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Das Gewicht der Imagination - oder wie Kunst queere Verkörperungen hervorbringt

  • Renate Lorenz: Queer Art. A Freak Theory. (Queer Studies) Bielefeld: transcript 3/2012. 180 S. zahlreiche Abb. Kartoniert. EUR (D) 19,80.
    ISBN: 978-3-8376-1685-9.
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Queer Art. A Freak Theory von Renate Lorenz liefert einen wichtigen Beitrag zu der Frage, wie sich eine Kunstwissenschaft betreiben lässt, die die kritischen Potentiale queerer Kunst aufgreift und im Bereich der Wissenschaft und Theoriebildung weiter fortschreibt. Hierfür plädiert sie für eine enge Verzahnung von Wissenschaft, Kunst und Aktivismus.

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Das Buch liefert weder eine Definition queerer Kunst, noch einen Überblick über deren Bestände oder Geschichte, wie es ein solcher Titel vielleicht nahe legen mag. Stattdessen nutzt Renate Lorenz den Titel Queer Art – inspiriert von Stefan Brechts Queer Theater (1978) – um die Art und Weise, wie und mit welchen Ansprüchen Geschichte geschrieben und Theorie produziert wird, kritisch zu hinterfragen und zu denormalisieren. Stefan Brecht hatte in seinem Buch eine queere Theorie von Verfremdungstechniken entwickelt, die jede Form der Rationalität und Autonomie zu Gunsten der Partizipation unterläuft (S. 72). Nach mehr als dreißig Jahren greift Renate Lorenz nun diesen Gedanken auf, um die (sexual-)wissenschaftliche Wissensproduktion zu Geschlecht und Sexualität, wie auch eine sich als rational begreifende Kunstwissenschaft zu problematisieren. Mit der Figur des ›Freaks‹, die angeeignet und deren beleidigendes Potential positiv besetzt wird, möchte sie die Möglichkeiten ausloten, eine Vielzahl von Differenzen zu repräsentieren, ohne erneut Kategorien zu bilden oder Identitäten festzuschreiben.

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Zentral für den von Lorenz entwickelten Ansatz einer solchen Freak-Theorie ist eine enge Verzahnung von künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis. So beruht das Buch teils auf Ergebnissen der Freaky-Queer-Art Konferenz 1 und teils auf der künstlerischen Praxis von Renate Lorenz und Pauline Boudry. Ausgangspunkt seiner Fragestellung bildet die Beobachtung einer Verschiebung im Feld queerer Kunst: Da Körper eine wichtige Zielscheibe biopolitischer Regulierung und Normalisierung von Geschlecht und Sexualität bilden, hat sich queere Kunst schon lange kritisch mit Körperbildern auseinandergesetzt. Allerdings entstehen in den letzten Jahren zunehmend künstlerische Arbeiten, die etablierte geschlechtliche und rassifizierte Kategorien unterlaufen oder ganz darauf verzichten, menschliche Körper zu zeigen (S. 7). In solchen Arbeiten vermutet Lorenz besondere Potentiale, hegemoniale Wissensproduktionen zu denormalisieren und alternative queere Verkörperungen sowie alternatives freaky Wissen zu produzieren.

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Wie aber lassen sich diese Potentiale realisieren? Dieser Frage geht Lorenz anhand ausgewählter Interpretationen künstlerischer Arbeiten nach, die zugleich grundsätzliche Fragen nach den Verhältnissen verschiedener Formen der Wissensproduktion zu einander aufwerfen. Bezugnehmend auf Michel Foucault positioniert sich Freak Theory dabei als eine Form des Gegenwissens, das die sexualwissenschaftlichen Kategorisierungen von »normal« und »deviant« dekonstruiert. 2 Einleitend problematisiert Lorenz das Sehen, zu-Sehen-Geben, die Klassifizierung und Normierung von Körpern und die scheinbar rationalen Formen wissenschaftlicher Wissensproduktion anhand des Films N.O.Body 3 (2008): Im Film wird ein leerer Hörsaal gezeigt. Der_die Performer Werner Hirsch/N.O.Body betritt in einem viktorianischen Kleid, das in starkem Kontrast zu seinem Vollbart steht, den Hörsaal, nimmt die Position des Professors ein und interagiert durch Blicke und zeigende Gesten mit einer an die Wand projizierten Fotografie der »bearded lady« Annie Jones. 4 Statt jedoch eine Vorlesung zu halten oder auf irgend eine andere Art und Weise zu sprechen, beginnt Werner Hirsch/N.O.Body zu lachen – und er lacht immer mehr, das Lachen scheint einer Partitur zu folgen und bleibt doch unverständlich. Die Problematisierung (sexual)wissenschaftlicher Wissensproduktion mit ihren Kategorisierungen und die performative Kraft, die N.O.Body im Film entfaltet, führen Lorenz zu ihrer zentralen Frage:

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How can queer art be taken up in a way that does not classify, level, and understand, but continues, by other means, the denormalization, that it incites, the desire for being-other, being-elsewhere, and change? (S. 17)
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Als Ausgangspunkt einer solchen Art mit/über Kunst zu schreiben dient Lorenz der Raum zwischen Kunstwerk und Betrachter_in, in dem sich verschiedenste Begehrens-Beziehungen aufspannen können, innerhalb derer queere Kunst Betrachter_innen »anstecken« kann. Wenn Lorenz damit für einen Modus der Ansteckung (mode of contagion) plädiert, geht es ihr darum, einen Zugang zu Kunst zu entwickeln, der die distanzierte und teilweise rationale Haltung, die Analysen von Repräsentationen oder der Interpretation von Kunstwerken zu Grunde liegt, aufzugeben. Stattdessen sollen Betrachter_innen sich in die Praktiken der Denormalisierung verwickeln lassen, da so angeblich das transformatorische Potential von Kunst wirksam werden könne. Die Funktionsweise eines solchen Modus der Ansteckung beschreibt Lorenz mit Bezug auf die Queer-Theoretikerin Elsbeth Probyn, wieder am Beispiel von N.O.Body. Der Film kombiniert verschiedene Elemente – wie das Lachen Werner Hirsch/N.O.Body, die »bearded lady« und einen Hörsaal –, so dass diese Spezifitäten (Wissen, einen Hörsaal, eine »bearded lady«) in Singularitäten verwandelt werden. In dieser Transformation produzieren, so Probyn, die Elemente eine Intensität oder ein Begehren, das Objekte, Leute, Praktiken und Ideen miteinander in Verbindung bringt, ohne dass sich diese Verbindungen noch sinnvoll im Rahmen einer semiologischen Analyse verstehen lassen (S. 18). Das Vorhaben, solche wesentlichen Wirkungsweisen queerer Kunst zu erfassen und fortzuschreiben, so die These, erfordert vielmehr einen theoretisch-methodischen Zugang, der die situativen und zuweilen prekären Kontakte, Verbindungen und Differenzierungen mitgehen kann. Hierfür bietet sich der Freak aufgrund seiner spezifischen Geschichte in besonderer Weise an.

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Anhand der Freak-Shows in den USA des 19. Jahrhunderts thematisiert Lorenz die gewalttätigen Geschichte der Ausgrenzung, des Ausstellens, Angestarrtwerdens und Differenzierens mit der der Freak verbunden ist. Gleichzeitig ist der Freak jedoch wiederholt auf widerständige Arten und Weisen angeeignet worden: als Form von anti-rassistischer Ermächtigung (empowerment) etwa, oder als Repräsentation der Verweigerung von Effizienz. Anknüpfend an queere Theorien von Geschichte und Zeitlichkeit, die ein lineares Geschichtsverständnis problematisieren, dient Lorenz der Rückbezug auf die Figur und Geschichte des Freaks dazu, gegenwärtigen Diskursen der Homogenisierung, Normalisierung und Desexualisierung zu widerstehen und stattdessen neue Formen der Differenzierung zu praktizieren. Da der Freak keine fixierte Identität oder Position im Abseits markiert, eignet er sich in besonderer Weise dazu, aus einer Position der »nicht-Differenz« (S. 28) zu sprechen. Insofern nutzt Lorenz die Figur, um eine Bewegung der Distanzierung von Idealen des weiß-, heterosexuell-, normal- und effizient-Seins zu bezeichnen. Die künstlerischen Praxen, die sie dabei besonders interessieren und die im Weiteren im Zentrum des Buches stehen, sind Praxen des Drag, die eine scheinbare Evidenz und Lesbarkeit von Körpern in Frage stellen, ohne in einer Logik von Norm und Abweichung aufzugehen.

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Freak/y Epistemology

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Künstlerische Strategien des Drag produzieren eine grundsätzliche epistemologische Verunsicherung, da sie die Evidenz von Körpern in Frage stellen. Dies bedeutet, dass eine Freak-Theorie einen methodischen Zugang entwickeln muss, der selbst freaky und dabei bereit ist, den Status von Wissen und die Aushandlung von Wissen selbst zur Disposition zu stellen. Ansatzpunkt einer solchen freaky Methode bilden für Lorenz Brüche und Lücken, die einen Raum für affektive Verbindungen und Verwicklungen öffnen. Sie begreift das Szenario zwischen Kunst und Betrachter_innen als einen Ort einer Wissensproduktion, die sich durch Ansteckung und Verwicklung der Betrachter_innen vollzieht und die hegemoniale epistemische Ordnung von Selbst, Körper und Wissensproduktion verunsichert. Damit geht es der Freak Theorie von Lorenz gerade nicht darum, Kunst zu analysieren oder zu interpretieren, sondern sich, wie bereits erwähnt, von ihr anstecken zu lassen.

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Dieser Modus der Ansteckung nimmt die soziale Macht der Sprache ernst und ermöglicht zugleich, wie Lorenz anhand zweier Videoproduktionen herausarbeitet, nicht-legitime Formen der Wissensproduktion durch Affekte, Gefühle und Körper. Hegemoniale Wissensproduktionen werden damit in Bezug auf sieben Aspekte entscheidend verschoben: 1. wird damit die Grenze von Wahrheit/Lüge und legitimen/dubiosen Wissen in Frage gestellt und 2. können die Grenzen der Intelligibilität verschoben werden und neue Teilungen der Macht geschaffen werden, wenn zum Beispiel minorisierte Gruppen, von denen ein spezifisches Wissen geteilt wird, in die Machtposition der Sprechenden gesetzt werden. 3. ermöglicht die Figur des Freaks, da sie nicht auf eine Identität fixiert ist, sondern auf eine Bewegung der Distanzierung von Idealen und Kategorisierungen setzt, einen Raum für Mehrdeutigkeiten und Verbindungen zwischen verschiedenen Machtachsen. Im Offenhalten dieses Raums thematisiert der Freak Theorie-Verkörperungen zwischen fake und Fiktion, und widersteht damit 4. der Lesbarkeit von Körpern, wobei sich zuweilen unerwartete Gewinne ergeben, was 5. als Investition in alternative Ökonomien verstanden werden kann. Insofern sich in jenen Brüchen und Lücken, in denen sich Begehrensbeziehungen und Affekte entfalten können, immer auch normative Ordnungsmuster durchbrochen und neue Beziehungen eingegangen werden können, können diese mit Bezug auf Elsbeth Probyns Konzept des outside belongings und Michel Foucault Konzept der Heterotopie als Interventionen in dominante Konzepte von 6. Raum und 7. Zeit verstanden werden.

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Radical Drag

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Den Hauptteil des Buches bilden Auseinandersetzungen mit künstlerischen Arbeiten anhand derer Lorenz die Konzepte des radical, transtemporal und abstract drag entwickelt. Alle drei begreift sie als künstlerische Praktiken bei denen es weniger um das durcharbeiten vorgegebener Kategorien geht, als vielmehr um ein Experimentieren mit Alternativen.

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Anhand einer Interpretation der Fotografie body/bundle (2007) von shinique smith, sowie zweier Performances Roy Cohn/Jack Smith (1993/94) von Ron Vawter und Pain and Pain von Bob Flanagan entwickelt Lorenz den Begriff des radical drag. Darunter fasst sie künstlerische Arbeiten, die das Lesen von Körpern als eine Praktik der Macht problematisieren, indem sie mit Techniken des Aufschubs und der Produktion von Lücken arbeiten. Statt Körper oder Identitäten involvieren solche ästhetischen Inszenierungen von Assemblagen und Konstellationen, die Zuschauer_innen mit ihren Wahrnehmungen und Gefühlen. Eindeutige Lesarten und eine Fixierung der Bedeutung an spezifischen Bildern werden damit tendenziell verunmöglicht. Vielmehr erscheint jeder Prozess von Wissensproduktion hochgradig abhängig von sozialen Praktiken. Auf diese Weise konzeptualisiert Lorenz radical drag als eine künstlerische Praxis, die vor allem Distanz zu Subjektivierung schafft und eine Arbeit des Begehrens ermöglicht, in der sich (neue) Beziehungen herstellen. Grenzt sich die Autorin hier von Butler ab, die Drag als Modell der Subjektivierung beschrieben hat, knüpft zugleich sie an deren Konzept des ek-statisch Seins 5 an: Indem Zuschauer_innen durch die Thematisierung von Affekten wie Schmerz und Verletzbarkeiten in die Performances verwickelt werden, wird jede Vorstellung von Autonomie radikal unterlaufen. Die Performances lassen sich nicht als ein Theater etwa im Sinne Berthold Brechts verstehen, das seine Zuschauer_innen aufklärt. Stattdessen müssen sie, wie Lorenz mit Bezug auf Stefan Brechts Konzept des Queer Theaters argumentiert, als settings gelesen werden, die Ausgangspunkt für Praktiken der De-Normalisierung sein können: Wenn beispielsweise Flanagan in seinen SM-Performances hegemoniale Vorstellungen von Krankheit und Schmerz verunsichert, kann dies dazu beitragen, eine Sprache zu entwickeln, die der Leidenschaft, Trauer und Wut diskriminierter und minorisierter Menschen gerecht wird. Gleichzeitig eröffnen die artikulierten alternativen Vorstellungen von Schmerz und Krankheit Möglichkeiten eines Lebens jenseits dominanter Diskurse und Normen.

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Transtemporal Drag

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Das zweite Kapitel widmet sich künstlerischen Arbeiten, die in heteronormative Konzepte von Zeit und Zeitlichkeit intervenieren. Queer Theoretiker_innen, wie Jack Halberstam und Elizabeth Freeman haben gezeigt, in welcher Weise lineare Vorstellungen von Zeit durch heteronormative Logiken strukturiert sind. 6 Mit dem Begriff des transtemporal drag beschreibt Lorenz nun Arbeiten, wie den Film Salomania (Boudry / Lorenz 2009), Henrik Olesens Some Faggy Gestures oder Performances von Jack Smith, die Alternativen zu einer Unterwerfung unter biographische und historische Konzepte von Zeitlichkeit formulieren. Im Zusammenstellen von Bildern aus unterschiedlichen historischen und sozialen Kontexten bilden solche Arbeiten Arrangements, die eine lineare Geschichte unterbrechen und gewohnte Lesarten verunsichern. Mit Gilles Deleuze konzeptualisiert Lorenz dies als queere Archäologie, der es darum geht, »to go back into the event, to take one’s place in it as in a becoming, to grow both young and old in it at once, going through all its components or singularities« (Deleuze zit. nach Lorenz S. 109). Dies ermöglicht Prozesse des Werdens (becoming), die Verbindungen zu Unsagbarem herstellen und damit neue Formen der Realität ins Leben rufen können. Gleichzeitig liegt hierin das Potential, Prozesse des unbecoming zu initiieren und herrschende Vorstellungen von Geschlechterrollen, Heterosexualität, Weiß-Sein oder auch der Kunstgeschichte zu zerstören und Fragen danach aufzuwerfen, welche Funktionen hegemoniale Vorstellungen von Sexualität für Kunst und Kunstgeschichte besitzen. Transtemporal drag kann aber auch bedeuten, einen ungewohnten Umgang mit Zeit zu praktizieren. So entwickelt Jack Smith in seinen Performances einen alternativen Taylorismus, der, so Lorenz, sowohl Vorstellungen der Zweckmäßigkeit und Effektivität von Handlungen unterläuft als auch hegemoniale Vorstellungen einer auf Orgasmen zentrierten Sexualität, die in unsere Körper, Emotionen und Begehren eingeschrieben ist.

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Abstract Drag

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Das dritte Kapitel widmet sich schließlich ästhetischen Strategien, die ganz auf das Zeigen des Körpers verzichten. Mit dem Begriff des abstract drag beschreibt Lorenz Arbeiten der Künstler_innen Zoe Leonard, Felix Gonzalez-Torres und sharon hayes, die durch Objekte und beigegebene Informationen Körper in ihren Verletzlichkeiten und ihrer Vergänglichkeit thematisieren: Die sorgfältig wieder zusammengenähten Fruchtschalen einer Orange oder Banane in Zoe Leonards Arbeit Strange Fruits (1992-1997), oder der Bonbonberg, dessen Bonbons gelutscht werden dürfen und dessen Gewicht das Körpergewicht von Ross, dem an AIDS erkrankten Freundes von Felix Gonzalez-Torres besitzt, schaffen sie abstrahierte Repräsentationen, mit denen die Betrachter_innen umgehen müssen und die sie, je nach eigenem Wissen und eigenen Erfahrungen lesen können oder eben nicht: Im Betrachten können Gefühle von Trauer über den Verlust und Tod von Freunden aufkommen oder ein Mitgefühl der Sorge und Unterstützung. Gleichzeitig können diese Affekte einen Anstoß geben, Kritik an hegemonialer Politik, wie bspw. dem politischen Umgang mit AIDS, zu formulieren. Strategien des abstract drag ermöglichen Fantasieproduktionen, die mit verschiedenen ästhetischen, emotionalen und affektiven Bedeutungen aufgeladen werden können. Sie sind insofern immer auch hochgradig davon abhängig, was Betrachter_innen aus ihnen machen. Dabei mögen Momente einer queeren Geschichte, eines kollektiven Trauerns oder Genießens entstehen. Und sie können queere Verkörperungen ermöglichen, die aus dem Moment des Herstellens von Verbindungen hervorgehen. Solche Verkörperungen sind dabei sozial und plural organisiert, prekär und immer im Werden begriffen. Abstract Drag erscheint dann als etwas das außerhalb des konkreten einzelnen Körpers liegt, aber nicht jenseits queerer Verkörperungen existiert. Das Buch schließt mit einem Anhang, in dem Lorenz nochmals sieben Methoden einer Freak Theorie expliziert, die mit dem Modus der Ansteckung arbeitet und ein Herausfallen oder sich Herausbewegen aus der Norm positiv besetzt.

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Fazit

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Queer Art. A Freak Theory ist, wie viele Publikationen in diesem Bereich, nur auf Englisch erhältlich. Dies ist nachvollziehbar, insofern die meisten der Personen mit denen Lorenz in ihrer künstlerischen Arbeit kollaboriert, Englisch sprechen und auch die Diskussionen zu queerer Theorie überwiegend in englischer Sprache geführt werden. Und doch ist es in Anbetracht der wenigen deutschsprachigen Beiträge zu queerer Theorie bedauerlich, dass keine deutschsprachige Version des Titels zugänglich ist – gerade auch, weil das insgesamt sehr lesenswerte Buch viele spannende Denkanstöße bietet.

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Das Buch nimmt eine inspirierende Perspektivverschiebung vor, indem es den Blick auf die transformierende Macht von Begehrens-Beziehungen richtet, in denen alternative Vorstellungen und Erlebensweisen von Körpern und Beziehungen möglich werden. Die Stärke liegt in den überzeugenden Lesarten der künstlerischen Arbeiten, die Bedeutung und Gewichtigkeit von Fantasie, Sexualität und Imagination aufzeigen. Mit dem Plädoyer Kunst in einem Modus der positiv verstandenen Ansteckung aufzugreifen, betont Lorenz die Notwendigkeit sich auf Kunst einzulassen und sich im Denken von ihr bewegen zu lassen, anstatt sie in vorgefertigte Theorieraster einzupassen. Damit liefert das Buch einen wichtigen Beitrag zu Debatten um queere Theorie und Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität, ebenso wie zu aktuellen Ansätzen der Kunstwissenschaft. Gerade innerhalb der Kunstwissenschaft sind Fragen nach der Bedeutung von Sexualität und Begehren lange Zeit vernachlässigt worden. Seit Beginn der 2000er finden jedoch nicht nur vermehrt Ausstellungen statt, die sich mit queeren künstlerischen Arbeiten beschäftigen, sondern es beginnt sich auch ein transdisziplinäres Forschungsfeld herauszubilden, indem ästhetischen Praktiken und ihrer Funktion für Formationen von Geschlecht und Sexualität eine zunehmende Aufmerksamkeit zukommt. 7 Wird in diesen Diskursen immer wieder die Frage danach diskutiert, welche Potentiale Kunst besitzt, Alternativen und Utopien zu artikulieren, weist Queer Art. A Freak Theory mit der Frage nach methodischen Zu- und Umgangsweisen auf ein weiteres wichtiges Problem hin, dass es ohne Zweifel noch weiter zu diskutieren gilt.

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Mit der Figur des Freaks vermeidet Lorenz identitätslogische Bewegungen ebenso wie den Anspruch, ein Archiv queerer Kunst zusammenzutragen. Stattdessen resultiert der Modus der Ansteckung in einem wissenschaftlichen Schreiben, das selbst kreativ aufgeladen ist und die künstlerischen Arbeiten mit einer Vielzahl von Theoriefragmenten in Verbindung bringt: Queer Art entfaltet eine Fülle inspirierender Denkanstöße. Leider gerät dabei zuweilen der hegemoniale sozio-kulturelle Kontext, in den interveniert oder der verändert werden soll, etwas aus dem Blick. Eine stärkere Kontextualisierung hätte das transformatorische Potential der Arbeiten, insbesondere an den Stellen an denen die künstlerischen Arbeiten den Rahmen der Kunst(diskurse) hin zu anderen Formen der Wissensproduktion oder zum Leben überschreiten, stärken können. Zuweilen scheint Lorenz’ Argumentation eine Entgegensetzung von rationaler, kategorisierender und normierender Wissenschaft versus einer Kunst, die Affekte auslöst, Kategorien verweigert und Alternativen ermöglich, zu Grunde zu liegen, die in sich problematisch ist. Denn so wie Kunst zur Aufrechterhaltung heteronormativer Machtverhältnisse beitragen kann, können auch andere Formen der Wissenschaft, wie bspw. die sexualwissenschaftlichen Bildpolitiken Magnus Hirschfelds, wichtige transformatorische Potentiale besitzen. 8 Es darf meines Erachtens nicht vergessen werden, dass wir Kategorien und Normen auch dringend benötigen. Insofern regt das Buch dazu an – und das ist vielleicht einer seiner wichtigsten Denkanstöße – genauer darüber nachzudenken, wie sich das Verhältnis von Kunst und Alltag, Kunst und Wissenschaft, aber auch das Verhältnis verschiedener Wissensformen zueinander gestalten; und wie Macht und Herrschaft auf sehr unterschiedliche Weise mit und durch verschiedene Formen von Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten wirken, und was das für eine sich als kritisch verstehende Kunst und Kunstwissenschaft bedeutet.

 
 

Anmerkungen

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Michel Foucault: Dispositive der Macht: über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve-Verlag, 1978, S. 70.

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Boudry/Lorenz, N.O.Body, 2008.

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Jones wurde Ende des 19. Jahrhunderts zu einer der Stars zeitgenössischer Freakshows und in Magnus Hirschfelds Bildband zur Geschlechtskunde als Beispiel geschlechtlicher Devianz aufgenommen.

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Judith Butler. Außer sich: Über die Grenzen sexueller Autonomie, in: dies.: Die Macht der Geschlechternormen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009, S. 35-69, hier S. 57.

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Elizabeth Freeman: Time Binds: Queer Temporalities, Queer Histories. Durham: Duke University Press 2010. Jack Halberstam: In a Queer Time & Place: Transgender Bodies, Subcultural Lives. New York and London: New York University Press, 2005.

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Für einen Überblick über wichtige Ausstellungen und Literatur hierzu vgl. Josch Hoenes / Barbara Paul: un/verblümt – Geschlecht, Sexualität und Begehren: Queere Politiken in Kunst und Wissenschaft, in: dies. (Hg): un/verblümt. Queere Politiken in Ästhetik und Theorie. Berlin: Revolver 2009, S. 13-37.

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Zu den Ambivalenzen von Magnus Hirschfeld Bildpolitiken vgl. bspw. Katharina Sykora 2005: Umkleidekabinen des Geschlechts. Fotografierter Hermaphroditismus bei Magnus Hirschfeld, in: NGBK (Hg.), 1-0-1 (one ’o one) intersex, S. 44-54.

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