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Die gesellschaftliche Bedeutung von Autorschaft oder was haben Martin Mosebach, Benedikt XVI. und Helmut Schmidt gemeinsam?

Matthias Schaffricks Studie zu religiösen und politischen Inszenierungen von Autorschaft.

  • Matthias Schaffrick: In der Gesellschaft des Autors. Religiöse und politische Inszenierungen von Autorschaft. (Reihe Siegen, Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft 171) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2014. 251 S. EUR (D) 35,00.
    ISBN: 978-3-8253-6303-1.
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Zu Beginn seiner Dissertationsschrift führt Matthias Schaffrick seine Leser in eine imaginierte Buchhandlung. Sein Blick streift die Regale und Büchertische, bemerkt die optischen Unterschiede der omnipräsenten Bücher und die Aufteilung in diverse Abteilungen, von der Belletristik bis zur Religionswissenschaft. Alle diese Bücher haben Autoren, soweit, so selbstverständlich, doch Schaffrick stellt sich die Frage, inwiefern diese Bücher »sich auch durch ihre Autorschaft [unterscheiden]« (S. 31). Wodurch unterscheidet sich die Autorschaft eines Textes von der eines anderen und vor allem, wie unterscheidet sich die Konzeption von Autorschaft verschiedener Bereiche der Gesellschaft?

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Schaffrick überträgt den bisher vor allem literaturwissenschaftlich diskutierten Begriff der ›Autorschaft‹ im Rahmen seiner kulturwissenschaftlichen Studie auf die gesellschaftlichen Bereiche der Religion und der Politik. Unter Rückgriff auf Niklas Luhmanns Systemtheorie steht »die Systemrelativität der Autorschaft« (S. 40) im Fokus: »Wie verändert sich mit der Funktion und den Codes der Kommunikation, die ein System definieren, die Beziehung zwischen Autor und Text« (S. 40)? Darüber hinaus fragt Schaffrick in seiner Arbeit vor allem danach, wie einzelne Vorstellungen von Autorschaft auch mit bestimmten Vorstellungen von Gesellschaft verknüpft sind und wie Autorschaft gesellschaftliches Handeln begründet.

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Zu diesem Zweck legt Schaffrick zunächst ein eigenes, systemtheoretisch geprägtes Verständnis von Autorschaft dar. Mittels des Luhmann‘schen Begriffs der ›Semantik‹ schafft er eine Systematik, die zwischen einer allgemeinen, gesellschaftsübergreifenden Bedeutung von Autorschaft und systemspezifischer Autorschaft unterscheidet. Mit Hilfe von Luhmanns Unterscheidung zwischen ›Medium‹ und ›Form‹ verankert er darüber hinaus innerhalb dieser Terminologie ein Kontinuum von personalisierter und depersonalisierter Autorschaft, das er zur Analyse konkreter Autorinszenierungen heranzieht. Anhand der Beispiele des Gegenwartsschriftstellers Martin Mosebach, des emeritierten Papstes Benedikt XVI. sowie des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt legt Schaffrick drei Fallanalysen systemspezifischer Autorschaft vor.

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Zu Prämissen und These

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Den Ausgangspunkt der Überlegungen Schaffricks stellt die Skizze einer säkularen, modernen Gesellschaft dar, »die sich dadurch auszeichnet, dass alles kontingent wird« (S. 25). Einer solchen Gesellschaft schreibt Schaffrick mit Bezug auf Habermas ein grundsätzliches Legitimationsdefizit in Hinblick auf gesellschaftliche und politische Leitlinien oder Ordnungen zu. Als Antwort auf die Kontingenz der Moderne beobachtet Schaffrick zwei »Gegenbewegungen«, »die sich als Rückkehr der Religion und Rückkehr des Autors manifestieren« (S. 25). Für Schaffrick liegt darin nicht nur eine parallele, sondern vor allem eine verbundene Bewegung. Autorschaft wird daher in der vorliegenden Studie auf Autoritätskonstruktion und Autorisierungsstrategie (vgl. S. 17) verhandelt, das heißt daraufhin unterschieden, »ob Autorinnen und Autoren sich und ihre Texte mittels religiöser oder säkularer Strategien legitimieren« (S. 25).

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Es geht um eine doppelte, in der Autorschaft enthaltene, Legitimierung. Einerseits gilt es für einen Autor, sich als Autor eines bestimmten Textes und damit eben diesen zu legitimieren, andererseits wird die Autorschaft selbst auf ihr Potenzial hin untersucht, Vorstellungen, Konzepte und Handlungen von Gesellschaft zu begründen: »Letztlich geht es darum zu klären, wie ›Autor‹ und ›Gesellschaft‹ im Modus der Selbstbeschreibung aufeinander verweisen und wie Autorschaft in ihrer Funktion als Autorisierungsstrategie ihre legitimationserzeugende Kraft entfaltet« (S. 29).

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Der besondere Anspruch der Studie liegt darin, dass die vieldiskutierte Frage nach der Inszenierung von Autorschaft mit der Frage nach der Gestaltung von Gesellschaft in der Beziehung von Religion und Politik verknüpft wird.

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›Autorschaft‹ als systemtheoretischer Begriff. Zur Methodik der Studie

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Die Begründung für den gewählten systemtheoretischen Ansatz findet sich in einer Kritik an Michel Foucaults diskurstheoretischen Unterscheidungen zum Autorbegriff. 1 Im Gegensatz zur Theorie Foucaults sieht Schaffrick in der Systemtheorie die Möglichkeit, vorteilhaft zwischen unterschiedlichen Funktionssystemen der Gesellschaft zu differenzieren und so eben auch eine »Diskursspezifik der Autor-Funktion« (S. 38) aufzuzeigen.

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Autorschaft bezeichnet im Text immer wieder grundsätzlich »die Beziehung zwischen Autor und Text« (S. 43). Den ersten Ansatz den Begriff näher zu bestimmen, unternimmt Schaffrick durch den Rückgriff auf Luhmanns Begriff der ›Semantik‹, der anders als der linguistische Fachterminus nicht eindeutig definiert ist. 2 Schaffrick versteht in Anlehnung an Luhmann die ›Semantik‹ als Oberbegriff für »›Sinnverarbeitungsregeln‹« 3 (S. 43) der Gesellschaft. ›Semantik‹ dient hier als »Vorrat von Unterscheidungen«. 4 Die Veränderung dieser ›Sinnverarbeitungsregeln‹ im Laufe der Gesellschaft stellen die historische Veränderung der Bedeutung (des Sinns) von Autorschaft dar, die sich mit Beginn der Moderne von dominanten Größen wie »Regelpoetiken, Traditionen oder religiöse[r] Inspiration« zu bestimmenden Determinanten wie »Individuum oder Genie«, »Autonomie und Authentizität« (alle S. 41) entwickle. Besonders produktiv für die Argumentation Schaffricks erweist sich die an Luhmann orientierte Unterscheidung zwischen einer »gesellschaftsübergreifende[n] Semantik der Autorschaft« (S. 43), die eine allgemein gültige Regel für die Beschreibung von Autorschaft darstellt und »sytemspezifische[n] Sondersemantik[en]« (S. 42), welche die Bedeutung von Autorschaft innerhalb eines jeden Funktionssystems modifizieren. Auf der Basis dieser Annahme gelingt es Schaffrick, eine Begrifflichkeit für das von ihm ausgegebene Ziel zu finden, die Konzeption von Autorschaft distinkter gesellschaftlicher Bereiche zu vergleichen.

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Schaffrick erweitert die Bestimmung von Autorschaft durch die Unterscheidung von ›Medium‹ und ›Form‹. Er fasst das ›Medium‹ mit den Worten Luhmanns als »›offene Mehrheit möglicher Verbindungen‹« (S. 48) und sieht in der »Autorschaft als Medium […] das ganze Bündel von Merkmalen, die es ermöglichen« (S. 49), die Beziehung von Autor und Text zu beschreiben. Das Medium Autorschaft bezeichnet die potentielle Beziehung zwischen Autor und Text, sowie sämtliche ihrer Beschreibungen, es bleibt »daher unsichtbar und unbeobachtbar« (S. 48). Autorschaft kann in dieser Logik nur dann beschrieben werden, wenn ihre konkreten Formen in Betracht gezogen werden, sie »ist ausschließlich anhand einzelner Autorinnen oder Autoren beobachtbar« (S. 49, Hervorhebung im Original).

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Gewinnbringend eingesetzt wird die Unterscheidung von ›Medium‹ und ›Form‹ vor allem durch die Übertragung des Gegensatzes zwischen ›beobachtbar‹ und ›unbeobachtbar‹ auf den analytischen »Ansatz der Personalisierung und Depersonalisierung von Autorschaft« (S. 53). Mittels dieses Kontinuums analysiert Schaffrick die Autoritätskonstruktionen der drei genannten Autoren hinsichtlich der Fragen: »Wie wird die Autorschaft im Text personalisiert? Inwieweit depersonalisiert sich ein Autor durch seine Autorschaft und nimmt seine eigene Person zurück« (S. 53)?

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Der Autor wird von Schaffrick als ein sprachliches Konstrukt beschrieben, als ein Effekt des Textes, und er expliziert dieses Verständnis, indem er den Autor als eine ›Person‹ im Sinne Luhmanns definiert, also als »eine in der Kommunikation referierbare Einheit« (S. 53, Hervorhebungen im Original). Den in Bezug auf die Darstellung von Autoren und Autorschaft vielgebrauchten Begriff der ›Inszenierung‹ unterzieht Schaffrick in diesem Kontext einer wohltuenden Entmystifizierung, denn »es gibt keine Autorschaft, die nicht inszeniert ist«. Getreu des herangezogenen Personenbegriffs stellt Schaffrick fest: »Als Person braucht die Autorin oder der Autor eine Form, und diese Form gewinnt sie oder er durch Inszenierungen, die sich entweder als Personalisierung oder als Depersonalisierung vollziehen« (S. 70). Alle beobachtbaren Formen von Autorschaft sind dann Inszenierungen. Das »Nicht-Inszenierte« (S. 71), welches Schaffrick in den Kontext des Authentischen rückt, entzieht sich der Beobachtbarkeit, obwohl gerade Authentizität paradoxerweise immer wieder ein Ziel von Inszenierungen darstellt. 5

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Ein letzter wesentlicher Baustein in Schaffricks Argumentation ist das Konzept der Ritualisierung von Autorschaft als ein Ort oder eine Strategie ihrer Inszenierung, welches vor allem auf der These beruht, »dass Rituale ohne Autorschaft funktionieren« (S. 76). Während jeder Text einen Autor hat, dieser jedoch im Text nicht tatsächlich anwesend ist, zeichnen sich Rituale in der von Schaffrick entwickelten chiastischen Struktur dadurch aus, keinen eigenen Autor zu haben, aber »gegebenenfalls den Autor beobachtbar« (S. 76) zu machen. »Ritualisierung bedeutet eine Auslöschung von Autorschaft« (S. 76) und das Ritual könne dem Autor daher »eine über seine Person hinausreichende Bedeutung und Autorität« (S. 77) verleihen. Schaffrick versteht zwar auch Interviews, Preisverleihungen und Lesungen als Rituale und bietet so viel Anschlussfähigkeit für weitere literaturwissenschaftliche Untersuchungen, in seine Fallanalysen fließen aber vor allem die katholische Liturgie und das rhetorisch ritualisierende Wiederholen als Ritualisierungen von Autorschaft ein. Mit dem Ritual rückt die Kategorie des Sakralen in den Fokus der Arbeit und lenkt diesen auch in den folgenden Fallanalysen.

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Martin Mosebachs antimoderne Autorschaft in ihren Widersprüchen

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Die vom Autor geleistete Analyse der »literaturgeschichtlich einmalige[n]« (S. 93) antimodernen Konzeption von Autorschaft beim Schriftsteller Martin Mosebach in all ihrer Erstaunlichkeit und Widersprüchlichkeit gehört sicherlich zu den hervorzuhebenden Leistungen der vorliegenden Arbeit und stellt einen wichtigen Beitrag zur noch vergleichsweise übersichtlichen Forschung zu diesem Gegenwartsautor dar.

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Die wichtigste Referenz in Schaffricks Überlegungen zur Autorschaft Mosebachs stellen dessen unter dem Titel Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind veröffentlichten Essays dar. In diesen kritisiert Mosebach die Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils. Für Mosebach, so etwas verkürzt Schaffricks Analyse, stellt die Liturgiereform eine Veränderung eines unveränderlichen Rituals dar. Durch diese Veränderung bekommt das Ritual der Liturgie einen Autor und es verliert so seine Sakralität. Schaffrick weist darauf hin, dass Mosebach hier kirchengeschichtliche und -wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert, die darauf verweisen, dass »die Liturgie sehr wohl geschichtlichen, […] absichtsvollen Veränderungen unterlag« (S. 86).

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Mosebach, so argumentiert Schaffrick, idealisiert nicht nur die römische Liturgie, sondern er skizziert in diesem Ideal auch seine Vorstellung von Autorschaft. Diese Autorschaft neigt zu einer extremen Depersonalisierung, der Autor wird zur »Unperson« (S. 92) und als Folie für diese Autorschaft dienen Mosebachs Ausführungen zur Ikonenmalerei. Die Ikone trägt keine Signatur eines Autors. Mosebachs »[r]eligiöse Autorschaft bedeutet vom Ritual her gedacht, dass der Autor unbedeutend ist« (S. 93). Mosebach, so zeigt es Schaffrick, geht so weit, Tagebücher vehement abzulehnen, da autobiographisches Schreiben in der römischen Kirche als verpönt gegolten habe und es zum Ausschlusskriterium für Heiligsprechungen herangezogen worden sei. An dieser Stelle wäre es interessant zu sehen, ob und inwieweit sich Mosebach mit dem heiligen Augustinus von Hippo auseinandersetzt, dessen Confessiones als erste bekannte Autobiographie angesehen werden können.

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Das Autorkonzept der ›Unperson‹ findet Schaffrick auch in Mosebachs poetologischen Überlegungen wieder. Mosebach entwickele ein Verständnis vom literarischen Schreiben, welches den Schriftsteller als Handwerker und in Anlehnung an Heimito von Doderer sowie analog zur Unperson des Autors als »Nicht-Schriftsteller« (S. 111) versteht. Auch dieses poetologische Modell ist vor allem religiös, was sich anhand Mosebachs spezifischer Konzeption von Wirklichkeitsdarstellung im Roman verdeutlicht, wie Schaffrick erläutert: »Es obliegt den Autoren somit das vor- und ›gottgegebene Modell‹ in eine ästhetische Form zu übertragen und zwar im Modus der schöpferischen Betrachtung, nicht der Schöpfung« (S. 110).

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Konträr zum Autor als Unperson steht die Konzeption des Autors als Souverän, die Schaffrick vor allem aus Mosebachs Rede anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises 2007 entwickelt und mit Mosebachs Ideen politischer Theologie verknüpft:

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Die Autorschaftsinszenierung der Büchner-Preis-Rede knüpft an die Tradition der politisch-theologischen Souveränitätstheorie an, welche die Transzendenz der souveränen Macht auf den einen christlichen Gott zurückführt, der als Letztbegründung der politischen Souveränität fungiert. Autorschaft braucht diese Souveränität. (S. 102)
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Mit der Konzeption des Autors als Nicht-Autor und als Souverän bei Mosebach zeigt Schaffrick ein widersprüchliches Verhältnis auf, welches schließlich jedoch von der Annahme einer grundlegenden göttlichen Autorität, die hinter beiden Seiten dieser Opposition steht, gehalten wird. Schaffrick macht auch deutlich, dass sich in Mosebachs antimoderner Autorschaft Vorstellungen gesellschaftlicher (religiös-politischer) Ordnung widerspiegeln.

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Diskussionswürdig im besten Sinne erscheint, dass Schaffrick Mosebachs Autorschaftskonzeption, vor allem aufgrund der »Abwesenheit des Autors« (S. 89) mit Barthes Theorie vom Tod des Autors vergleicht und als »poststrukturalistisch anmutenden[d]« (S. 115) beschreibt. Wenn Mosebach die Autorität des Autors durch die Autorität Gottes legitimiert, so führt dies zu einer Sakralisierung des Textes und durchaus auch ein wenig seines Autors. Etwas ganz Gegensätzliches jedoch geschieht, wenn Barthes im Tod des Autors zwar ebenfalls den Text in den Vordergrund rückt, die Autorität des Autors jedoch vor allem durch die Autorität der Leser ersetzt.

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Ratzinger / Benedikts doppelte Autorschaft. Depersonalisierung legitimiert kirchliche Entweltlichung

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Als Anlass und Ansatz für eine Analyse der Autorschaft des emeritierten Papstes Benedikt XVI. dient Matthias Schaffrick das in drei Bänden von 2007 bis 2012 erschienene Buch Jesus von Nazareth, welches auf dem Umschlag gleichberechtigt Joseph Ratzinger und Benedikt XVI. als Autoren anführt. Schaffrick führt überzeugend und mit einigem Aufwand aus, wie sich Autorschaft bereits beim Theologen Ratzinger und dann in gesteigerter Form bei Papst Benedikt »als Depersonalisierung des Autors, der sich der Person Jesus überschreibt« (S. 159), darstellt. Schaffrick pointiert, dass diese »doppelte Autorschaft […] der Theologie Ratzingers eine uneinholbare, nachträgliche Autorisierung durch das Papstamt [verschafft]; umgekehrt erklärt sich die Amtsführung Benedikts XVI. aus der konsequenten Realisierung von Ratzingers Theologie« (ebd.).

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Die Autorschaftskonzeption Ratzinger / Benedikts verbindet Schaffrick mit Benedikts Forderung nach der Entweltlichung der Kirche, diese sei »das kirchenpolitische Pendant zur Depersonalisierung der Autorschaft« (S. 166). Verkürzt lässt sich die Analogie wie folgt beschreiben: So wie der subjektive Autor Ratzinger / Benedikt hinter die religiöse Bedeutung des Textes zurücktritt und sich »der Person Jesus« (S. 159) und damit Gott »überschreibt« (ebd.), tritt die Kirche aus der Verantwortung für weltliche (politische) Zusammenhänge zurück, um sich der »Beziehung zu Jesus und darin zu Gott« (S. 167) zu verschreiben.

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Helmut Schmidt: die personalisierte Legitimation

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Die Ausführungen zur Autorschaft Helmut Schmidts beginnen mit einer Erweiterung des Begriffs der Autorschaft auf »die Beziehung zwischen Person und Entscheidung« (S. 173). Schaffrick versteht »unter Autorschaft also auch politisches Handeln« (ebd.). Sicher können reichlich Analogien gefunden werden: Auch Entscheidungen müssen autorisiert und legitimiert werden. Aber lässt sich eine Entscheidung handlungslogisch mit einem Text gleichsetzen? Besteht nicht die Spezifik der Autorschaft in der Beziehung von Autor und Text? Selbst vor dem Hintergrund eines sehr weiten Textbegriffs erscheint es fraglich, ob diese Erweiterung des Verständnisses von Autorschaft noch einen systematischen Fortschritt darstellt.

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Schaffrick verfolgt auf der Basis dieser Prämisse vor allem die Frage, wie Schmidt seine politischen Entscheidungen (seine politische Autorschaft) legitimiert, das heißt, auf welcher Basis er seine Entscheidungen trifft. Mit Rückgriff auf das Böckenförde-Diktum und Max Webers Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik wird Schmidts Staatsverständnis und dessen politisches Handeln, vor allem in Extremsituationen wie dem Deutschen Herbst 1977, erläutert. Es wird deutlich, dass für Schmidt kirchliche und andere Werte nicht handlungsleitend für den Staat sein können, da dieser die Freiheit des Einzelnen zu gewähren habe und somit keine Werte vorgeben kann. Handlungsleitend in Situationen, in denen die Verfassung keine Richtlinien mehr bereithält, ist somit für Schmidt das verantwortungsvolle Abwägen der Folgen einer Entscheidung und erst in letzter Instanz das Gewissen des Entscheidungsträgers. Schaffrick beschreibt dies als eine Personalisierung von (politischer) Autorschaft »durch Verantwortung und Gewissen« (S. 202).

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Autorschaft im engeren Sinne wird von Schmidt vor allem als Legitimation seiner Autorität und damit seiner Entscheidungen herangezogen. Indem Schmidt in Interviews auf von ihm veröffentlichte Bücher verweist, »setzt [er] seine Autorschaft, vertreten durch das Buch, als Beleg für die theoretische Fundierung seiner Politik ein. […] Autorschaft tritt an die Stelle einer Begründung […]« (S. 187). Dieses Verfahren sieht Schaffrick in den Inszenierungen des Bundeskanzlers a. D. weitergeführt und gesteigert. Schmidt nimmt hier eine »soziale Rolle« ein, die »in Schmidts Auftreten als politische Autorität [besteht]« und deren »performative Autoritätskonstruktion […] durch eine ritualisierte Form der Autorschaft ermöglicht [wird]« (S. 200). Die Ritualisierung dieser Autorschaft Schmidts sieht Schaffrick in der Strategie des permanenten Selbstzitats und der Wiederholung eigener, früherer Aussagen.

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Was bedeutet Autorschaft? Zu den Problemen der systemtheoretischen Konzeption dieser Studie

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Die in Bezug auf Helmut Schmidts politisches Handeln unternommene Ausweitung des Begriffs ›Autorschaft‹ zeigt in doppelter Hinsicht ein grundsätzliches Problem der großen Aufgabe, die sich Matthias Schaffrick in dieser Arbeit gestellt hat, nämlich eine systemtheoretische Beschreibung von Autorschaft zu schaffen, obwohl die Kategorie des Autors, wie Schaffrick selbst anführt, in den Überlegungen Luhmanns keinen großen Raum einnimmt (vgl. S. 67). Der Rückgriff auf die Systemtheorie erweist sich in dieser Arbeit einerseits als durchaus produktiv und bietet viele Anknüpfungspunkte für zukünftige Forschungen über Autorschaft. Andererseits scheint der Begriff ›Autorschaft‹ auch etwas zu groß zu werden und verliert dabei bereits in den theoretischen Überlegungen Schaffricks seine Eindeutigkeit.

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Es wird bereits sprachlich-definitorisch nicht klar, ob es sich bei der ›Semantik der Autorschaft‹ um eine Beschreibung von Autorschaft handelt, die vom Konzept Autorschaft separat zu denken ist, oder, ob Autorschaft eine Semantik ist. Also, ob ›Semantik der Autorschaft‹ und ›Autorschaft‹ identisch zu denken sind, wie es einige Formulierungen nahelegen (vgl. S. 42). Weitere Uneindeutigkeit entsteht dadurch, dass die Systematik von Autorschaft als ›Medium‹ und dem konkreten Autor als dessen ›Form‹ nicht explizit vom Konzept der ›Semantik der Autorschaft‹ abgegrenzt wird. Außerdem erscheint auch innerhalb der Unterscheidung von ›Medium‹ und ›Form‹ eine logische Schieflage zu bestehen. Wenn Autorschaft als Medium die »›offene Mehrheit möglicher Verbindungen‹« 6 (S. 48) zwischen einem Autor und einem Text bezeichnet, dann müsste die Form dieser Autorschaft in der konkreten, beobachtbaren Verbindung eines Autors zu seinem Text und umgekehrt bestehen und nicht nur im Autor selbst. Das Problem des von Schaffrick entwickelten Konzepts ist, dass Autorschaft ein offensichtlich relationales Konzept darstellt, es als Medium jedoch nur den Autor als Form zugeordnet bekommt.

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Schaffrick selbst bietet im oben dargelegten Verständnis des Autors als Effekt des Textes einen Lösungsansatz für das aufgezeigte logische Problem. Text und Autor sind in beide Richtungen aufeinander angewiesen. Ein Autor kann ohne Text nicht sein. Anders formuliert, kein Autor ohne Beziehung zu einem Text, oder kein Autor ohne Autorschaft. In der Unterscheidung von ›Medium‹ und ›Form‹ müsste jedoch deutlicher hervorgehoben werden, dass der Autor dem Text inhärent ist. Außerdem ließe sich vor diesem Hintergrund die Frage in den Raum stellen, ob in einem solchen Konzept nicht gerade der Text die ›Form‹ des ›Mediums Autorschaft‹ darstellt, da es zutrifft, dass eben »alle Texte auf ihre Autorschaft hin beobachtbar sind« (S. 66) und wie Schaffrick feststellt: »Texte bilden den Gegenstand jeder Analyse von Autorschaft. Das heißt, auch der vermeintlich dem Text vorausgehende Autor ist Bestandteil und Effekt des Textes« (S. 65).

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Fazit

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Matthias Schaffrick überzeugt in seiner Arbeit vor allem mit den detaillierten und kenntnisreichen Fallanalysen zu Mosebach, Ratzinger und Schmidt, die als Folien für weitere Studien dienen können. Besonders in den Analysen zu Mosebach und Benedikt XVI. wird ersichtlich, wie sich deren Verständnis von Autorschaft mit ihren Vorstellungen von Gesellschaft überschneiden. Mit der Frage nach der (doppelten) Legitimation von Autorschaft erweitert Schaffrick die wissenschaftliche Diskussion um Autorschaft. Die entwickelte Systematik von personalisierter und depersonalisierter Autorschaft, das Verständnis des Autors als ›Person‹ und die Bedeutung des Rituals bieten zudem ein gut zu übertragendes Instrumentarium. Vor dem Hintergrund der skizzierten Probleme kann der entwickelte systemtheoretische Begriff ›Autorschaft‹ insgesamt allerdings nur bedingt überzeugen. Problematisch wird auch die Frage danach, was Mosebach, Ratzinger und Schmidt vergleichbar macht. So sehr es überzeugt, die drei Autoren über ihre Überlegungen zum Verhältnis von Religion und politischer Ordnung zu vergleichen, so problematisch erscheint diese Vergleichbarkeit im Fall Schmidts über den Begriff der ›Autorschaft‹, wenn dieser auch die Beziehung zwischen Politkern und ihren Entscheidungen umfasst.

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In einer Fußnote zu Beginn der Arbeit verdeutlicht Schaffrick, dass er seine Arbeit auf Antwort hin geschrieben hat, sie also im Sinne Luhmanns auf Anschlusskommunikation setzt (vgl. S. 28). Als Fazit kann festgehalten werden, dass diese Arbeit definitiv Ansatzpunkte für Anschlusskommunikation bietet und zwar weit über die Literaturwissenschaft hinaus. Wie autorisiert beispielsweise Angela Merkel ihr politisches Handeln in Anbetracht »alternativloser« Entscheidungen? Wie kann die Konzeption von Autorschaft Benedikts XVI. mit jener des deutlich politischeren Papstes Franziskus verglichen werden, dem bezeichnenderweise Martin Mosebach im Interview mit dem Spiegel eine Profilierung der eigenen Person auf Kosten der Kirche vorwirft? 7

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Zurück in der Buchhandlung lässt sich in Anschluss an Schaffricks Überlegungen die Frage, was die Autorschaft eines Schriftstellers legitimiert, auf andere Schriftsteller und andere Problemstellungen übertragen. Wie stellt ein Schriftsteller die notwendige Autorität her, um als Autor anerkannt zu werden, das heißt zu veröffentlichen und gelesen zu werden? Wie behaupten sich Autoren und Leser in der über und über mit Büchern gefüllten Buchhandlung, die so zum Bild einer kontingenten Moderne wird? Welches sind in diesem ökonomischen Kontext die Verfahren der Autorisierung? Die Frage nach der Legitimation und die graduelle Unterscheidung einer depersonalisierten oder personalisierten Autorschaft bieten in Hinblick auf diese Fragen weiteres Potential. Dazu müsste der Fokus, der in dieser Studie vor allem auf den Selbstbeschreibungen von Autorschaft lag, in Zukunft etwas weiter gestellt werden, um zu untersuchen, wie dritte, vor allem Medien und Verlage, mittels Fremdbeschreibungen an der Konstruktion von konkreten Formen der Autorschaft beteiligt sind, da Inszenierungen von Autorschaft kaum ohne ihre mediale Kommunikation zu denken sind.

 
 

Anmerkungen

Vor allem dargelegt in: Michel Foucault: Was ist ein Autor? (Vortrag) [1969]. In: M.F.: Schriften zur Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 234–270.    zurück
Vgl. Rudolf Stichweh: Semantik und Sozialstruktur. Zur Logik einer systemtheoretischen Unterscheidung. In: Dirk Tänzler / Hubert Knoblauch / Hans-Georg Soeffner (Hg.): Neue Perspektiven der Wissenssoziologie. Konstanz: UVK 2006, S. 157–171. Hier Online Zugang: http://www.fiw.uni-bonn.de/demokratieforschung/personen/stichweh/pdfs/55_semantik-und-sozialstruktur.pdf (05.06.2015).   zurück
Matthias Schaffrick zitiert hier Niklas Luhmann: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. [1980]. In: N.L. (Hg.): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 9–71, hier S. 19.   zurück
Rudolf Stichweh (Anm. 2).   zurück
Diese Überlegungen finden sich in ähnlicher Weise in der ebenfalls 2014 erschienenen Dissertation Inokentij Kreknins, der Identität als Effekt von Kommunikation beschreibt. Vgl. Inokentij Kreknin: Poetiken des Selbst. Identität, Autorschaft und Autofiktion am Beispiel von Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst. Berlin/Boston: De Gruyter 2014.    zurück
Schaffrick zitiert hier Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S.168.   zurück
Vgl. Dieser Papst macht Stimmung, Spiegel-Gespräch. In: Der Spiegel Nr. 22, 2015, S. 27.    zurück