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Neue »Blicke« auf Wedekinds Lulu-Urfassung

  • Florence Baillet: Le Regard interrogé. Lulu ou la Chair du théâtre. (Littérarures étrangères 3. série Etudes germaniques) Paris: Editions Honoré Champion 2013. 224 S. EUR (D) 35,00.
    ISBN: 978-2-7453-2650-8.
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Wedekind in Frankreich

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Auf den französischen Bühnen erfreut sich das Theater Frank Wedekinds ein Jahrhundert nach dem Ableben des Dichters nach wie vor einer beachtlichen Präsenz. Vor allem Die Büchse der Pandora, Erdgeist und Frühlings Erwachen sind immer wieder auf dem Programm bedeutender französischer Theaterhäuser zu finden. Die Texte seiner wichtigsten Bühnenwerke liegen in mehreren, z. T. vorbildlich übersetzten und edierten Ausgaben in französischer Sprache vor; und sein dramatisches Gesamtwerk ist zudem seit der Jahrtausendwende in einer siebenbändigen Werkausgabe in französischer Sprache komplett verfügbar. Um die universitäre Wedekind-Forschung scheint es hingegen in Frankreich wesentlich schlechter bestellt, wie bereits ein kurzer Blick in den Katalog der Bibliothèque Nationale zeigt. Denn trotz regelmäßig erscheinender Beiträge in Artikelform ist dort, sieht man von vereinzelten Sondernummern einschlägiger Fachzeitschriften ab, keine einzige französische Monographie zu einem der bedeutendsten Theaterautoren der Moderne verzeichnet.

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In diesem folglich von Desiderata nicht armen nationalen Forschungsumfeld stellt die Veröffentlichung der hier rezensierten Studie ein bemerkenswertes Ereignis dar. Zumal die Arbeit von Florence Baillet auch in inhaltlich-methodischer Hinsicht herausragt, und daher auch über den französischen Sprachraum hinaus Beachtung finden sollte. Mit ihrer Ende 2013 veröffentlichten Studie Le Regard interrogé, Lulu ou la Chair du théâtre (in freier Übersetzung: »Der hinterfragte Blick. Lulu oder der Leib des Theaters«) legt die Pariser Germanistin und Theaterwissenschaftlerin eine Neuinterpretation der zwischen 1892 und 1894 entstandenen Urfassung von Wedekinds Lulu-Komplex vor. Wie der Titel bereits zeigt, stehen dabei die Themen des Blicks, des Bildes und des Visuellen im Vordergrund.

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Ein Bogen von der historischen Urfassung zur aktuellen Inszenierungspraxis

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Die Originalität der Studie besteht darin, dass die Autorin eine äußerst genaue und theoretisch anspruchsvolle Textarbeit an der Lulu-Urfassung mit einer Analyse zweier bedeutender moderner Regiearbeiten verbindet: Peter Zadeks Inszenierung des Stücks am Deutschen Schauspielhaus Hamburg (1988) und Michael Thalheimers Lulu-Produktion am Thalia Theater Hamburg (2004). Durch diesen rund ein Jahrhundert überspannenden theaterhistorischen Bogen vom Pariser Urtext des Stücks zu Beispielen seiner heutigen Umsetzung auf wichtigen deutschen Theaterbühnen soll Wedekinds Die Büchse der Pandora – eine Monstretragödie (1894) innerhalb einer »Kulturgeschichte der Wahrnehmung« (Klappentext) verortet werden, wobei theoretische Modelle der Theaterwissenschaften, Literaturwissenschaften, Bildwissenschaften, Kunstgeschichte, Philosophie und Psychoanalyse zur Anwendung kommen. Im Spiegel von Wedekinds Lulu – so das Konzept der Arbeit – können unsere heutigen Fragen an das Sehen und den (theatralischen) Blick, sowie die aktuelle Infragestellung visueller Präsenzen und Darstellungsformen an historischer Tiefe und an theoretischer Schärfe gewinnen.

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Ausgangspunkt der Studie ist die Feststellung, dass die Frage des Blicks und seiner Modalitäten angesichts der mannigfaltigen Formen aktueller multimedialer Bühnenexperimente mit ihren allseits wuchernden Bilderwelten im Zentrum der heutigen Theaterästhetiken steht. Vom Blickwinkel dieser aktuellen Theaterpraktiken aus soll eine Neubewertung der Krise bzw. Reform des deutschen Dramas um 1900 und der gleichzeitigen Herausbildung der modernen Praxis der Theaterinszenierung vorgenommen werden. Letztere werden als Manifestationen eines Paradigmenwechsels während der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts gelesen, in dessen Zug u. a. im Theater Wedekinds eine literarische Bildlogik aufkommt, welche die körperliche Dimension des Schauens und die Materialität der Erscheinungen als sinnliche Präsenz und nicht mehr als bloßes symbolisches Abbild auf die Bühne bringt. Dabei stehen natürlich im Hinblick auf Wedekinds Lulu-Komplex die tabuisierten Themen des Todes und der Sexualität im Vordergrund, die in der Urfassung von 1894 auf wesentlich radikalere und exzessivere Weise in Erscheinung treten als in den nachfolgenden (selbst)zensierten Textfassungen, welche die Rezeptionsgeschichte des Dramas auf Jahrzehnte hin prägen sollten.

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Lulu und der »skopische Trieb« des ausgehenden 19. Jahrhunderts

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Die Studie gliedert sich in drei Teile und neun Kapitel, wobei der letzte Teil ausschließlich der Analyse der Inszenierungen Zadeks und Thalheimers gewidmet ist. Der erste Teil (»Le ›voir‹ dans tous ses états«; frei übersetzt: »Das ›Sehen‹ in all seinen Formen« bzw. »Das entfesselte ›Sehen‹«) stellt zunächst Wedekinds Büchse der Pandora als ein »Theater der Opsis« (S. 63 ff.) – im Gegensatz zu einem Theater des Logos – dar, wo mittels einer neuartigen Vermischung verschiedener dramaturgischer Modelle die frenetisch und hypertroph sich ausbreitenden Bilderwelten des ausgehenden 19. Jahrhundert gleich einem Panoptikum entfaltet werden. Hierbei ergeben sich interessante historische Bezüge nicht nur zum klassischen Thema des Versagens der Sprache in der Literatur des Fin de siècle sowie zur neuen Körperkultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sondern auch zur Fotografie und zur im Entstehen begriffenen Technik des Kinematografen. Anhand der mythischen Figur der Lulu als fantasmatischem Objekt der (visuellen) Begierde wird der Frage nachgegangen, welche Dispositive des Sehens und des Sichtbar-Machens im Stück verwendet werden, welche spezifischen »optischen Apparate« (S. 79) im Text am Werk sind und es ihm erlauben, das Reale durch spezifische Bildausschnitte und Bildeinstellungen (bzw. ›Rahmungen‹, frz. cadrages) in einer neuartigen Art und Weise ins Auge zu fassen und darzustellen. Der Autorin zufolge rekurriert Wedekinds Stück u. a. auf die für den wissenschaftlich-klinischen Blick seiner Zeit typische exzessive Sichtbarmachung alles Realen sowie den Prozess der Intimisierung der Relation zwischen Betrachter und Objekt, der sich in der gesamten damaligen Kunst vor allem aber im Theater vollzieht. Die Monstretragödie wird so als ein Werk dargestellt, das durch und durch von dem für seine Entstehungszeit typischen »skopischen Trieb« (S. 94) beherrscht wird, wodurch die Entwicklung des deutschen Theaters um die Wende zum 20. Jahrhundert letztlich auch als Prozess einer »Visualisierung« bzw. »Verbildlichung« (S. 67) lesbar wird.

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Der Blick als ›Monstrum‹

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Der zweite Teil der Studie (»La part du corps«; frei übersetzt: »Der Teil des Körperlichen«) untersucht in der Fortführung der in den ersten vier Kapitel entwickelten Analysen das kritische Potential der in der Büchse der Pandora zur Darstellung kommenden obsessiven Visualisierung. Denn in Wedekinds Drama mündet die »exzessive Sichtbarmachung« (S. 125) – u. a. des weiblichen Körpers – in eine Hinterfragung des Akts des Schauens und der Position des Zuschauers. Durch eine Überfülle des Sichtbaren kommt es einerseits zu einer Überbordung des um 1894 gültigen normativ-moralischen Rahmens, andererseits verwandelt sich der Blick (sowohl der Figuren als auch der Zuschauer) in einen im wahrsten Sinne des Wortes monstruösen (von lat. monstrare = zeigen) Akt. Laut Autorin stellt somit Wedekinds Monstretragödie nicht nur die Figur der Lulu als Objekt der skopischen Begierde aus, sondern veranschaulicht auch gerade die Abgründe bzw. die traumatisch-bedrohlichen Seiten des Schauens sowie der Bilder bzw. Verbildlichungen. Unter Verwendung von Verfahren der visuellen Mise-en-abyme verunsichere, ja blende das Stück den Zuschauer, verdränge ihn aus seiner bequemen voyeuristischen Position, hinterfrage sein Schauen sowie die Bilder, die er in den Blick bekommt. In Wedekinds Theaterästhetik geht es nach Ansicht der Autorin letztlich darum, dem Theaterbesucher jegliches Vertrauen in die Unmittelbarkeit und die Verlässlichkeit der dargestellten Visualisierungen zu nehmen. Indem es dem ›gaffenden‹ Zuschauer auf geradezu satirische Art und Weise den Spiegel seines eigenen Blicks vor Augen hält, sei Wedekinds Theater letztlich nicht nur als Kritik des voyeuristischen Sehens, sondern auch als Kritik der theatralischen Repräsentation überhaupt zu lesen.

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Die Monstre-Tragödie in der heutigen Theaterlandschaft

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Der letzte Teil der Studie (»Enjeux contemporains: une politique de la perception«; frei übersetzt: »Zeitgenössische Bezüge: eine Politik der Wahrnehmung«) spannt den abschließenden Bogen zu zwei modernen Inszenierungen des Lulu-Urtextes, die einer ausführlichen Aufführungsanalyse (auf der Grundlage von Video-Mitschnitten) unterzogen werden. Baillets Konfrontation von Peter Zadeks Uraufführung der wiederentdeckten Urfassung im Jahre 1988 mit Michael Thalheimers Neuinszenierung der Monstretragödie von 2004 macht zuvorderst einen frappierenden Kontrast deutlich: Dort, wo Zadeks Regiearbeit im Stück den Überfluss des Visuellen und die Maßlosigkeit des Schauens sowie die daraus resultierende Monstruosität des Blicks herausstellt (Kapitel 8), arbeitet Thalheimers Inszenierung mit einer Ästhetik der visuellen Reduktion, verweigert sich den Verführungen des Skopischen und stellt mit seinem Minimalismus gewissermaßen das Versagen der Sichtbarmachung und der Bilder dar (Kapitel 9). Beiden Regisseuren gemein sei laut Autorin ihre Intention, die im Stück angelegte Problematik des Blicks auf die Analyse heutiger Bildregime und -ästhetiken zu übertragen. Trotz ihrer gegensätzlichen Akzentuierung der Wahrnehmungs-Problematik als Exzess beziehungsweise Askese des Blicks träfen sich beide Inszenierungen letztlich auf der Ebene einer Kritik der erdrückenden Dominanz des Visuellen (S. 151) in unseren heutigen Gesellschaften und dem damit verbundenen Imperativ von Transparenz und Gleichförmigkeit. Auch wenn sich die hypermediale Bilderwelt des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht von derjenigen des Fin de siècle unterscheidet, machten so Zadeks und Thalheimers Inszenierung die heutige Relevanz und Aktualisierbarkeit von Wedekinds kritischer Analyse des (Theater)Blicks deutlich.

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Fazit

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Auf Grundlage präziser und kluger Textanalysen und unter Anwendung avancierter Literatur-, Theater- und Bildtheorien (u. a. Didi-Hubermann, Merleau-Ponty, Rancière) macht Florence Baillet Wedekinds Bedeutung als »visueller Künstler« (S. 205) deutlich und stellt den historischen Beitrag der Gattung und Kunstform Theater an der »Erzeugung des Blicks« (ibid.), d. h. seinen Einfluss auf unsere Sehgewohnheiten heraus. Ihre als wegweisend zu bezeichnende Arbeit stellt auf überzeugende Weise dar, dass die Urfassung von Wedekinds Büchse der Pandora im Rahmen heutiger »panoptischer« Gesellschaften ein literarisches Prisma zur Analyse moderner und zeitgenössischer Fragestellungen zum Thema bildliche Darstellung und Wahrnehmung darstellt. Der große historische Bogen, den die Studie schlägt, ist also bei weitem kein anachronistisches Konstrukt sondern ein überaus fruchtbarer interdisziplinärer Vorstoß, der den Theater- und Literaturwissenschaften neue Wege eröffnet. Bleibt zu wünschen übrig, dass dieser wichtige und neue Horizonte eröffnende Beitrag zur internationalen Wedekind-Forschung über die Sprach- und Fachgrenzen hinweg eine breite Leserschaft finden wird.