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Einfühlsame Blicke - Künstlerische Darstellungen 'scheiternder' Körper als Herausforderung normativer Seh- und Abbildungskonventionen

  • Jules Sturm: Bodies We Fail. Productive Embodiments of Imperfection. (Culture and Theory) Bielefeld: transcript 2014. 200 S. 20 Abb. Kartoniert. EUR (D) 29,99.
    ISBN: 978-3837626094.
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Welche Rolle spielt die Darstellung von Körpern, die den gesellschaftlichen Normen von Schönheit und Gesundheit nicht entsprechen, für die Konstitution des Verhältnisses von Körper und Identität? Dieser Frage widmet sich Jules Sturm in ihrer Monographie zu Repräsentationen körperlich, gesellschaftlich und kulturell ›beschränkter‹ Körper in ganz unterschiedlichen Werken aus Kunst und Literatur, die Verkörperungen kultureller Normen problematisieren. Ausgehend von dem Begriff des ›produktiven Scheiterns‹ beleuchtet Sturm in dieser kompakten und gut lesbaren Studie verschiedene Aspekte der Darstellung und Wirkung von Unvollkommenheit in künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Körper: von der Darstellung sexueller Deviation in Djuna Barnes’ Roman Nightwood im Vergleich zum Monster der gothic fiction (Kapitel 1); der Wirkung von Verletzlichkeit in der Darstellung körperlicher Behinderung in dem Dokumentarfilm augen blicke N von Gitta Gsell/Gesa Ziemer und Marc Quinns Skulptur Alison Lapper Pregnant (Kapitel 2); über Darstellungen des Selbst in Porträts von Claude Cahun, Miquel Barceló und Del LaGrace Volcano (Kapitel 3); zur Bedeutung von Abwesenheit im Werk Robert Mapplethorpes (Kapitel 4); und der Darstellung von Alter in den Fotografien von Antony Crossfield und John Coplans, und Skulpturen von Robert Gober (Kapitel 5). Anhand dieser vielfältigen Auswahl erarbeitet Sturm nicht nur verschiedene Bedeutungsdimensionen der körperlichen Selbst- und Fremdwahrnehmung, die instruktiv sind für das Lesen von Darstellungen ›anderer‹ Körper in Kunst und Literatur, sie identifiziert auch eine ganz eigene Ästhetik, die aus einer einfühlenden Annäherung an diese Körper entsteht.

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Monstrosität und Verletzlichkeit als produktive Kategorien des Sehens

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Die westliche Denktradition ist, wie Sturm zu Anfang beschreibt, eine dominant somatophobe. So wurde der Körper, spätestens im Zuge der cartesianischen Philosophie, vor allem negativ als Hindernis rationaler Erkenntnis verstanden, was sich erst durch das Postulat einer »intricate and irreducible connection between the constitution of the subject and the body« (S. 19) durch phänomenologische und psychoanalytische Ansätze langsam zu ändern begann. Die Theorien zu Identität und Körperlichkeit von Jacques Lacan, Maurice Merleau-Ponty, Donna Haraway und Judith Butler, auf denen Sturms Arbeit aufbaut, verstehen den Körper als »multiple, unruly and fathomless – embodying an infinity of differences in sexuality, skin color, class, age, ability, and mobility« (S. 20), und somit auch als Schauplatz kultureller Auseinandersetzungen. Entgegen der dominant negativen Konzeption des Scheiterns als Verfehlen vorgegebener Handlungsziele und Normen, schlägt Sturm eine Umdeutung im Sinne von Kaja Silvermans Begriff des »good enough« (S. 22) vor, mit dem die binäre Opposition zwischen körperlicher Idealität und dem Abjekten überwunden werden soll, weil das Ideal stets nur annäherungsweise angestrebt werden könne, während gleichzeitig jeder an Aspekten desselben teilhabe. Dieses Verständnis relativiere nicht nur die Bedeutung körperlicher Ideale, sondern Scheitern werde gleichzeitig als Voraussetzung für die Entstehung neuer Ansichten und Sichtweisen verstanden. Dadurch bieten für Sturm selbst dominant negativ konnotierte Begriffe wie ›Monstrosität‹ und ›Altern‹ immer das Potential einer Neuverhandlung der Beziehungen von Identität, Körperlichkeit und kulturellen Normen zueinander:

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These concepts do not merely describe the failure of certain bodies to fulfill corporeal standards, but they also bring to the fore how these standards, and the culture at large fail certain bodies and subjects; how failed bodies become failed selves and failed humans, and how they become outsiders, queers and monsters. (S. 23)
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In Robin Vote, einer Figur aus Djuna Barnes’ Nightwood (1936), sieht Sturm ein solches Wesen, das sich immer wieder den gängigen Beschreibungskategorien wie Sexualität, Geschlecht und Alter entzieht, anhand derer, laut Butler, dem Individuum sein Platz in der Gesellschaft zugewiesen wird. Mithilfe von Butlers Konzept der sprachlichen Performativität und Judith/Jack Halberstams Betrachtungen zum gothic monster, zeigt Sturm, wie Robin gerade durch ihre Unterdeterminiertheit und Ambivalenz die anderen Figuren in ihren Bann zieht und die Leserin affiziert: Durch das wiederholte Scheitern ihrer Versuche der Sinnstiftung und Kohärenzbildung rückt schließlich die Konstruktion körperlicher Normen selbst als monströs in den Vordergrund.

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An diese These schließt auch das folgende Kapitel an, in dem sich Sturm dem Dokumentarfilm augen blicke N (2005) von Gitta Gsell und Gesa Ziemer und Marc Quinns Skulptur Alison Lapper Pregnant (2005) widmet, die sie im Sinne einer »Ästhetik der Verletzbarkeit« (S. 58) liest. In ihren Betrachtungen zu augen blicke N, einem Film, der fünf TänzerInnen und PerformancekünstlerInnen begleitet, die ihre ›ungewöhnlichen‹ Körper und deren Wahrnehmung durch andere ins Zentrum ihrer Choreographien stellen, geht Sturm zunächst auf die Beziehung zwischen der Erfahrung von Verletzlichkeit und dem Blick des Anderen ein.

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Da die konventionelle Blickrichtung nach außen blind für die eigene Körperlichkeit macht, konstituiere sich das Selbst, so die These, vor allem durch das Sehen des Anderen und das Gesehenwerden durch den Anderen. Letzteres berge für das Selbst immer einen Moment der Blöße und Verletzbarkeit. Doch während das objektivierende Betrachten von behinderten und versehrten Körpern im Sinne dessen, was Jacques Lacan als »gaze« bezeichnet, Distanz schafft und die Betrachterin über die vermeintliche Andersartigkeit des Gesehenen erhebt, zeichnen sich die Werke, die hier untersucht werden, dadurch aus, dass sie eine andere Sichtweise ermöglichen bzw. erfordern: Durch die aktive Präsentation ihres Körpers und der Erfahrung ihrer Behinderung lösen die Darsteller in augen blicke N im Zuschauer das Gefühl geteilten Erlebens von körperlicher Verletzbarkeit aus. Diese Identifikation in Form eines »vulnerably looking« (S. 55) richte die Aufmerksamkeit auf das prekäre Moment des Betrachtens selbst, das die Verletzbarkeit jedes – auch des eigenen – Körpers offenbare. Ganz im Gegensatz zu diesem Appell an eine existentielle Verletzlichkeit stellt Marc Quinn in seiner Marmorskulptur, die auf einer Säule im Trafalgar Square ausgestellt wurde, die schwangere körperbehinderte Alison Lapper in einer heroischen Pose dar, die gerade deshalb ermächtigend wirkt, weil sie mitleidigen Blicken auf Behinderung eine Abfuhr erteilt. Gleichzeitig konfrontiert, wie Sturm unter Rückgriff auf Mieke Bals Begriff der double exposure zeigt, der Akt der Zurschaustellung in diesen Werken den Zuschauer mit seiner eigenen Involviertheit in Diskursen des Othering.

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Narzissmus und Identitätsverlust im ›queeren‹ Selbstporträt

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In ihrer vergleichenden Analyse von Claude Cahuns Selbstporträt Que me veux-tu?, eine aus dem Jahr 1929 stammende Schwarz-Weiß-Fotografie, die zwei an der Schulter zusammengewachsene ›Zwillinge‹ zeigt, und Miquel Barcelós Gemälde Double Portrait von 1995, untersucht Sturm, wie diese Bilder den Anspruch des Porträts, Subjektivität abzubilden, dekonstruieren. Sie versteht das Selbstporträt dabei weniger als Versuch der Darstellung des Selbst, denn als Forderung des Subjekts nach sozialer Anerkennung, als »form of representation that calls for recognition by the viewer, a form of address that calls on the other to recognize the portrayed, to hail the depicted subject into social existence« (S. 87). Hier rückt Narziss als Denkfigur bei Lacan, der die Spaltung des Selbst in inneres Erleben und veräußertes Körperbild hervorhebt, und Merleau-Pontys Konzept der »intercorporeity« (S. 94), der Erfahrung geteilten Körperlichkeit durch den Kontakt von Innen und Außen, ins Zentrum von Sturms Überlegungen.

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Die Verdoppelung des Selbst und die gleichzeitige Abwesenheit von Identitätsmarkern wie Alter, Geschlecht und ethnische Herkunft in beiden Bildern thematisiere demnach, so das Argument, den schwierigen Prozess der Subjektbildung des (queeren) Selbst ›im Spiegel‹ heteronormativer Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität. Diese Problematik wird in Del LaGrace Volcanos Andro Del (Gender Optional) aus dem Jahr 2000 wiederum durch die Darstellung des Gender ambigen Subjekts im Sinne medizinischer Fotografien des neunzehnten Jahrhunderts verhandelt. Der starre und zugleich herausfordernde Blick des nackten, zur Maske erstarrten Modells vor einem gerasterten Hintergrund rückt die Unmenschlichkeit des pathologisierenden ›medical gaze‹ selbst in den Vordergrund und wirft den kritischen Blick des Betrachteten auf die Betrachterin zurück. Wie Sturm überzeugend darstellt, bedienen sich diese Künstler des Selbstporträts, um zu zeigen, dass sich Subjektivität immer schon jenseits der Darstellungskonventionen desselben konstituiere.

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Vernachlässigte Körper im (Zerr)Spiegel

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Beginnend mit der Tanzperformance Mapplethorpe (2002) des Tänzers Ismael Ivo setzt sich Sturm mit der Arbeit des 1989 am HIV-Virus verstorbenen Fotografen Robert Mapplethorpe, der vor allem für seine erotischen Aktfotos bekannt ist, auseinander. Besonders interessiert sie hier erstens die Assoziierung von Fotografie und Tod, die sich aus der Fixierung des Flüchtigen ergibt, zweitens das im Bild Abwesende, sowie schließlich der Prozess der Bildwerdung, der immer ein Stück Verlust von Subjektivität bedeute (vgl. S. 122). Das Betreten des Zuschauerraums vor Ivos Vorstellung wird von den Klickgeräuschen eines Auslösers begleitet, die den Zuschauer auf die Situation des Betrachtens aufmerksam mache, und ihn dabei selbst als dem objektivierenden Blick ausgesetzt ausweist. Der Körper des schwarzen Tänzers, der stets nur in Teilen sichtbar ist, illustriere die doppelte Verzerrung des ›racial other‹ in visuellen Darstellungen:

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In Mapplethorpe, Ivo thematizes the problematic of those bodies that have been underrepresented yet at the same time visually exploited (e.g., in colonialist and ethnographic studies of racially othered persons): bodies that have been overlooked. (S. 121).
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Tatsächlich wurden Mapplethorpes Blick auf Afroamerikaner in seinen Aktfotos oft selbst als objektivierend und rassistisch bezeichnet. Sturm versucht diesen Vorwurf zumindest teilweise zu entkräften, indem sie anhand der Fotografie Ken Moody (1985) zeigt, wie hier der »gaze of Western hegemonic ideology« (S. 147) durch den im wahrsten Wortsinn selbstbewussten Blick des Betrachteten entlarvt wird. Gerade an diesem durchaus ambivalenten Beispiel macht sie deutlich, worin der Unterschied zwischen einer objektivierenden Darstellung des ›Anderen‹ und einer Problematisierung des Othering liegt. Denn beim Betrachten von Moodys Körper, dessen ›Farbigkeit‹ tatsächlich erst in der Wahrnehmung des Betrachters entsteht, sieht sich dieser selbst durch den direkten Blick des Models permanent mit seiner eigenen Position konfrontiert.

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Das fünfte und letzte Kapitel widmet sich Repräsentationen des Alterns. Sturm vergleicht hier die Darstellung des Körpers in einigen Arbeiten aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert mit zeitgenössischen Arbeiten von Antony Crossfield, John Coplans und Robert Gober, die sich mit der Erfahrung des Alterns und die Sicht darauf beschäftigen. Die Arbeiten von Crossfield kombinieren jeweils zwei Körper von Männern mittleren Alters dergestalt, dass diese miteinander zu verschmelzen scheinen. Mit Narcissus (2008) kehrt Sturm zur Figur des Narziss und Lacans Konzept des Spiegelstadiums zurück, die sie nun im Bezug auf das Altern neu interpretiert. Während das Erkennen des eigenen Spiegelbildes für das Kind die zunehmende Identifikation mit seinem äußeren Erscheinungsbild gegenüber dem Körpererleben erlaube, identifiziere sich der alternde Mensch tendenziell immer weniger mit seinem Spiegelbild – »the subject‘s changing body […] in time outgrows the once-defined mirrored body-image« (S. 151). Sturm bezeichnet dieses Gefühl der Entfremdung gegenüber dem Spiegelbild, das sich auch im Titel von Crossfields Reihe Foreign Body (2005–09) ausdrückt, mit dem Begriff der »reverse mirror phase« (S. 152). Den Schlüssel zu einer positiven Neubewertung der scheiternden Identifikation mit dem Spiegelbild sieht Sturm in der Intimität zwischen Körpern, wie sie etwa Crossfields Fotografien heraufbeschwören: Im Gegensatz zur Reflexion des Subjekts im ›kalten‹ Spiegel, eröffnet das Bild, das andere Menschen von ihm zurückwerfen, eine Möglichkeit der Identifikation mit sich selbst, die das rein physische Abbild überwindet.

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Diese These strukturiert dann auch die folgende Lektüre von Robert Gobers Skulptur Untitled (1990), einem sackartigen Torso, der scheinbar eine weibliche und eine männliche Hälfte miteinander verbindet. Dieses Verschmelzen zweier Subjekte in einem Körper, so Sturm, versinnbildliche die Verschränkung von Selbstwahrnehmung und Interaktion mit anderen Körpern. Der gleiche Torso findet sich später in Untitled (1999) buchstäblich in eine Kiste gezwängt, an deren starre Form sich der ›Körper‹ angepasst zu haben scheint. Für Sturm zeichnen sich die Arbeiten von Crossfield und Gober dadurch aus, dass sie die Unfähigkeit des Spiegels, alternde Körper positiv zu reflektieren, produktiv umdeuten: »Mirroring aging bodies in a productive way […] involves expanding the mirror‘s scope and transmitting its promises to other objects and embodied subjects« (S. 181). Indem sie die Eigenschaften des Spiegels betont, die für eine Verzerrung des reflektierten Körpers sorgen – »blind spots; limited perspective; framed, arrested, and doubled vision; dazzling reflection; [...] color- and light-specific imaging« (S. 186) – stellt Sturm die Aussagekraft des Spiegelbilds und des normativen Sehens insgesamt in Frage und tritt für andere, einfühlsame Formen der Darstellung und Wahrnehmung unvollkommener Körper ein.

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Fazit

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Mit seinem Fokus auf das transformative Potential von künstlerischen Darstellungen körperlicher Unvollkommenheit leistet Bodies We Fail einen wichtigen Beitrag zu den Bereichen Visual Cultures, Gender Studies und Disability Studies. Insbesondere Sturms Konzepte des Scheiterns als produktive Kategorie und der »reverse mirror stage« sind ebenso innovativ wie interdisziplinär anschlussfähig. Immer eng am Material arbeitend, gelingt es Sturm, verschiedene Dimensionen der Alterität und deren künstlerische Fruchtbarmachung positiv zu beschreiben und konsequent jeder Form der Betroffenheitsrhetorik zu entgehen. Als einzige Kritikpunkte zu nennen sind, erstens, dass sich die Studie auf Kunstwerke aus den Zwischenkriegsjahren und solche, die in den letzten dreißig Jahren entstanden sind, konzentriert, ohne dass diese Auswahl und die bezeichnende Auslassung der Zeit zwischen 1935 und 1985 ausreichend begründet würde. Zweitens lässt das letzte Kapitel ein wenig an der Sorgfalt in der Auseinandersetzung mit den einzelnen vorgestellten Werken vermissen, die die restliche Arbeit auszeichnet – so tummeln sich auf den letzten Seiten mehrere Werke, die kaum analysiert werden und deren Bedeutung für das Argument nicht immer offensichtlich ist. Insgesamt gelingt es Sturm dennoch auf beeindruckende Art und Weise die politischen Implikationen der künstlerischen Darstellung von Körperlichkeit und körperlicher Unvollkommenheit aufzuzeigen.