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Deutschland im Wandel

Bilder und Selbstentwürfe der neuen deutschen Republik

  • Katharina Grabbe: Deutschland - Image und Imaginäres. Zur Dynamik der nationalen Identifizierung nach 1990. (Studien zur deutschen Literatur 205) Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2014. 287 S. Gebunden. EUR (D) 84,95.
    ISBN: 978-3-11-031344-4.
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Mit Deutschland – Image und Imaginäres legt Katharina Grabbe eine Studie auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften vor, die sich, wie der Titel bereits verlauten lässt, mit den Begriffen des Images und Imaginären als zentralen Entitäten im Zusammenhang mit der deutschen Nation auseinandersetzt. Konkret geht es um die Fragestellung, inwieweit die deutsche Nation für ihre zahlreichen Einwohner nach den Ereignissen der Jahre 1989/1990 als identifikatorische Gemeinschaft fungiert – wobei diese Gemeinschaft auch bei Grabbe, in Anlehnung an Benedict Anderson, als ›imagined community‹ zu verstehen ist – und auf welche Weise(n) diese Gemeinschaft definiert werden kann. Dabei ist mit dem Begriff des Images die Flut von Bildern gemeint, die fortlaufend generiert wird, welche wiederum das Imaginäre hervorbringt, das Grabbe als eine sich konstant im Werden befindende, nie abschließbare Entität begreift. Grabbe richtet ihren Blick auf die sich beständig vollziehende Dynamik des Imaginären, die eine ebenfalls in permanenter Bewegung befindliche Herausbildung eines deutschen ›Wirs‹ zur Folge hat: »Wir befinden uns in gewisser Weise immer in einer ›Stunde Null‹, in der beständig aufs Neue an den Selbstentwürfen gearbeitet wird« (S. 2). Diesen immerfort neu entstehenden Selbstentwürfen geht Grabbe in sechs umfangreichen Analysekapiteln auf den Grund, wobei sie Literatur und Film als ihre primären Quellen verwendet, aber darüberhinaus ebenfalls eine nationale Mediendebatte, eine Standortinitiative und die Fußballweltmeisterschaft 2010 in ihre Untersuchung einbezieht.

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Deutschland – Image und Imaginäres reiht sich ein in eine lange Tradition der Nation- und Heimatstudien und schreibt diese erfolgreich fort, indem das Werk die gegenwärtige Situation der deutschen Nation in Augenschein nimmt. Allerdings zieht Grabbe für ihre Untersuchung nicht die in letzten Jahren stark verbreiteten Theorien des Spatial Turns heran, wie sich beispielsweise an dem 2012 erschienenen Sammelband Heimat. At the Intersection of Memory and Space von Frederike Eigler und Jens Kugele gut demonstrieren lässt, sondern beschäftigt sich mit den Ideen des Psychoanalytikers Jacques Lacan. Dessen Spiegeltheorie bildet die Grundlage für Grabbes Werk, welche Grabbe mit weiteren Theoretikern wie Slavoj Žižek in Verbindung bringt und damit das »psychoanalytische Konzept des Imaginären als Begrifflichkeit für aktuelle kulturwissenschaftliche Analysen weiter[entwickelt]« (S. 9). Grabbes Ansatz ist somit ein äußerst interessanter, der, wie im Folgenden zu sehen sein wird, zu einer Fülle von neuen und innovativen Erkenntnissen führt.

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Wir sind wieder wer

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Grabbes erstes Analysekapitel (Kapitel III) mit dem Titel »Wir sind wieder wer« widmet sich der Betrachtung von Sönke Wortmanns Fußballweltmeisterschaftsfilmen – Das Wunder von Bern (2003) und Deutschland. Ein Sommermärchen (2006) – die Grabbe eng miteinander verbunden sieht. Grabbe zufolge werde durch nationale Sportereignisse eine nationale Gemeinschaft erzeugt, welche die Deutschen als Nation zusammenbringe. In beiden Filmen stehe nicht primär der Sport, sondern insbesondere Deutschland als sich neu formierende Gemeinschaft im Vordergrund, verdeutlicht u.a. durch Symbole wie Flagge, Adler oder Nationalhymne, die verstärkt in Deutschland. Ein Sommermärchen in Erscheinung träten. Darüber hinaus sieht Grabbe als weiteres verbindendes Glied beider Filme die Wirtschaft: So ist das Wirtschaftswunder im Deutschland der 1950er Jahre in Das Wunder von Bern unmittelbar an die Herausbildung einer neuen nationalen Identität geknüpft, wobei sich Wirtschaft und Identität gegenseitig bedingen. So auch in Deutschland. Ein Sommermärchen, das eng an die damalige Standortkampagne »Du bist Deutschland« gekoppelt ist, durch die sowohl ein neues Selbstbewusstsein der deutschen Nation gefordert wird als auch gleichzeitig die Fremdwahrnehmung Deutschlands im Ausland verbessert werden soll. Auch hier gehe es um ein neues Wirtschaftswunder, das mit Hilfe des ›Nation Brandings‹ erstehe, wobei der Film einen wichtigen Teil dazu beitrage und schließlich zu einer weiteren Kampagne »Deutschland. Land der Ideen« führe. Jedoch anstatt eines sich beständig verändernden Selbstentwurfes vermittelten beide Filme ein »Stillstellen der imaginären Dynamik« – und folglich einen nicht realisierbaren Idealzustand, wie Grabbe in den folgenden Kapiteln klar herausstellt (S. 65).

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Wende-Roman

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Ingo Schulzes Briefroman Neue Leben (2005) bildet den Schwerpunkt des vierten Kapitels, der auf den ersten Blick die zeithistorischen Ereignisse der Wendejahre zum Thema zu haben scheint. Wie Grabbe jedoch bemerkt, lässt sich das Thema Wende ebenfalls als Erzählverfahren in der Textstruktur des Romans wiederfinden. Nicht ein lineares Geschichtsmodell bilde folglich die Basis des Romans, vielmehr finde ein vom Autor bewusst inszeniertes Spiel mit Authentizität, Fiktion und Identität statt, was Grabbe zu einem Vergleich mit E.T.A. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr anregt. Schulzes Roman stelle demnach eine »unabschließbare Bewegung des Imaginären als beständiges Herstellen von Selbstentwürfen« vor, die sich in immerwährender Bewegung befänden und zu keinem Abschluss kämen (S. 10). Sehr passend in diesem Zusammenhang ist Grabbes Analyse des von Schulze verwendeten Faust-Stoffes als Indikator eines typisch deutschen Textes, der vordergründig durch die Suche nach Erkenntnis das Erlangen dieser zu versprechen scheint, jedoch dieses Versprechen nicht einhalten kann. Genauso wie Faust sei auch der Protagonist Enrico Türmer beständig auf der Suche nach seiner Identität, die letztendlich zu keinem klaren Ende gebracht werden könne. Die Wende werde folglich »zur Chiffre, die gerade die unabschließbare Bewegung auf der Suche nach einer nicht erreichbaren Identität bezeichnet« (S. 262). Damit setzt sich Neue Leben dezidiert von den Filmen Wortmanns ab, wie Grabbe überzeugend herausarbeitet, da der Roman die »Unmöglichkeit einer imaginären Schließung« ein ums andere Mal betone (S. 262).

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Nostalgie

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In Kapitel V ist es das Gegenwartsphänomen Ostalgie, das in seiner Imagefunktion beschrieben wird. Anhand von Wolfgang Beckers Film Good Bye, Lenin! (2003) untersucht Grabbe, wie bestimmte Mechanismen der Gemeinschaftsbildung durch Ostalgie beeinflusst werden. Dabei gelingt es ihr, trotz der bereits umfassenden Forschungsliteratur zu Beckers Film, durch die Anbindung ihrer Analyse an sowohl den Begriff und die Geschichte der Nostalgie als auch an den Freudschen Ödipus-Komplex, originelle Erkenntnisse herauszuarbeiten. Laut Grabbe bezeichne das Imaginäre den »Sehnsuchtsort der Nostalgie« als »Ort der Ganzheit« und sei somit zweifelsohne an der Erfindung und Bildung der Nation beteiligt, was eine imaginierte Herkunft und Gemeinschaft miteinschließe (S. 11). Im Falle der Ostalgie sei dies die Gemeinschaft der verflossenen DDR, die nun als Erzählgemeinschaft nach der Wende wiederbelebt werde, wobei darüberhinaus auch über den Konsum bestimmter Produkte die Teilnahme an dieser Gemeinschaft ermöglicht werde. In diesem Zusammenhang versteht Grabbe auch den Ödipus-Mythos als nostalgisches Narrativ, der, auf den Film bezogen, insbesondere den Verlust der natürlichen Einheit mit der Mutter beschreibe. Mutter und verlorenes Vaterland fallen zusammen, werden austauschbar und versinnbildlichen einen paradiesischen Zustand, der für immer verloren scheint. Am Ende kommt der Ödipus-Konflikt allerdings, anders als bei Lacan, zu einem Abschluss in dem Trauerritual, mit dem der ödipale Wunsch verabschiedet und durch die entstandene gesamtdeutsche Familie ersetzt wird. »Der Schluss des Filmes setzt somit nicht nur die Überwindung des Ödipuskomplex ins Bild, sondern zugleich die Stillstellung der imaginären Dynamik, denn gezeigt wird hier das wiedervereinigte Deutschland als gelungene Einheit der Nation« (S. 153).

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Deutschlandreisen

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In Kapitel VI setzt sich Grabbe mit dem gegenwärtigen Boom von Deutschlandreise-Texten auseinander, den sie anhand zweier exemplarischer Werke – Wolfgang Büschers Deutschland, eine Reise (2005) und Roger Willemsens Deutschlandreise (2002) – näher beleuchtet. Reisen wird hier als »Weg der Selbsterkundung oder Selbstfindung« verstanden, als eine »Reise ins Eigene«, wobei dem Eigenen jedoch im Sinne Freuds ebenfalls die Aura des Unheimlichen anhaftet (S. 155). Grabbe arbeitet das von beiden Autoren angewandte Erzählverfahren des Kartenzeichnens präzise heraus und konstatiert einen klaren »Zusammenhang zwischen dem Imaginären und Räumlichkeit«, wodurch eine »Dynamik des Imaginären als eine Bewegung im Raum« entsteht (S. 263). Dabei wendet Grabbe speziell bei Willemsens Text das Konzept des ›mental mappings‹ aus der Kognitionspsychologie an, was zu einem ernüchternden Fazit führt: Die von Willemsen erzeugten Bilder seien keine unbekannten, sondern bereits fest in der kollektiven Erinnerung der Deutschen verankert. Willemsens Reisebeschreibung greife folglich in erster Linie auf Vertrautes zurück, trotz der Tatsache, dass der Autor seine Erfahrungen als subjektiv deklariere. Willemsen erzeuge eine Gemeinschaft, die sich in seinen »Alltagsbeobachtungen wiederfinden« könne oder sich über den Konsum bestimmter Images als »Komsumentengemeinschaft« wiedererkenne – innovative Bildentwürfe würden nicht geliefert (S. 184).

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Die Berliner Republik und Preußen

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Kapitel VII untersucht jene preußischen Images, deren sich die junge Berliner Republik bedient, um das preußische Erbe, in dessen Tradition sich die Republik einzuschreiben versucht, für einen neuen Identitätsentwurf fruchtbar zu machen. So sieht Grabbe in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005) die Protagonisten Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt als typisch deutsche Bildungsbürger einer preußischen Tradition proträtiert, wobei die Attribute deutsch und preußisch von Kehlmann synonym verwendet werden. Ähnliches konstatiert Grabbe auch im Hinblick auf die Berliner Stadtschloss-Debatte, die den zweiten Teil ihrer Analyse bildet. Auch hier fungiere das Preußische als Fundament für das Deutsche, als Klammer, welche die Nation einen und diese Einigung als unausweichliche Entwicklung erscheinen lassen solle. In diesem Zusammenhang komme dem Stadtschloss die Aufgabe zu, die entstandene Leerstelle – hervorgerufen sowohl durch den Abriss des Palasts der Republik als auch im übertragenen Sinne durch die deutsche Wiedervereinigung – zu füllen. Allerdings sei das Schließen der Lücke nur in seiner symbolischen Form vorgesehen, da das Stadtschloss, laut Grabbe, primär Kulisse sei, sich durch seine Fassadenhaftigkeit auszeichne und somit nur den Schein des ehemaligen Schlosses wahre, wie sich auch die neue Republik den Anschein der Selbstverständlichkeit durch den Rückgriff auf das vermeintlich traditionslastige preußische Erbe gebe.

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Heimsuchung

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In ihrem letzten Analysekapitel widmet sich Grabbe dem Thema der Erinnerungsgemeinschaften Deutschlands, zu welchem Zwecke sie Jenny Erpenbecks Heimsuchung (2008) heranzieht, einen Roman, »der das Erzählen über deutsche bzw. deutsch-deutsche Gegenwartsgeschichte als Suche nach dem Zuhause (Heimsuchung) gestaltet« (S. 12). In Heimsuchung ist es ein Haus – der eigentliche Protagonist des Romans – dem der Leser durch die Jahre hindurch folgt, während die vorgestellten Personen in ihrer Signifikanz zurückbleiben. Die Erinnerungen, die durch die Beschreibungen des Hauses generiert werden, versinnbildlichten, so Grabbe, das Konzept der antiken Gedächtnislehre, der ars memoriae, und ständen für konkrete Erinnerungstechniken, die notwendig für das Erhalten von Erinnerungsgemeinschaften seien. Die so erzeugten Erinnerungsbilder seien jedoch nicht statisch, sondern könnten und müssten immer wieder neu verhandelt werden. Überhaupt finde eine Beheimatung in der Geschichte, im Roman in jener des 20. Jahrhunderts, nur temporär statt. Am Ende wird das Haus zerstört, was zu der Möglichkeit einer Neubewertung von Erinnerungsbildern führt, wie es nach dem Fall der Mauer in Deutschland der Fall war und ist. »Die Biografie des Hauses, über die der Roman das historische Erzählen entwickelt, wird damit zur exemplarischen Geschichte Deutschlands und das Haus zur Allegorie auf die Nation«, wobei auch hier Erinnerung als in ständiger Bewegung begriffen wird (S. 259).

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Fazit

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Deutschland – Image und Imaginäres leistet einen wichtigen Beitrag zum gegenwärtigen Diskurs über die Selbstentwürfe der deutschen Nation im 21. Jahrhundert. Dabei sticht Grabbes Arbeit vor allem durch ihre akribische Recherche, sorgfältige Analyse und originelle Erkenntnisgewinnung hervor. Grabbe gelingt es, verschiedene Theoriemodelle erfolgreich miteinander zu verknüpfen, diese weiterzuentwickeln und produktiv in ihre Analyse zu integrieren, sei es beispielsweise Jurij M. Lotmans Raummodell im dritten Kapitel oder das bereits erwähnte mental mapping aus der Wahrnehmungsgeographie und Kognitionspsychologie im Kapitel »Deutschlandreisen«. Auch ihr letztendliches Ergebnis, welches sie schon in ihren Analysekapiteln wieder und wieder formuliert, überzeugt fraglos: Ein wahres Deutschlandbild lässt sich nicht ausmachen; vielmehr handelt es sich bei der Identitätsfindung der jungen Berliner Republik um einen beständigen Prozess, der der imaginären Dynamik unterliegt und sich auch in der Zukunft durch seine Unabschließbarkeit auszeichnen wird.