstlerischen Königsfamilie. Er erfuhr noch zu Lebzeiten, dass seine Märchen »Weltliteratur« wurden, und er trug durch eine sehr effektive und transnationale Publikationsstrategie seinen Teil dazu bei. Daher kann es scheinen, als renne man mit einer Abhandlung über H.C. Andersen und die Globalisierung offene Türen ein.

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Frederike Felchts imponierende und originelle Doktorarbeit ist jedoch ein mutiger – und weitgehend gelungener – Versuch einer Neulektüre einer Reihe von bereits oft analysierten Andersen-Texten, darunter etliche der berühmten Ding-Märchen, die sie im Lichte neuerer Globalisierungstheorien liest. Vorweggenommen sei doch, dass die Dissertation trotz ihrer vielen Tugenden nicht ganz durchgearbeitet erscheint, ja stellenweise sogar ungeordnet.

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Mit einem Zitat von einem anderen international orientierten Dänen, dem berühmten Kritiker Georg Brandes (1842-1927), fokussiert sie »›Det uendeligt Smaa‹ og ›Det uendeligt Store‹ i Poesien« (»›Das unendlich Kleine‹ und ›das unendlich Große‹ in der Poesie«), genauer gesagt: Sie unternimmt minutiöse Detailanalysen von Andersens Märchen und Erzählungen und koppelt sie an globale Perspektiven, wobei sie in erster Linie von Walter Benjamin und Bruno Latour inspiriert ist. Die folgenden beiden Forschungsfragen bestimmen die Textlektüren: »Inwiefern lassen sich in Andersens Texten Alternativen zu einem eurozentrischen Konzept von Subjektivität entdecken? Wie verhalten die Texte sich zu dem Wandel von Raum und Zeit, die Globalisierungsprozesse bewirken?« (S. 9) Dabei positioniert sich die Dissertation zwischen Theorien der Moderne und postkolonialen Theorien: »Sie ist besonders den Arbeiten verpflichtet, die für ein historisch-soziologisches Verständnis von Moderne stehen, und erweitert es um postkoloniale bzw. globalgeschichtliche sowie dingtheoretische Perspektiven« (S. 66).

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Benjamin’sche Zeitdiagnosen

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Nie zuvor ist Andersens Modernität so klar hervorgetreten; er wird beinahe zu einem Vorläufer für postkoloniale transnationale Globalisierungstheorien. Gleichzeitig wird er zu einer Art Walter Benjamin des 19. Jahrhunderts, zu einem eminent feinfühligen Gegenwartsdiagnostiker: »Der Untergang des Alten und der Verlust des Vertrauten, der in den Texten melancholische Gefühle hervorruft, birgt in sich immer auch die Chance, im Neuen und Unbekannten Freiheit und neue Erkenntnisse zu gewinnen« (S. 78). Andersens Verhältnis zu seiner Zeit ist auf eine Benjamin´sche Weise von einer grundlegenden Ambivalenz zwischen Begeisterung, Verwunderung und Melancholie geprägt. Auch der Grundgedanke des Aura-Verlustes und der technischen Reproduzierbarkeit des modernen Kunstwerkes wird auf überzeugende Weise für etliche Textlektüren produktiv gemacht.

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Es ist wohltuend eine Arbeit zu lesen, die Andersen nicht als ein nahezu unreflektiertes, kindliches Genie präsentiert, sondern ihn als akademischen Gesprächspartner und Zeitdiagnostiker ernst nimmt. Die Märchen werden als phantastische und theoretische Verhandlungen gelesen, die Alternativen zu nationalistischen und eurozentrischen Subjektkonzepten aufweisen und Analysen der neuen Zeit- und Raumvorstellungen der Moderne bieten. Aufgrund ihres weiten Horizonts, ihres theoretischen Pioniergeistes und ihrer subtilen Textanalysen gelingt es Felcht oft, selbst sehr bekannten und schon oft analysierten Texten neue Perspektiven zu entlocken.

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Märchenhafte Theorie

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Andersens Texte nehmen Felcht zufolge das kritische Potential des Postkolonialismus vorweg. Die Texte werden nie reduktionistisch gelesen, sondern für ihre Komplexität und Intelligenz gelobt. Andersen tritt nahezu als ein Globalisierungs-Orakel hervor, das mehrere Aspekte der Theoriebildung des 21. Jahrhunderts antizipiert. Unterstrichen wird damit das Potential der Literatur für Fragen der Modernität: »Dass der ungeheuren Vermehrung der Hybriden in der Moderne ein theoretisches Defizit hinsichtlich der Bedeutung von Dingen in der Konstruktion des Sozialen als Folge der ›Reinigungspraktiken‹ gegenübersteht, ist eine für die vorliegende Arbeit zentrale Idee. In diese Lücke tritt jedoch, wie bereits dargestellt, zumindest teilweise die Literatur mit dem ihr eigenen Wissen« (S. 68).

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Das Ergebnis besteht aus vielen inspirierenden und kreativen Einzeltextanalysen, die in sich selbst einen nahezu märchenhaften Band von »Grenzüberschreitenden Geschichten« in der doppelten Bedeutung des Wortes darstellen: sowohl als Kapitel zu einer Historiographie der Moderne und der Globalisierung, als auch als Erzählungen über Erzählungen.

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Weltgewandtheit

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Den Rahmen bildet bezeichnenderweise ein Märchen über Weltgewandtheit, Macht und Begehren: »Suppe paa en Pølsepind« (»Suppe von einem Wurstspeiler«), das die Arbeit sowohl einleitet als auch auf elegante Weise beschließt: »›Das war alles!‹ sagte das Mäuschen und knickste. ›Alles! Ja, dann wollen wir mal hören, was das nächste zu erzählen hat!‹ sagte der Mäusekönig.« (S. 283). Diese Geste des Knicksens, die abdankt und die Szene dem/r nächsten »Erzähler/in« überlässt, ist charakteristisch für Felchts offenen und dialogischen Ansatz, mit dem sie sich selbstbewusst und bescheiden zugleich in die Forschungsliteratur einschreibt: sowohl in die umfangreiche Sekundärliteratur zu Andersen als auch in die sich gerade entwickelnde globalisierungstheoretische Literaturwissenschaft; mit beiden führt sie einen fortlaufenden (aber gelegentlich allzu ausführlichen) Dialog. Ihr Wissenshorizont und ihre Belesenheit sind beeindruckend, aber es erscheint paradox, dass in einer Arbeit, die auf einer globalen Perspektive insistiert, der deutschen Andersen-Forschung dann doch so viel Aufmerksamkeit gewidmet wird.

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Anti-Anthropozentrik

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Die Dissertation ist vor allem deswegen eine beeindruckende Forschungsleistung, weil niemand zuvor mit vergleichbarer theoretischer Kompetenz und literarischer Sensibilität die Dinge in Andersens Dingmärchen analysiert hat. Felcht setzt sie ganz richtig den ›Zauberdingen‹ der traditionellen Volksmärchen entgegen. Die Dinge in Andersens Kunstmärchen haben einen ganz andersartig konkreten Charakter, sie existieren in einem spezifischen, historisch analysierbaren Kontext, der durch die Globalisierung geprägt ist. Das ist die Hauptthese der Arbeit, und sie wird mit großer Energie und Überzeugungskraft nachgewiesen, trotz einer gelegentlich wenig übersichtlichen Darstellungsform.

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Felcht positioniert sich kritisch gegenüber anthropozentrischen (besonders dänischen) Forschungstraditionen, die die Dingmärchen vor allem allegorisch lesen. Den roten Faden ihrer Darstellung bildet das kritische Potential der Dingmärchen, die den Dualismus von Dingen und Menschen, d.h. die Vorstellung der klaren Grenzen zwischen ihnen, herausfordern. In diesem Punkt folgt sie Klaus Müller-Willes Ansatz, der eine ihrer wichtigsten Inspirationsquellen darstellt: »Müller-Willes Ausführungen zur Definition von Dingen stellen das Potential des Dingbegriffs zu einer Überwindung von Subjekt-Objekt-Dichotomien zugunsten von komplexen Subjekt-Objekt-Relationen heraus« (S. 61). Das Selbst wird zugunsten von Strömungen aufgelöst, Arthur Rimbauds berühmtes Diktum aus dem Jahr 1871 »Je est un autre« wird ersetzt durch: »Ich ist ein Netzwerk« (S. 279).

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Diese Bestrebungen umfassen die Texte selbst, die häufig selbstreflexiv ihre eigene Verdinglichung und ihren Warencharakter ebenso wie ihre Materialität und Vergänglichkeit thematisieren: »Alt gaar i Bøtten« (»Alles ist im Eimer«), wie »Tante Tandpine« (»Tante Zahnschmerz«), einer von Andersens vielen ausgeklügelten ›Narrentexten‹ schließt. Damit liefert der Dichter zum Schluss seines Lebens eine Abrechnung mit dem Programm der Romantik: »Die Prosa der Dinge ist die neue Poesie« (S. 252).

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Das geschlechtslose Subjekt

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Doch Felchts Strategie, ausgewählte Textpassagen an globalisierungstheoretische Ideen zu koppeln, hat ihren Preis. So interessiert sie sich sehr wenig für eventuelle Entwicklungslinien in Andersens Werk, und auch nicht dafür, wie sich seine Texte wechselseitig kommentieren und möglicherweise beleuchten können. Das grausame Märchen über »De røde Skoe« (»Die roten Schuhe«) wird z.B. perspektivenreich und originell mit Fokus auf den globalen Charakter der Schuhe und auf den modernen Warenfetischismus analysiert, der nicht nur die junge eitle und ehrgeizige Karen, sondern auch ihre Umgebung und den Text selbst prägt. Das hat fatale Folgen:

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»Das durch gesellschaftliche Strukturen wie die Warenpräsentation beförderte Begehren, das sich mit den Schuhen verbindet, das Begehren nach sozialem Aufstieg und materiellem Besitz, das Begehren danach, über seine Kleidung als Person wahrgenommen zu werden und das libidinöse Verlangen, das damit verbunden ist, kann nicht verdrängt werden, ohne eine Amputation des Selbst zu fordern. Das autonome Subjekt, das seine Sinnlichkeit der Pflicht absolut unterordnet, ist ein Invalide« (S. 197).

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Die überzeugende Konklusion zeigt jedoch auch die Blindheit gegenüber der Geschlechterproblematik auf, die die Dissertation insgesamt prägt. Nach meiner Auffassung ist es entscheidend, dass es sich bei diesem »Subjekt« um eine geschlechtsreife Frau handelt, denn aktive weibliche Sexualität stellt einen ganz zentralen Schmerzpunkt in Andersens gesamtem Werk dar, nicht zuletzt in einer ganzen Reihe von Dingmärchen.

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Misogynie

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Felcht verfolgt aber nicht die offensichtliche misogyne Thematik des Werks, die deutlich wird, wenn die Heldin der »Schneekönigin« (»Sneedronningen«), Gerda, ihre Unschuld beweist, indem sie ihre (roten!) Schuhe dem Fluss ›opfert‹, während »Das Mädchen, das auf das Brot trat« (»Pigen, som traadte paa Brødet«) und die eitle Karen auf das Grausamste für ihre Eitelkeit bestraft werden – die roten Schuhe kann man als Zeichen für Weiblichkeit (im Allgemeinen) und als weibliche Sexualität im Besonderen deuten (sie implizieren womöglich eine Menstruationssymbolik). Wenn sie darauf bestehen, die Schuhe anzubehalten, müssen sie Leib und Leben büßen. Mehrfach verweisen Felchts Lektüren auf Andersens Autobiographie Das Märchen meines Lebens, jedoch nicht an dieser Stelle, wo die interessante Parallele deutlich wird, dass er selbst bei seiner Konfirmation mehr an seine neuen Stiefel als an Gott dachte. Vielleicht schreibt sich Andersen um in ein ungezogenes Pubertätsmädchen, wenn er sündhafte und/oder sexuelle Gefühle versprachlichen muss?

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Die Dissertation verfolgt nur ansatzweise die Themen Geschlecht und Sexualität in den Dingmärchen, obwohl sie sich als Themen beispielsweise in »Hyrdinden og Skorsteensfeieren« (»Die Hirtin und der Schornsteinfeger«) und nicht zuletzt in »Kjærestefolkene« (»Das Liebespaar«), dessen Misogynie und Sexualangst geradezu handgreiflich werden, regelrecht aufdrängen. Dies ist zum Teil zurückzuführen auf ihren theoretisch motivierten Widerwillen gegenüber anthropozentrischen allegorischen Lesarten, zum Teil aber auch einem Desinteresse geschuldet, das sich in ihrer Reduktion der queer-Lektüren in meinem Buch Hjertebrødre (2005) zeigt, dessen verweisende Lektüren zwischen Werk und Biographie als Biographismus abgetan wird (»die an vielen Stellen biographisch argumentiert«, S. 80).

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Cornucopia mit Kompositionsproblemen

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Der Dissertation mangelt es nicht an guten Einfällen, aber an einer klaren Komposition jenseits einer additiven Reihung. Oftmals steckt der phantastische ›Überschuss‹ der Märchen die Darstellung an, und die Charakteristik des Märchens »Fyrtøiet« (»Das Feuerzeug«) scheint auch für Felchts eigenen Text zu gelten: »Der Text bringt seinen Protagonisten einen Schatz und seiner Leserin eine Erzählung, der großzügig in ihren Details ist und sprüht von Lebendigkeit und der Freude am Exzess« (S. 174). Auch die vorliegende Arbeit bietet an manchen Stellen »zu viel«, was für eine Dissertation weniger schmeichelhaft ist als für ein Märchen.

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Trotzdem liefert Grenzüberschreitende Geschichten ein Füllhorn an wertvollen Beobachtungen, spannenden Kontextualisierungsversuchen und originellen Theorieapplikationen. Mit ihren vielen Digressionen und nahezu verselbständigten Detailanalysen birgt das Buch doch die Gefahr, mehr als Ideenkatalog denn als Dissertation zu fungieren. Gegen Ende flacht die theoretische Perspektive ab, die Textanalysen werden eher zu Paraphrasen, und die Diskussionen mit der Sekundärliteratur werden zu umfangreich. Der Text hätte mit Gewinn noch einmal überarbeitet werden können, und die Übersichtlichkeit und der praktische Nutzen hätten durch ein Register oder einen Index beträchtlich gewonnen. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass nichts in H.C. Andersens Dingmärchen nach dieser Dissertation noch ganz dasselbe ist.