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Schriftstellerinterviews

Grenzgänge zwischen Werk und Paratext

  • Torsten Hoffmann / Gerhard Kaiser (Hg.): Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb. Paderborn: Wilhelm Fink 2014. 440 S. EUR (D) 59,00.
    ISBN: 978-3-7705-5772-1.
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»Dass wir in einer Interviewgesellschaft leben, zeigt sich schon lange auch im Literaturbetrieb« (S. 10), konstatieren die Herausgeber Torsten Hoffmann und Gerhard Kaiser in der Einleitung des 2014 erschienenen Sammelbandes Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb. Nach ihrer Etablierung um 1860 sei die verhältnismäßig junge Textsorte zu einem zentralen Element im Literaturbetrieb avanciert. Anders als in den Sozial- und Geschichtswissenschaften mit ihren differenzierten Techniken der Interviewanalyse sei das Interview jedoch von der Literaturwissenschaft bisher nur wenig beachtet worden. Oft nur als Paratext oder Ergänzung zum ›eigentlichen‹ literarischen Werk begriffen, gelte es als wenig komplex. Eine solch pauschale Abwertung steht für die Herausgeber aber nicht nur im Gegensatz zu der enormen Präsenz des Interviews im Literaturbetrieb, sondern verstellt auch den Blick auf den großen Variantenreichtum der Textsorte in ihrer historischen Entwicklung. Sich diesem Desiderat historisch und systematisch anzunehmen und zu erörtern, inwieweit das Interview für die Literaturwissenschaft produktiv gemacht werden kann, ist das Anliegen des Sammelbandes, dessen Beiträge auf die gleichnamige Tagung im Frankfurter Literaturhaus vom 26. bis zum 28. September 2012 zurückgehen.

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Das Interview als hybrides Genre

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Im Zentrum des Sammelbandes steht die Erforschung des Interviews aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, und zwar mit besonderem Fokus auf dem ›Schriftstellerinterview‹ (auch ›Autoreninterview‹). Hierunter verstehen die Herausgeber, wie sie in der Einleitung ausführen, »Dialoge […], die entweder vor Publikum oder für eine (nachträgliche) Veröffentlichung bzw. Sendung geführt werden und an denen mindestens ein Schriftsteller beteiligt ist« (S. 15). Eine kategoriale Unterscheidung von Gespräch und Interview, wie sie unter anderem Gérard Genette vornimmt, wird von den Herausgebern mit Blick auf die fehlende Trennschärfe der Begriffe und ihre oftmals synonyme Verwendung in der Praxis zurückgewiesen. 1

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Näherhin wird das Schriftstellerinterview als ein »nachhaltig wirksamer Bestandteil der performativen, weltanschaulichen und ästhetischen Inszenierungspraktiken von Schriftstellern« (S. 11) charakterisiert. Als solche dienten Schriftstellerinterviews nicht primär der Informationsbeschaffung, sondern seien multifunktional. Drei Funktionen heben die Herausgeber hervor: Erstens komme dem Schriftstellerinterview eine werkpolitische Funktion zu; es präge das zeitgenössische Bild des Autors und beeinflusse die Rezeption (und Interpretation) der Werke. Zweitens erfülle es eine kanonisierende Funktion. Drittens habe das Interview als literarische Textsorte eine ästhetische Funktion.

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Explizit wenden sich die Herausgeber und auch einige der Beitragenden gegen Genettes Klassifizierung des Interviews als Paratext bzw. Epitext. Im Gegensatz zu der bisher vorherrschenden literaturwissenschaftlichen Praxis, welche das Interview in der Folge als »bloßes Beiwerk des Buchs« und »minderwertige, unterkomplexe Textsorte« (S. 12) verstanden hätte, sehen die Herausgeber das Schriftstellerinterview als komplexen und heterogenen Gegenstand »im Grenzbereich von Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft, Kulturwissenschaft, Soziologie und Publizistik/Journalistik« (S. 12). Formal lasse sich das Interview als »hybrides Genre« (S. 12) mit doppelter Autorschaft auffassen, das Elemente des Erzählens, des dramatischen Monologs und der Performance miteinander verbindet. Betont wird dabei auch der mediale Charakter des Interviews, das sowohl bei seiner Aufzeichnung als auch bei seiner Veröffentlichung an ein bestimmtes Medium (Zeitung, Radio, Fernsehen etc.) und dessen spezifische Rahmenbedingungen gebunden ist. Diese Charakteristika, die auch Tonfall, Gestik und Mimik der Gesprächspartner umfassen können, sind – so die Herausgeber – bei einer wissenschaftlichen Analyse der Textsorte zu berücksichtigen, wenn man das Potenzial des Interviews als »Quellenmaterial für die literaturgeschichtliche Forschung« (S. 13) fruchtbar machen will. Der Sammelband leistet einen Beitrag zur systematischen und vor allem historischen Aufarbeitung der unterschiedlichen Konzeptualisierungen und Formtraditionen des Interviews mit Fokus auf den deutschsprachigen Raum.

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Aufbau

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Der Tagungsband gliedert sich in drei Sektionen: 1) Theorie und Kulturgeschichte des Interviews, 2) Schriftstellerinterviews und 3) Interviews in literarischen Texten. Im Folgenden wird, nach einem synoptischen Blick auf die drei Sektionen 2 eine im Band abgedruckte interdisziplinäre Podiumsdiskussion herausgegriffen, anhand derer sich die Spezifika einer literaturwissenschaftlichen Interviewforschung besonders gut diskutieren lassen.

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Theorie und Kulturgeschichte des Interviews

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Die erste Sektion widmet sich der Theorie und Kulturgeschichte des Interviews im Allgemeinen, um vor diesem Hintergrund das Zusammenspiel von Interview und Literatur genauer zu fassen. Historisch wird in diesem Teil vor allem die französische Interviewtradition als prägender Kontext für die Entwicklung des Formats in Deutschland herangezogen. Alle Beitragenden sehen dabei das Fehlen einer umfassenden Geschichte des Interviews als Forschungsdesiderat. Ute Cathrin Gröbel beleuchtet die Geschichte des Interviews Ende des 19. Jahrhunderts anhand einer kritischen Reflexion von Mark Twains bis vor kurzem unpubliziert gebliebenem Essay Concerning the Interview [entstanden 1889/90] und zwei satirischen Interviews von Octave Mirbeau aus den Jahren 1890 und 1896. Dabei kann sie sowohl für den französischsprachigen als auch für den englischsprachigen Raum ein großes Bewusstsein der Schriftsteller für die problematische Authentizität des Interviews und das Ungleichgewicht zwischen Interviewer und Interviewtem aufzeigen. Jens Ruchatz untersucht das Autoreninterview als paradigmatischen Fall des journalistischen Interviews. Dabei geht er von der Beobachtung aus, dass die wenigen Forschungsarbeiten zum Interview sich nur selten mit dem ›Normalfall‹ der journalistischen Gattung befassen, sondern sich vielmehr häufig dem Autoreninterview zuwenden. Klaus Birnstiel befasst sich im Rückgriff auf die Gattungstradition des Interviews und seiner literaturwissenschaftlichen Erforschung mit dem Potenzial, das Interviews mit Autoren gegenwärtig zukommt.

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Schriftstellerinterviews

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Die zweite und bei weitem umfangreichste Sektion legt dann den Fokus auf das Schriftstellerinterview. Untersucht werden seine Geschichte und Typologie sowie seine Gattungsbestimmung in unterschiedlichen historischen Konstellationen. Peer Trilcke, dessen Beitrag den Auftakt der chronologisch geordneten Sektion bildet, liefert eine Einzelstudie zu Christoph Martin Wielands Unterredungen zwischen W** und dem Pfarrer zu *** (1775) und widmet sich damit einem Zeitraum, in dem die Textsorte noch nicht etabliert ist. Wenngleich es sich um ein fiktives Gespräch handelt, komme es in seiner Funktion dem heutigen Schriftstellerinterview sehr nahe. So sei der Text von Wieland durchaus in der Absicht konzipiert worden, beim Publikum für sein Werk zu werben. Einschränkend gibt Trilcke zu bedenken, dass die Unterredungen auch in der Tradition der philosophischen Gesprächskunst stünden und nicht ausschließlich vor dem Hintergrund der Gattung ›Interview‹ zu lesen seien. Anke te Heesen untersucht in ihrem Beitrag die Interviewpraxis um 1900 und ordnet Hermann Bahrs Der Antisemitismus. Ein internationales Interview (1894) in diesen Kontext ein. Durch die Orientierung an der französischen Interviewtradition, die zumeist eine Mischung aus Befragung und atmosphärischer Schilderung des Interviewten und seiner häuslichen Umgebung beinhalte, veranschauliche Bahrs Sammlung eine frühe wechselseitige Indienstnahme von Presse und Sozialforschung. Gleichzeitig verbinde Bahr mit der Textsorte, die sich gerade nicht in einer Transkription des mündlichen Gesprächs erschöpft, auch einen ästhetischen Anspruch. Erich Unglaub widmet sich dem französischen Interviewformat Une heure avec… (1922–1940) von Frédéric Lefèvre, das er als Herausbildung einer neuen Interviewsorte und damit einhergehend als Aufwertung des Interviews als literaturkritische Gattung überhaupt charakterisiert. Der werbestrategische Wert der in dieser Textsorte suggerierten Authentizität sei früh erkannt und genutzt worden – bis hin zu gefälschten Interviews, wie Unglaub im Kontext der dänischen Ausgabe von Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge zeigt: Die Übersetzerin plante, in Dänemark mit einem Interview für die Ausgabe zu werben. Da ein persönliches Treffen nicht möglich war, bat sie Rilke um Erlaubnis, einen befreundeten dänischen Dichter ein fingiertes Interview verfassen zu lassen. Für die »Wahrhaftigkeit des Inhalts« (S. 172) hafte sie Rilke gegenüber natürlich persönlich. So erstaunlich wie die Anfrage ist Rilkes nur zwei Tage später erfolgte Zustimmung zu diesem werkstrategischen Schachzug. Torsten Hoffmann widmet sich der akustischen Dimension des Schriftstellerinterviews und analysiert zunächst zwei frühe Radiointerviews aus der Weimarer Republik: eines zwischen Alfred Mühr und Ernst Toller (2. 2. 1930) und eines zwischen Johannes R. Becher und Gottfried Benn (6. 3. 1930). In diesem hochpolitischen, da nicht im Vorfeld von der Zensur zu belangenden Format, sei ein deutliches Bewusstsein für die Möglichkeiten des Interviews anzutreffen, das sowohl Darlegungen der eigenen Poetologie als auch politische Statements und Positionskämpfe erlaube. Diese Möglichkeiten finden ihren Weg auch in die Literatur: Das dritte Beispiel, auf das Hoffmann eingeht, ist Gottfried Benns fiktionales Interview Können Dichter Die Welt ändern? Rundfunkdialog (1930), das dieser nach seinem misslungenen Radiogespräch mit Ernst Toller verfasste und in welchem er seine eigene poetische Position im Rollenspiel diskutiert. Der geschriebene Text – so Hoffmann – wirke dabei passagenweise ›mündlicher‹ als das tatsächliche Gespräch im Rundfunk wenige Wochen zuvor. Ivo Theele befasst sich mit Hubert Fichtes Interviews, die er als bewusst mit den Konventionen des Genres spielende Grenzwanderungen zwischen Fakt und Fiktion beschreibt. Als solche gehörten sie zu einem der bedeutendsten poetischen Verfahren in Fichtes Gesamtwerk überhaupt. Anja Johannsen widmet sich den gesammelten Interviews von Heinz Ludwig Arnold, die sie als Plattform dichterischer Selbstdarstellung liest. Vergleichend zieht sie die Interviews André Müllers heran, dessen investigative Fragetechnik und Präsenz im Interview ein in vielerlei Hinsicht entgegengesetztes Modell zu Arnold verkörpere. Während Arnold darum bemüht sei, die künstliche Form des Interviews zu überspielen und in ein möglichst natürliches Gespräch zu überführen, thematisiere Müller explizit die Asymmetrie der Gesprächspartner und der Situation. Clemens Götze unternimmt eine systematische Kategorisierung der Interviews von Thomas Bernhard, die er in Analogie zu dessen literarischem Werk in drei Phasen gliedert (1960er, 1970er und 1980er Jahre). Die Interviews Bernhards sind für Götze nicht als untergeordnete Paratexte zu verstehen, sondern müssen als »gleichberechtigte[r] Teil seines Werkes« (S. 240) angesehen und analysiert werden. Jeanine Tuschling widmet sich Elfriede Jelineks Interviews, wobei sie den Fokus vor allem auf die beiden Gespräche der Schriftstellerin mit André Müller legt. Tabea Dörfelt-Mathey geht in einer differenzierten Analyse den Inszenierungspraktiken der medienpräsenten Autorin Charlotte Roche und deren Auswirkung auf die Interpretation ihrer Texte nach. Entgegen der vorherrschenden Praxis lassen sich Roches Texte, so die These Dörfelt-Matheys, nicht auf die autobiographischen Fakten reduzieren; für die Texte selbst sei es nicht von Bedeutung, ob man das ›authentische‹ Erlebnis dahinter kenne. Gerhard Kaiser widmet sich der Stellung des Interviews in Rainald Goetz‘ Gesamtwerk. Eindrücklich zeigt er, wie es dem Schriftsteller gelingt, sich in je unterschiedlichen Rollen zu inszenieren und dabei Deutungslinien für seine Romane vorzugeben.

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Interviews in literarischen Texten

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Die dritte und letzte Sektion widmet sich der Darstellung von Interviews in literarischen Texten. Burkhard Meyer-Sickendiek befasst sich mit der Haltung zum Interview von Julius Settenheim, Karl Kraus und Kurt Tucholsky. Jörg Pottbeckers vergleicht die Interviewdarstellungen in Irmtraud Morgners Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura (1974), Max Frischs Montauk (1975) und Ingeborg Bachmanns Malina (1971). Dabei liegt der Fokus auf der Verknüpfung von Interview und Autofiktion, hier verstanden als Textsorte im Grenzbereich von faktualer Autobiographie und fiktionalem Roman. Misia Sophia Doms analysiert Hans Magnus Enzensbergers fiktionales Interview Diderot und das dunkle Ei (1990) im Rückgriff auf Michail Bachtins Theorie des fremden und eigenen Wortes. Enzensbergers Text liest sie vor diesem Hintergrund als Reflexion auf die Erfindung moderner Speichermedien und den Prozess der Wortenteignung im Interview. Daniel Lutz sieht in den Interviewdarstellungen in Romanen ab dem Jahr 2000, die sich mit dem Thema Wirtschaft befassen, eine funktionale Entwicklung. Während in den früheren Romanen das Interview vor allem aus der Perspektive des interessierten Beobachters als Informationsmittel genutzt wurde, dient es, so Lutz, in neueren Romanen zunehmend einer kritischen Demaskierung des Wirtschaftswesens. Matthias Schaffrick unternimmt eine detaillierte Analyse des Romans Das Wetter von vor 15 Jahren (2006) im Hinblick auf die Charakteristika des Erzählens in Interviewform und insbesondere des Erzählers, den er mit Viktor Žmegač als einen ›transzendentalen Erzähler‹ bestimmt.

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Interviews als Methode und Gegenstand der Forschung

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Die ersten beiden Sektionen werden jeweils durch eine transkribierte Podiumsdiskussion beschlossen, die sich einerseits dem disziplinären Umgang mit Interviews in den einzelnen Wissenschaften (Sektion I) und andererseits der Praxis des Schriftstellerinterviews im heutigen Literaturbetrieb (Sektion II) widmen. An dieser Stelle sei das erste dieser Gespräche herausgegriffen, das vor allem für die von den Herausgebern eingenommene literaturwissenschaftliche Perspektive viele Anknüpfungspunkte bereitstellt.

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Unter der Moderation der Herausgeber diskutierten der Kunsthistoriker Michael Diers, der Soziologe Martin Kuhlmann und die Historikerin Almut Leh die unterschiedlichen Arbeitsweisen mit Interviews im Hinblick auf Disziplinen, in denen der Umgang mit Interviews als bereits etabliert gelten kann. Deutlich werden in diesem Gespräch zum einen die erheblichen Unterschiede im Umgang mit und hinsichtlich des Erkenntnisinteresses an Interviews in verschiedenen benachbarten Disziplinen; zum anderen bietet das Gespräch Anhaltspunkte dafür, wie sich der Blick für die methodischen Herausforderungen eines literaturwissenschaftlichen Umgangs mit Interviews schärfen lässt.

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Gemeinsam ist allen Disziplinen, dass sich das Interview erst relativ spät in der Entwicklung des Faches zu etablieren beginnt. Als soziologische Methode entwickelt es sich zunächst in den USA und hält von dort aus in den 1950er und 1960er Jahren auch in die europäische Soziologie Einzug. Ein Interesse der Kunstwissenschaft an Interviews ist laut Diers seit den späten 1960er Jahren und der in dieser Zeit einsetzenden disziplinären Beschäftigung mit Gegenwartskunst zu verzeichnen. In den Geschichtswissenschaften, so Leh, etabliert sich das Interview als Forschungsmethode in den 1970er und 1980er Jahren in Geschichtswerkstätten, also einem außeruniversitären Rahmen.

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Auffallende Unterschiede bestehen im Ansehen des Interviews und seiner Konzeptualisierung: Während es zu der vielleicht wichtigsten Methode der Soziologie avanciert ist und dort entsprechend ausdifferenziert wurde, habe es in den Geschichtswissenschaften noch keine breite Akzeptanz erlangt und könne nur für den kleinen Teilbereich der Zeitgeschichte Geltung beanspruchen. In der Kunstwissenschaft sei bisher noch überhaupt kein regelgeleitetes Verfahren für den Umgang mit Interviews konzipiert worden. Hinzu kommt für Diers, dass das Interview für die Kunstwissenschaft sowohl Gegenstand als auch Methode sein könne. Seinen Ursprung habe das Künstlerinterview nicht zuletzt bei den Künstlern selbst, die sich in den 1960er Jahren durch gegenseitige Interviews vom kunstjournalistischen System zu emanzipieren suchten. Die zunehmende Popularität des Künstlerinterviews interpretiert Diers als symptomatisch für eine stärkere Gewichtung der Autorität des Künstlers generell. Bei der Beschäftigung mit Gegenwartskunst erwachse daraus eine Deutungskonkurrenz zwischen der Interpretation des Kunstwissenschaftlers und der Selbstauslegung des Künstlers. Selbst im akademischen Rahmen werde dabei die Künstlerintention oftmals als absolute Autorität gehandelt, über die eine wissenschaftliche Interpretation nicht herausreichen könne. Diers plädiert vor diesem Hintergrund für einen reflektierten und kritischen Umgang mit Gegenwartskunst und Künstlerinterviews und fordert eine Rückwendung der Wissenschaft zu einer werkzentrierten (und nicht künstlerzentrierten) Interpretation.

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Ein weiterer symptomatischer Unterschied liegt – wie die Diskussion zeigen kann – im Erkenntnisinteresse, mit dem die einzelnen Wissenschaften an das Interview herantreten. Während es in Soziologie und Geschichtswissenschaft vor allem darum gehe, Strukturen und Regelhaftigkeiten innerhalb bestimmter Gruppen mittels des Interviews aufzudecken, ziele die Kunstwissenschaft auf die »Persönlichkeit des Künstlers« (S. 90). Für letztere ist das Individuelle als solches von Interesse, während im anderen Fall Subjektives nur insofern zur Geltung kommt, als sich daraus gewisse Muster ableiten lassen.

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Arbeiten mit Interviews?

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Dass die skizzierten disziplinären Unterschiede einen jeweils unterschiedlicher Umgang mit Interviews bewirken und auch erfordern, ist naheliegend und lässt die Virulenz der Fragestellung des Sammelbandes hervortreten: Wie lässt sich produktiv mit Interviews umgehen? Welche Verfahren aus anderen Wissenschaften sind fruchtbar und wo überschreitet man, wenn man Methoden aus anderen Disziplinen integriert, womöglich die Grenzen der eigenen Kompetenz? Betreibt man etwa – um das Beispiel von Hoffmann aufzugreifen (vgl. S. 93) – noch Kunstwissenschaft, wenn man aus Interviews mit Künstlern bestimmte ›Künstlertypen‹ ableitet, oder handelt es sich dabei vielmehr um Künstlersoziologie? Dass die Literaturwissenschaft sich mit sehr ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sieht wie die Kunstwissenschaft, legen sowohl die Konzeption des Sammelbandes als auch die einzelnen Beiträge dar. Besonders die immer wieder aufgegriffene Frage nach der Verortung des Interviews im Gesamtwerk eines Schriftstellers veranschaulicht, dass der Stellenwert dieser Textsorte weder im Hinblick auf den Autor noch im Hinblick auf die Literaturwissenschaft geklärt ist und möglicherweise jeweils im Einzelfall eruiert werden muss. In Analogie zu den Beobachtungen von Diers wäre sicherlich auch eine Untersuchung der Frage gewinnbringend, inwiefern es im Zusammenhang mit den schriftstellerischen Inszenierungsstrategien – zumindest für die Gegenwartsliteratur – zu einer Deutungskonkurrenz zwischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler kommt und welche Konsequenzen daraus erwachsen. Aus einer praxeologischen Perspektive wäre näherhin zu analysieren, wie die Literaturwissenschaft konkret mit Interviews umgeht. Wird es etwa bevorzugt affirmativ herangezogen, um eine Interpretationshypothese zu stützen, sind über die Fachgeschichte hinweg unterschiedliche Verwendungsweisen zu beobachten oder lassen sich keine klaren Muster ausmachen?

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Fazit und Ausblick

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Seinem Anspruch, eine erste Sondierung des unterbelichteten Forschungsfeldes ›Interview‹ zu liefern, wird der Sammelband gerecht. Den Autoren der Beiträge gelingt es, einzelne Schlaglichter auf die »erstaunlich vielfältige und weitgehend unentdeckte Literaturgeschichte« (S. 13) der Textsorte zu werfen und ihre Formenvielfalt und Heterogenität in Fallstudien für sehr unterschiedliche Zeiträume aufzuzeigen. Dabei tritt deutlich zutage, dass die kritische Reflexion und der spielerische Umgang mit dem Format nicht erst in den letzten Jahren eingesetzt haben, sondern vielmehr das Interview seit seinem ersten Auftreten begleiten. Es ließe sich sogar aufgrund des versammelten Materials die These wagen, dass gerade in den Anfangszeiten die Möglichkeiten, Anforderungen und Grenzen der ›neuen‹ Textsorte sehr genau beobachtet und reflektiert wurden – nicht zuletzt in parodistischen Überspitzungen.

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Eine umfassende Entwicklungsgeschichte des Schriftstellerinterviews oder auch eine systematische Erörterung des Zusammenspiels von Interview und Literatur kann der Band freilich nicht liefern und beansprucht dies auch nicht; die Fruchtbarkeit seines Ansatzes und die Notwendigkeit einer vertiefenden Erforschung lässt er aber allemal deutlich werden. Weitere Untersuchungen könnten etwa, wie auch die Einleitung der Herausgeber nahelegt, stärker auf die unterschiedlichen Präsentationsformen und Formate des Schriftstellerinterviews eingehen und sie im Hinblick auf ihre jeweiligen Funktionen differenzieren. Auch das in einzelnen Beiträgen thematisierte Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie die Transformationen, die bspw. ein mündlich geführtes Interview bis zu seinem Druck durchläuft, sind Aspekte, die in anknüpfende Studien vertieft werden könnten.

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Anmerkungen

In Seuils (Paratexte) sieht Genette das Interview, das in erster Linie der Popularisierung eines Werkes und seiner Bewerbung diene, vor allem durch standardisierte Fragen und Antworten zwischen ungleich gewichteten Gesprächspartner charakterisiert. Das zeitlich meist später erfolgende und nicht so eng an das Werk gebundene Gespräch sieht er als weniger standardisiert an. Im Idealfall komme es hierbei zu einem echten Dialog zwischen gleichberechtigten Gesprächspartner.Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Übers. von Dieter Hornig. Frankfurt a.M, New York, Paris 1989, bes. S. 343–348.   zurück
Für eine knappe Verhältnisbestimmung der Beiträge vgl. auch die Einleitung der Herausgeber, S. 18–22.   zurück
Diese Rezension ist im Umfeld meiner Dissertation entstanden, die durch den Fonds National de la Recherche Luxemburg (FNR) gefördert wird.   zurück