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Ungeregelter Literaturverkehr

  • Julia Frohn: Literaturaustausch im geteilten Deutschland: 1945-1972. Berlin: Christoph Links 2014. 496 S. Broschiert. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-86153-807-3.
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Schon aus der Einleitung des Buches ist zu ersehen, dass das keine einfache Geschichte sein wird. Austausch und Teilung sind zwei gegenläufige Prozesse, die sich nicht synchron beschreiben lassen. Soll man »die Teile als Ganzes sehen«, das vom Austausch notdürftig zusammengehalten wird? Soll man die Möglichkeiten und Wirkungen des Austauschs auf jeweils einer Seite untersuchen, also das Ganze in seinen Teilen darstellen? Julia Frohn stößt bei solchen Überlegungen unvermeidlich auf die »disparaten kulturpolitischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Buchproduktion und den Handel mit Druckwaren in beiden Teilen Deutschlands«, und dazu noch auf innere Widersprüche zwischen Kulturpolitik und Wirtschaft. Da sich auch die Analyse der Buch-Inhalte nicht vermeiden lässt, wird zugleich das methodisch unübersichtliche Gebiet der Literaturgeschichte betreten. Alles aber soll auf der gründlichen Erforschung der Archive und auf Auskünften von Zeitzeugen aufbauen, wobei politisch besetzte Begriffe aus der damaligen Konfrontation als solche zu erkennen sind. Die Arbeit beginnt mit dem Kriegsende und führt bis 1972, dem Jahr des Grundlagenvertrages zwischen beiden deutschen Staaten und damit dem Ende eines »gesetzlichen Schwebezustandes«. Ein spannender Versuch in objektivierender Geschichtsschreibung kündigt sich so an.

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Diesseits von jenseits

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Das erste Kapitel mit der Überschrift »Ein Buchmarkt trennt sich« gibt eine historische Übersicht. Wie entwickelte sich der Buchmarkt in Deutschland seit dem alliierten Publikationsverbot im Frühjahr 1945, seit der Aufteilung des verbliebenen Territoriums in Besatzungszonen und der Entstehung grundsätzlich verschiedener Verlags- und Buchhandelssysteme beiderseits der Elbe? Nach einem Blick auf die Übergangsphase zwischen 1945 und 1949, einer Zeit der Einheits-Illusionen und der improvisierten Kontakte zwischen Ost und West, aber auch einer Zeit des beginnenden Ost-West-Konflikts in der Weltpolitik, folgt die Verfasserin dem Weg der separaten Darstellung von unterschiedlichen Entwicklungen im Verlagswesen der Bundesrepublik einerseits, der Deutschen Demokratischen Republik andererseits. Sie führen schnell zu erheblichen Markthindernissen im beiderseitigen Verkehr. Zudem ist das Tempo der Modernisierung in der Buchproduktion und Absatzpolitik sehr verschieden. Trotzdem (oder gerade deshalb) erhält sich auf beiden Seiten, wenn auch aus verschiedenen Gründen, das Interesse an einem beschränkten Literaturaustausch. Mit der genauen Beschreibung dieses »Direktaustauschs von Druckwaren« greift die Verfasserin zunächst noch einmal zeitlich zurück auf den Interzonenhandel, der mit der Währungsreform von 1948 vor neuen Problemen steht, sie beschreibt die Verfahren danach und speziell den innerdeutschen Handel mit schöner Literatur, der ab 1955 offiziell in Gang kommt und nun das Generalthema bildet. Ein besonderer Abschnitt gilt der damit verbundenen Buchzensur – auf beiden Seiten. Was taten die Verlage, um trotzdem zusammen zu arbeiten? Im Osten bemühte sich der Aufbau-Verlag um »progressive« Autoren aus Westdeutschland, aber Devisenmangel und die kulturpolitische Linie vor 1961 beschränkten solche Initiativen. Im Westen dagegen sorgten Absatzbedenken, Vorurteile und auch Unkenntnis für ein geringes Aufkommen an ostdeutscher Literatur – umso interessanter sind die von Julia Frohn berichteten Ausnahmen. Sie betreffen nicht nur Publikationen des Emigranten Hans Mayer im Westen, sondern auch Bücher des schon im ›Dritten Reich‹ hochgeschätzten Hans Franck im Osten.

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Eine eher trübe Geschichte in dieser Zeit sind die zahlreichen Versuche, die Idee der Einheit von Literatur in grenzüberschreitenden Anthologien zu demonstrieren. Entweder scheitern sie an Einsprüchen von Ämtern und Beteiligten, oder sie führen zu unverbindlichen Sammlungen, wie die Gemeinschaftsausgabe des Kreuz-Verlags in Stuttgart und des Mitteldeutschen Verlages in Halle an der Saale, die unter dem Titel »Deutsche Stimmen 1956« erscheint, vorgebliche Frucht von Gesprächen über die »unsinnigste Grenze Europas«. Interessanter sind die gescheiterten Projekte, sie verweisen auf ein latentes Interesse einzelner Verlage.

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Neben diesen durch Zahlungsprobleme, Zensurmaßnahmen und Produktionsschwierigkeiten eingeschränkten Handelsbeziehungen entwickelt sich, nach 1945 zögernd, nach dem Mauerbau von 1961 aber verstärkt der immaterielle Literaturaustausch durch Lizenzverträge zwischen west- und ostdeutschen Verlagen und durch wechselseitige Vergaben von Autorenrechten im Direktverkehr. Berühmt (und nicht wiederholt) ist die fünffache Lizenzvergabe des Aufbau-Verlages von Plieviers »Stalingrad« an alle westdeutschen Besatzungszonen und an Österreich zwischen 1946 und 1948. Der Entwurf eines solchen Lizenzvertrages aus dem Jahre 1949 wird vorgeführt. Die durchaus unterschiedlichen Interessen der Beteiligten wie die entstehenden administrativen und monetären Probleme des Verfahrens werden für die BRD wie für die DDR getrennt beschrieben. (Der Leser bemerkt spätestens jetzt, dass die thematische Gliederung immer wieder chronologische Rückgriffe und Paralleldarstellungen verlangt.)

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In zwei Hauptkapiteln widmet sich die Verfasserin dann einer reziproken Untersuchung dessen, was Literaturaustausch für die beiden deutschen Staaten bedeutet: »Westdeutsche Literatur in der DDR« und »Ostdeutsche Literatur in der BRD«. Um einer handbuchartigen Formatausweitung zu entgehen (wie sie etwa im Rahmen des Großprojekts »Geschichte des deutschen Buchhandels im 20. Jahrhundert« noch zu erwarten ist), beschränkt sich Julia Frohn hier auf exemplarische Fallgeschichten. Sie haben den Vorteil historischer Anschaulichkeit und quellengestützter Detailierung. Gelegentlich spiegeln sich die Ereignisse: Während im DDR-Kapitel die »Lizenzgeschäfte zwischen Aufbau-Verlag und Suhrkamp Verlag am Beispiel Hermann Hesse« den ostdeutschen Verlag als Akteur des Austauschs zeigen, erscheint im BRD-Kapitel die Position des Suhrkamp Verlages in seinem Verhältnis zum Aufbau-Verlag. Ein besonderer Exkurs gilt den in beiden Staaten namensgleich firmierenden »Parallelverlagen« wie Brockhaus, Reclam oder Insel, die ein beträchtliches Streitpotential bereithalten. Während die privaten Neugründungen im Westen auf ihren alten Rechten bestehen und diese direkt oder über den Börsenverein geltend machen, betrachtet man die eingeführten Namen im Osten als »nationales Erbe«, auch wenn die Verlage nun in Regie geführt werden.

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Die Auswahl der Fälle erfolgt offensichtlich nicht nach dem Grad ihrer allgemeinen Bedeutung, sondern nach der Belegbarkeit und Aussagekraft im Einzelfall. So taucht das Problem bilateraler Brecht-Ausgaben (mit dem Hauptvertragspartner Suhrkamp im Westen!) an mehreren Stellen auf, kulminierend in der Ankündigung einer einseitigen Werkausgabe durch Suhrkamp von 1967, die zudem noch zu einer Auseinandersetzung mit dem Frankfurter Börsenblatt führt, das die Angabe ›DDR‹ in ›Ostdeutschland‹ umgeändert hatte. Dafür wird einem nebenrangigen DDR-Unternehmen wie dem Verlag der Nation mit seinen West-Beziehungen ein ganzer Abschnitt eingeräumt. Das BRD-Kapitel wiederum überrascht sicher manchen jüngeren Leser durch die vielfältigen Komplikationen, die hier mit dem Erscheinen ostdeutscher Literatur verbunden waren: Von der »Ballonaffäre« des Rowohlt Verlages bis zur Verfolgung des Verlegers Willi Weismann durch die bayerischen Behörden.

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Der Umgang zwischen Autoren, Verlagsleuten und Institutionen vollzieht sich zu dieser Zeit im ständigen Bewusstsein eines Systemkonflikts. »Enthüllungsbücher« und Schlüsselromane belasten die Beziehungen ebenso, wie die Inhaftierung des DDR-Verlagsleiters und Schriftstellers Günther Hofé in der Bundesrepublik im Herbst 1963. DDR-finanzierte Scheinverlage in der Bundesrepublik bewegen sich in einem halblegalen Raum. Klaus Wagenbachs Idee eines Ost-West-Verlages endet im Streit über Wolf Biermann mit einem Einreiseverbot und anschließendem Durchreiseverbot der DDR für den Verleger. Das alles sind Anlässe für spezielle Untersuchungen der Autorin. Sie lässt dabei keinen Zweifel an den Belastungen, verweist aber auch auf ein Netz persönlicher und ziemlich zuverlässiger Beziehungen, das die konkrete Zusammenarbeit trotzdem ermöglicht, so im Exkurs über den Luchterhand Verlag und die Lektorin Elisabeth Borchers, die von Anna Seghers als ihre »echte Betreuerin« bezeichnet wurde. An Einzelfällen des grenzüberschreitenden Literaturverkehrs – Martin Walser im Osten, Johannes Bobrowski im Westen – wird dessen Bedeutung für die Publikationsgeschichte von Autoren deutlich gemacht. Sie würde nach 1972 noch wachsen.

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Am Ende des Buches folgt ein »Glossar«, das in Wirklichkeit ein Anhang zur Organisationsgeschichte ist, von »Börsenverein« bis »Westkommission« in oft mehrseitigen Beiträgen. So erfährt der Leser auf acht Seiten neue Details zur Überwachung des Literaturverkehrs im Osten unter dem Stichwort »Ministerium für Staatssicherheit (MfS)«, wozu die seit 1990 offenliegende »internen« Quellen gedient haben, und wird zugleich auf die Zugangs-Beschränkungen hingewiesen, die einer ähnlich ungenierten Erforschung westlicher Geheimdienst-Aktivitäten entgegen steht. Unter dem administrativen Schein eines »Büros für Urheberrechte« oder dem Pathos-Titel eines »Kuratoriums Unteilbares Deutschland« erkennt er einflussreiche Kräfte auf beiden Seiten. Abkürzungsverzeichnis, Literatur- und Quellenverzeichnisse (einschließlich der relevanten Gesetzestexte) und ein Personenregister beschließen den Band.

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Bipolare Buchgeschichte

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Die Darstellung disparater Prozesse mit ihren Hindernissen und Rückschlägen, die Untersuchung von Verständigungsvorgängen in einem Konfrontationsmilieu und die Analyse einander bedingender ökonomischer, währungs- und kulturpolitischer Entwicklungen unter asymmetrischen Verhältnissen stellen die Geschichtsschreibung vor beträchtliche Schwierigkeiten. Ein Systemvergleich ist fast unmöglich, wenn Produktions- wie Rezeptionsbedingungen so erheblich differieren: Man denke nur an die unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen im Buchgewerbe, oder an die unterschiedlichen Lesegewohnheiten des Publikums. 1 Zudem ist die Lage der literarischen Intelligenz in den beiden ungleich großen Territorien nicht dieselbe, die später einsetzende Migrationsbewegung von Schriftstellern von Ost nach West sollte das deutlich genug machen. In der hier behandelten Periode fehlt es zudem an wechselseitiger Wahrnehmung: Weder versteht man im Westen die innermarxistische Opposition der fünfziger Jahre in der DDR, noch findet die westdeutsche Studentenbewegung ein Jahrzehnt später ein nennenswertes Echo im Osten. 2 In ihrer Schlussbetrachtung betont Julia Frohn schließlich noch einmal die Verschärfung, die der Konflikt der Siegermächte in den Verkehr zweier Staatengebilde mit eingeschränkter Souveränität hineintrug, und die damit einhergehende Zerstörung aller Einheitsillusionen aus der ersten Nachkriegszeit. Das betrifft vor allem die organisierte Umsiedlung von Verlagen nach Wiesbaden, die beim Abzug der US-Truppen aus Leipzig im Jahre 1945 stattfand. Umso wichtiger erwies sich, wie die Verfasserin zeigt, die Personalisierung und »Privatisierung« dieses Verkehrs einerseits, und der virtuelle Austausch literarischer Inhalte durch wechselseitige Lizenzvergaben andererseits. Er war schließlich wirkungsvoller, als alle Versuche, das gemeinsame Erbe der Kulturnation in Programmen und Anthologien zu dokumentieren.

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Julia Frohn gelingt es, durch sorgfältig recherchierte Fallgeschichten genauere Einsichten in die Vorgänge auf beiden Seiten zu vermitteln, und gleichzeitig durch deren sinnvolle Anordnung ein bipolares Protokoll des buchgeschichtlichen Prozesses insgesamt zu entwerfen. Zahlreiche, oft umfangreiche Auszüge nicht nur aus Akten, sondern auch aus privaten Korrespondenzen und Aufzeichnungen, sowie Zitate aus Zeugenaussagen, die vor allem in einem Berliner Seminar mit Gästen (darunter dem Rezensenten) im Sommersemester 2007 gewonnen wurden, dokumentieren eine ausgedehnte Quellenforschung. Dabei mag geholfen haben, dass die ursprüngliche Dissertation an einem Institut für deutsche Literatur entstand (Prof. Berbig, Berlin), als Zweitgutachter und Berater in DDR-Angelegenheiten aber ein Buchwissenschaftler fungierte (Prof. Lokatis, Leipzig). Dadurch war die Verfasserin mit der aktuellen Methodendiskussion in beiden Fächern vertraut, ohne sich aber gezwungen zu sehen, den vorherrschenden Mustern zu folgen. Dass sie auf diese Weise jeder Ideologisierung entgeht, ist fast zwei Generationen nach der Teilung immer noch einer Feststellung wert, und auch, dass die Veröffentlichung der Arbeit Unterstützung durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur erfahren hat, ist nicht selbstverständlich. Musterhaft ist der Respekt, mit dem die Verfasserin vom Jahrgang 1984 den historischen Ereignissen und damit der geschehenen Geschichte begegnet. Statt sich in Theorien zu verlieren, sammelt und organisiert sie ihr Material. Und dieses Material spricht, so schreibt sie schon in der Einleitung, »derart stark für sich selbst, dass der Leser aufgefordert ist, sich anhand des Dargestellten sein eigenes Urteil zu bilden.« Das sollte auch für künftige Arbeiten über die zweite Periode des Austauschs von 1972 bis 1990 gelten.

 
 

Anmerkungen

Siehe Mark Lehmstedt: Im Dickicht hinter der Mauer – der Leser, in: Siegfried Lokatis/Ingrid Sonntag (Hg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur. Berlin: Links 2008, S. 11–23   zurück
Siehe Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000. Leipzig: Faber & Faber 2001, S. 135–143 und S. 255–261.   zurück