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Vom bewegten Bild zum Text. Stephan Brössel entwirft eine Theorie des filmischen Erzählens

  • Stephan Brössel: Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte. Daneben die jüngst erschiene Taschenbuchausgabe: Stephan Brössel: Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte. (Narratologia 40) Berlin und Boston: Walter de Gruyter 2017. 304 S. EUR (D) 19,95. ISBN 978-3-11-055362-8. (Narratologia 40) Berlin und Boston: Walter de Gruyter 2014. 291 S. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-035058-6.
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Das Forschungsfeld: filmisches Erzählen – ein narratologisches Desiderat

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In den vergangenen Jahrzehnten hat sich im Zuge des sogenannten cultural und medial turn die klassische Erzählforschung strukturalistischer Prägung von ihrer vormals ausschließlichen Konzentration auf Texte gelöst und sich zunehmend auch dem Erzählen in anderen Medien zugewandt. In diesem Kontext einer noch jungen intermedialen Narratologie ist auch die vorliegende literaturwissenschaftliche Untersuchung Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte von Stephan Brössel zu verorten, die auf einer leicht überarbeiteten Fassung seiner im Fachbereich Germanistik der Bergischen Universität Wuppertal eingereichten Dissertationsschrift basiert. Der Umstand, dass die Studie im Umfeld des dort angesiedelten Zentrums für Erzählforschung, konkret unter Betreuung von Michael Scheffel und Andreas Blödorn, entstanden und in der renommierten De Gruyter Reihe Narratologia (herausgegeben von Fotis Jannidis, Matías Martínez, John Pier und Wolf Schmid) sowie seit Kurzem zusätzlich als preisgünstige Paperbackausgabe in der zugehörigen Studienbuch-Reihe erschienen ist, schürt hohe Erwartungen hinsichtlich der reklamierten Modellhaftigkeit einer bislang noch gänzlich ausstehenden Theorie des filmischen Erzählens. Dass der Verfasser auf dem Gebiet ausgewiesen ist, indizieren vorab publizierte Teilergebnisse 1 allerdings ebenso wie zukunftsweisende Anschlussforschungen im Rahmen des gemeinsam mit Susanne Kaul konzipierten DFG-Netzwerks Echtzeit im Film. Konzepte, Wirkungsweisen und Interrelationen (2016–2018), dessen erste Tagungspublikation Zeitfiktionen. Reflexionen und Funktionen von Zeit in Literatur und Film derzeit in Vorbereitung ist. 2

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Der publizistische Kontext erlaubt überdies auch Aussagen über das adressierte Zielpublikum. Das sind in diesem Fall nicht ausschließlich (germanistische) Literaturwissenschaftler. Vielmehr lässt Brössels komparatistischer Ansatz das angestrebte Transpositionsmodell auch für Nachbarphilologien sowie für Medien- und Filmwissenschaften attraktiv werden, wenngleich Vorkenntnisse im Bereich der Erzähl- und Intermedialitätsforschung von Vorteil sind. Denn, dies sei vorausgeschickt, die Argumentation und analytische Deduktion erfolgen auf höchstem Reflexions- und Abstraktionsniveau. Mag die theoriegesättigte Darstellung und die fachvokabularische Dichte der Analysesprache für Nichtphilologen auch gewöhnungsbedürftig sein, so garantiert sie doch die exakte Übersetzbarkeit der filmischen Phänomene über die Mediengrenzen hinweg und erlaubt erstmals die Analogisierung der Erzählformen zweier an sich distinkter medialer Formate.

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Einer einführenden Explikation bedarf zunächst der Gegenstand, das titelgebende ›filmische Erzählen‹, das hier als »transmediales Phänomen« (S. 13) begriffen wird, d. h. als eine Erscheinungsform der Narration, die sowohl in der Literatur als auch im Film auftreten kann. Filmische Erzählmittel pauschal und rein formal-sprachlich zu bestimmen, erweist sich indes prima vista als ein eher schwieriges Unterfangen, da die Zuweisung des ›Narrativ-Filmischen‹ immer kontextgebunden erfolgt und von vielerlei Faktoren wie etwa dem jeweiligen Zeit- und Autorenstil abhängt. Gleichwohl können beispielsweise eine dominante, heterodiegetische Erzählinstanz, der Einsatz von Anadiplosen als Aufmerksamkeitsmarker oder die literarische Imitation von Inserts potenzielle Indikatoren für filmisches Erzählen sein.

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Brössel geht es in seiner Untersuchung mithin nicht um Narrationsformen des Films selbst, wie sie Markus Kuhn vor wenigen Jahren bereits in derselben Reihe behandelt hat, 3 sondern um ein durch das filmische Medium bestimmtes Erzählen in der Literatur. Damit versteht sich die Studie weiterhin nicht als Beitrag zu einer Filmnarratologie (im Sinne einer Narratologie des Films), die sich dem Erzählen im Film widmet, sondern als Beitrag zu einer inter- und transmedialen (Text)narratologie, die filmische Einflüsse, Bezugnahmen, Strukturen und Darstellungsverfahren in erzählender Dichtung analytisch und systematisch zu bestimmen sucht. Dass dies bislang lediglich ansatzweise und unsystematisch erfolgt ist, legt eine souveräne Kompilation der Forschungslandschaft überzeugend dar, die auch den Stand philologischer Nachbardisziplinen wie der Romanistik, Anglistik und Amerikanistik berücksichtigt und die vorherrschende Koexistenz heterogener Begriffskonzepte wie ›filmisches Schreiben‹ (Tschilschke), ›filmische Schreibweise‹ (Kaemmerling), ›kinematographische Erzähltechniken‹ (Schlickers) oder ›kinematographische Strukturen‹ (Greiner) problematisiert. 4 Dieser terminologische Pluralismus verweist evident auf das bisherige Defizit eines systematischen narratologischen Analysemodells, das einerseits audiovisuelle Textphänomene nach einer verbindlichen Systematik erzähltechnisch erfasst und präzise beschreibbar macht, gleichzeitig aber so flexibel bleibt, dass es der Historizität des Gegenstands, also dem geschichtlichen Wandel des Bezugsmediums Film und seines erzählerischen Codes, Rechnung trägt. Ein solches Modell aus konsequent erzähltheoretischer Perspektive zu entwickeln, ist die erklärte Zielsetzung der vorliegenden Studie.

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Methodik und Zielsetzung

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Dies erfordert zunächst einen doppelten Zugang bzw. die Kombination von mindestens zwei Forschungsansätzen, der romanistisch geprägten Intermedialitäts- und Rezeptionstheorie (vertreten von Joachim Paech, Irina O. Rajewsky und Christian von Tschilschke) sowie einer kontextorientierten Narratologie (in Anlehnung an das formalistisch-strukturalistische Transformationsmodell Wolf Schmids). 5 Dem entspricht die anschließende Setzung eines Mikro- sowie eines Makromodells, um zwischen textanalytischen und historisch-kontextuellen Belangen zu trennen. Als zentraler Schritt im Zuge der terminologischen Vereinheitlichung und theoretischen Systematisierung erweist sich dann vor allem die Einführung neuer Kategorien, die es erlaubt, die Textphänomene zu differenzieren und gemäß ihrer graduellen Referenzialität zu kategorisieren: von stark expliziter Markierung, was einer intensiven, eindeutigen filmischen Bezugnahme entspricht, bis zu einer bloß latenten impliziten Markierung.

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Quellenkorpus

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Der avisierte Untersuchungszeitraum ist die zweite Hälfte des ›langen‹ 19. Jahrhunderts mit Schwerpunktsetzung im Bürgerlichen Realismus und der ausgehenden Klassischen Moderne. Ein zeitlicher Exkurs führt zusätzlich in die politische Postmoderne der späten 1960er und 70er Jahre. Als Quellenbasis fungiert ein Querschnitt an zumeist deutschsprachigen Autoren und Werken dieser Epochen, die in der Literaturwissenschaft gemeinhin als besonders ›filmisch‹ angesehen werden, wie Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929), John Dos Passos’ Manhattan Transfer (1925) oder die Romane Charles Dickens’, aber auch Erzähltexte von Friedo Lampe, Vicki Baum sowie für die Zeit nach 1945 von Peter Weiss, Peter Handke und Alexander Kluge. Die exemplarisch und situationsbezogen herangezogenen Filmbeispiele, auf welche die Darstellung darüber hinaus im Zuge der Argumentation rekurriert (wie Friedrich Wilhelm Murnaus Der letzte Mann [D 1924], Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey [UK/USA 1968] oder Christopher Nolans Memento [USA 2000]), erfreuen sich zumeist allgemeiner Bekanntheit, sodass sie den Nachvollzug nicht nur für filmaffine Leser problemlos ermöglichen.

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Anlage und Aufbau der Arbeit

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Strukturell gliedert sich die Studie in insgesamt zehn Kapitel, einschließlich Quellenverzeichnis und Register. Während der erste und zweite Abschnitt expositorischen Charakter besitzen und zunächst in den Forschungsgegenstand einführen sowie Methodik und Ansatz vorstellen, widmet sich Kapitel 3 in kontrastierender Perspektive dem Erzählen im Film. Die vorgeschaltete narratologische Filmanalyse ist deshalb vonnöten, weil sie für die verschiedenen Ebenen, Instanzen sowie die technischen Bedingungen des Referenzmediums sensibilisiert und verdeutlicht, dass der Film stets »in Form einer Komponentenvielfalt« (S. 66) erzählt.

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Dass die narrativen Kategorien der Literatur nicht einfach eins zu eins auf den Film transponierbar sind, ihre Funktion sich hingegen erst im komplexen Zusammenspiel einzelner Elemente ergibt, zeigt etwa das Beispiel der Kamera, die als selegierende, organisierende (und somit auch interpretierende) Instanz die Filmerzählung zwar einerseits konkretisiert, andererseits aber auf Schnitt bzw. Montage als ordnende und sinngenerierende Erzähloperationen angewiesen ist. In einem ähnlichen Interdependenzverhältnis stehen auch die den Erzählprozess begleitende Tonebene sowie insbesondere die Filmmusik, die erst in Verbindung mit dem Bild als ihrem visuellen Pendant die ihr zugewiesene narrative Funktion, etwa als akustisches Leitmotiv oder als Stimmungsverstärker im Dienste der Mood-Technik, entfalten kann.

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Die eigentliche Typologie literarischer Formen filmischen Erzählens ist schließlich Gegenstand des vierten Abschnitts, der damit das theoretische Kernkapitel bildet und die für die Studie relevante Terminologie entwickelt: So wird zunächst zwischen einem offenen Typus (mit dominanter, expliziter Markierung des Filmbezugs) und einem verdeckten Typus, der eine nur sehr schwach explizite bzw. implizite Markierung aufweist, differenziert. Zwischen diesen beiden ideal gedachten Polen entfaltet sich ein weites Spektrum prinzipiell unendlicher Mischformen, das sich nach der referenziellen Intensität der Bezugnahme skalieren lässt: Erzählungen, in denen das Sujet des Films bzw. des Kinos die diegetische Welt bestimmt, wie Arnolt Bronnens Film und Leben Barbara La Marr (1928) oder der ›Hollywood-Roman‹ Du sollst dir kein Bildnis machen (1929) des »Filmbegeisterte(n)« (S. 75) Arnold Höllriegel entfallen damit auf die erste, ›offene‹ Kategorie (auch F. Scott Fitzgeralds The Love of the Last Tycoon (posthum 1941) oder Christian Krachts Die Toten (2016) ließen sich hier subsumieren), während sich am entgegengesetzten Pol Texte wie Alain Robbe-Grillets La Jalousie (1957), Peter Handkes Die Hornissen (1966) oder Erzählungen von Peter Weiss finden, deren Verhältnis zum Referenzmedium nicht primär inhaltlicher Art ist und sich weniger explizit gestaltet. Entscheidend aber ist stets die textkonstitutive Funktion der Bezugnahme in einer oder auch mehreren Instanzen der Narration. Dabei sind gerade auch die weniger eindeutigen Hybridformen, die auf eine inhaltliche Thematisierung verzichten und deren altromediale Referenz sich stattdessen im Erzählakt, beispielsweise durch eine filmanaloge Wahrnehmungsweise der Erzählerfigur oder durch die spezifisch filmische Wiedergabe von Ort und Zeit, konstituiert, narratologisch besonders interessant.

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Dass die Klassifizierung immer auch die Gefahr birgt, das an und für sich komplexe Phänomen filmischer Erzählweisen zugunsten einer normativen Systematik und verbindlicher Zuschreibungen zu reduzieren, wird für den Fall des verdeckten Typus in Kapitel 4.3 reflektiert. An die Stelle einer weiteren typologischen Binnendifferenzierung tritt die Analyse narratologischer Kategorien und Elemente wie Perspektive, Narrator, diegetischer Raum, Zeit und Figur (Kapitel 4.3.1 bis 4.3.5), wobei sich Erzählerinstanz und -perspektive als besonders zentral für die textuelle Evokation einer audiovisuellen Repräsentation erweisen. So kann etwa der Einsatz einer nichtdiegetischen Erzählinstanz Subjektivität und die vermittelte Wiedergabe von Figurenrede (indirekte Rede) vermeiden und damit dem szenischen Erzählen Vorschub leisten, was wiederum auf der Tempusebene (durch Isochronie) literarisch den Effekt filmischer Unmittelbarkeit erzeugt.

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Dass indes die Instanz der Figur vergleichsweise knapp ausfällt und die theoretisch schwächste Kategorie darstellt, ist weniger ein Versäumnis der Studie, sondern liegt in deren prekärem Status innerhalb der Narratologie begründet. Als materialisierte Teilkategorie der erzählten Welt, die meist Handlungs-, gelegentlich auch Perspektivträger ist, wurde sie vonseiten der Erzählforschung jahrelang vernachlässigt und erfuhr erst in jüngster Zeit, allen voran durch die historisch-narratologische Habilitationsschrift von Fotis Jannidis (Figur und Person, 2004), Aufmerksamkeit. Die Ergebnisse der beiden Sammelbände Characters in Fictional Worlds (Jens Eder, 2010) und Figurenwissen (Jappe/Krämer/Lampert, 2012) haben zeitlich leider keinen Eingang mehr in die vorliegende Studie gefunden. 6

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Kapitel 5 und 6 perspektivieren das Phänomen filmischen Erzählens schließlich in historischer Dimension und widmen sich dessen Entstehung im präfilmischen Zeitalter. Dem voraus gehen die technischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts auf den Gebieten von Optik und Mobilität (Erfindung von Diorama und Fotografie, flächendeckender Ausbau der Eisenbahn), die zu einer Dynamisierung des Sehens führen (Kapitel 5). Die veränderten Wahrnehmungsdispositionen schlagen sich in der Folge, so die Annahme, in der Erzählliteratur nieder, die ihrerseits wiederum ästhetisch ›reagiert‹ und hinsichtlich Visualität, Bewegung und Auditivität eine neue Erzähl- und Wirkungsintensität ausbildet. Ob filmisches Erzählen allerdings tatsächlich als »gemeinsames Merkmal der europäisch-realistischen Erzählliteratur insgesamt« (S. 146) deklariert werden kann, muss künftige Anschlussforschung wohl erst noch beweisen. Die postulierten Kriterien wie Konkretheit, Thematisierung und Realisierung visueller Wahrnehmung finden sich jedenfalls auch in Erzählwerken früherer Epochen. Und vermeintlich filmische Indizien erlauben, klammert man ästhetik- oder motivgeschichtliche Kontexte nicht gänzlich aus, immer auch alternative Interpretationen: So lässt sich das Mondlicht in Wilhelm Raabes Chronik einer Sperlingsgasse (1856) gleichsam auch als urromantisches Motiv denn als Indikator einer spezifischen (präfilmischen) Visualität lesen.

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Die Protagonisten und Verfahrensweisen der Institutionalisierung dieser Erzählinnovation in der Moderne sind dann Gegenstand des 6. Kapitels, das die zentralen ästhetischen Positionen der Kino-Debatte paraphrasiert und Ausblicke auf Alfred Döblins Kinostil (Berliner Programm, 1913) sowie auf Kurt Pinthus’ Konzeptualisierung des ›Kinostücks‹ (Kinobuch, 1913/14) bietet. Exemplarische Fallstudien zu Friedo Lampe, Wolfgang Koeppen, Peter Weiss und Alexander Kluge komplettieren schließlich den Band und zeichnen die genetische Entwicklung filmischen Erzählens von den späten 1930ern bis in die 1970er Jahre fort (Kapitel 7). Als Einstieg in die Lektüre böte es sich demzufolge auch an, zunächst die mit 30 Seiten eher kompakt gehaltenen Fallstudien zu lesen, um sich für die Materie zu sensibilisieren, und sich erst im Anschluss mit der hochkomplexen Typologie auseinanderzusetzen, zumal diese in ihrem Argumentationsgang immer wieder exemplarisch auf die Texte verweist. Auch kann etwa die Dichtung des Hamburger und Berliner Autors Lampe, der sich nur schwer literaturhistorisch einordnen lässt, trotz seiner ›Wiederentdeckung‹ und vereinzelter Neuauflagen um die Jahrtausendwende nach wie vor nicht als bekannt vorausgesetzt werden. Eventuell wäre es sinnvoll gewesen, aus Kohärenzgründen die Beispiele auf die frühe Stummfilm- oder gegebenenfalls die frühe Tonfilmzeit zu beschränken, da darauf das wesentliche Augenmerk lag und mit Koeppen und Kluge neue literaturhistorische Kontexte und Ästhetiken eröffnet werden.

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An dieser, aber auch schon an früherer Stelle würde sich zudem statt der Nacherzählung des Handlungsgangs eine präzise rhetorische Textanalyse anbieten, die anschaulich vorführt, wie sich die filmische Bezugnahme nicht nur auf der erzählerischen, sondern gleichsam auch auf der stilistischen, lexikalischen oder syntagmatischen Ebene niederschlägt. Gibt es Zusammenhänge zwischen Tempus, Raumdarstellung und Deiktika? Inwiefern fördert die Perspektive Mittel der Subjektivierung wie Inneren Monolog und Erlebte Rede? Auf welche Weise erfolgt die textuelle Simulation filmischer Inserts und korrespondiert die imitierte Visualität mit ekphrastischen Erzählverfahren? All dies sind Fragen, die für eine nicht ausschließlich narratologisch interessierte Leserschaft durchaus Relevanz besitzen.

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›Filmisches Erzählen‹ ist – das sollte auch in der vorliegenden paraphrastischen Wiedergabe abschließend deutlich geworden sein – ein überaus komplexes Phänomen, das in einem sich permanent wandelnden System wechselseitiger Einflüsse steht und zumeist mehrere Ebenen und Instanzen der Narration betrifft. Aber gerade in der medialen Auffächerung sowie den literarischen Analogisierungsverfahren der Filmtechnik liegt auch der heuristische Reiz und der systematische Erkenntnisgewinn. Aus medienästhetischer und -komparativer Sicht wiederum spannend sind die verschiedenen Abgrenzungsmechanismen, welche die Literatur in selbstlegitimatorischer Funktion gegenüber dem Konkurrenzmedium vornimmt, indem sie beispielsweise der Figurenrede, auf deren auditive Wiedergabe ja zumindest der frühe Film verzichten musste, eine markante Rolle zuweist.

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Ergebnisse, Wertung und Ausblick

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Textästhetisch und -interpretatorisch geschulte Kritiker mögen zuweilen die Ausschnitthaftigkeit und Paradigmengebundenheit eines solchen Zugangs bemängeln: Denn viele Texte lassen sich zwar partiell und rein erzähltechnisch als ›filmisch‹ definieren, jedoch bleibt offen, ob diese Lesart auch im diskursiven Ganzen überzeugt, etwa wenn man den Gesamttext berücksichtigt oder externe Indikatoren wie den literarischen Markt, Autorenintentionen oder Produktions- und Rezeptionsbedingungen hinzuzieht. Für eine tragfähige Interpretation, auf welche die Studie heuristisch zwar nicht zielt, die sich jedoch aus der praktischen Anwendung der Typologie ergibt, wäre demnach die Intensität und Verhältnismäßigkeit der filmischen Bezugnahmen in Relation zu sonstigen Einflussfaktoren zu prüfen. Aus einer solchen Perspektivverschiebung in Richtung einer benutzerorientierten Textanalyse- und Wertungsforschung könnte dann auch ein systematischer wie terminologischer Mehrwert gezogen werden, indem der eingangs skizzierte Typenkatalog auf seine Gültigkeit hin überprüft, gegebenenfalls korrigiert und um zusätzliche Binnenkategorien erweitert würde. Konkret ließe sich etwa ein Zusatzkapitel erwägen, das gezielt literarische Ausnahmen und abweichende Fallbeispiele versammelt, um anhand dieser neuralgischen Punkte, die sui generis jedem taxonomisch-systematischem Ansatz eigen sind, Schwächen von vornherein in das Modell zu integrieren und damit dem Pauschalvorwurf eines allzu rigiden Schematismus zuvorzukommen. Um auch in der Anwendungspraxis nutzbar zu sein, wären zudem ein ergänzendes Begriffsglossar oder eine noch markantere Hervorhebung der entwickelten Kategorien und Termini hilfreich, die es erlauben, sich auch mit zeitlichem Abstand der Lektüre mittels schnellem Zugriff zu orientieren.

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Auf literaturtheoretischer Ebene ließe sich darüber hinaus erwägen, auch themenverwandte Forschungsfelder zum Konnex von Literatur und Visualität, wie beispielsweise das der Kunstwissenschaft entlehnte Konzept der literarischen Ekphrasis oder Mimesis-Imitatio-Theorien (vgl. stellvertretend Weisstein 1992, Boehm/Pfotenhauer 1995) 7 , auf ihre potenzielle Amplifizierbarkeit des in nuce rein narratologischen Ansatzes hin zu diskutieren. Vor dem Hintergrund der erzähltheoretischen Öffnung der rezenten Drehbuchforschung (vgl. insbes. Tieber 2015) 8 wäre ferner auch eine stärkere Reflexion auf das Filmskript als Zwischenmedium und als textuelle Vermittlungsform (insbesondere im Zusammenhang mit den Ausführungen zum szenischen Erzählen und der direkten Rede in Kapitel 4.3) zu erwägen. Dass es sich hierbei allenfalls um eine Aufgabe für nachfolgende Forschungen handeln kann, sei an dieser Stelle indes noch einmal ausdrücklich betont, zumal die Studie implizit auch dazu einlädt, indem sie die Vorläufigkeit und die prinzipielle Erweiterbarkeit des Modells eigens thematisiert: »Die Typologie gilt grundsätzlich als offen.« (S. 85).

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Eine wesentliche Herausforderung, welche die Studie wohlweislich als Manko älterer, rein intermedialitätstheoretischer Ansätze problematisiert, besteht schließlich noch in der geschichtlichen Diskrepanz zwischen Referenzmedium und Untersuchungsgegenstand. Denn das Modell wird anhand eines zeitlich jüngeren Films entwickelt, dessen (erzähl)technischer Entwicklungsstand implizit mindestens auf die 1980er Jahre verweist, das literarische Korpus hingegen bildet eine Kunstform ante rem, nämlich die Erzählliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, als es den Film selbst noch gar nicht gab bzw. als dieser gerade erst im Entstehen begriffen war. Der Verfasser löst den Widerspruch zwar dadurch, dass er den Film in Anlehnung an Paech nicht als alleiniges Referenzmedium anerkennt, sondern das ›Filmische‹ vielmehr als tertium comparationis von Literatur und Film, also als medienunabhängige Kategorie definiert – was es ihm erlaubt, auch filmantizipierende (präfilmische) Darstellungsverfahren zu berücksichtigen –, kann aber nicht vollends über den Eindruck einer Hilfskonstruktion hinwegtäuschen, zumal der zeitliche Hiatus an späterer Stelle nicht mehr thematisiert wird.

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In ihrem grundlegenden Anliegen, das Phänomen filmischen Erzählens in seiner ganzen historischen wie formalen Variabilität zu erfassen, gibt die Studie dem Leser allerdings fraglos ein hochpräzises Analysemodell an die Hand, mit dem es gelingt, die Aneignung und Transformation audiovisueller Darstellungsverfahren des Films in verbalsprachlichen Erzählweisen der Literatur begrifflich zu fassen, zu analysieren und in einer schlüssigen Systematik zu verorten. Diese abschließenden Überlegungen sind mithin mehr als produktiver Widerhall der Lektüre und konstruktiver Impuls für eine künftige Anschlussforschung denn als Monita grundsätzlicher Natur zu verstehen und schmälern in keiner Weise die Leistung der richtungsweisenden Arbeit, die nicht zuletzt auch darin besteht, dass erstmals beide Medien, Literatur und Film, ganzheitlich aus der Perspektive einer transmedialen Narratologie typologisch erfasst und beschrieben werden.

 
 

Anmerkungen

Stephan Brössel: Der komponierte Erzähler im Film. Möglichkeiten und Grenzen eines transmedialen Erzähler-Konzepts am Beispiel von Formans Amadeus. In: Matthias Lorenz (Hg.): Film im Literaturunterricht. Von der Frühgeschichte des Kinos bis zum Symmedium Computer. Freiburg i. Br.: Fillibach 2010, S. 53–77. Ders.: Rätselhafte Reizüberflutung: Alexander Kluges Fernsehformate und die Reflexion von Wahrnehmung. In: Der Deutschunterricht 3 (2012), S. 78−87.   zurück
Andreas Blödorn/Stephan Brössel/Susanne Kaul (Hg.): Zeitfiktionen. Reflexionen und Funktionen von Zeit in Literatur und Film. (Zeit und Text 22) Berlin u.a.: De Gruyter [voraussichtl. 2018].   zurück
Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. (Narratologia 26) Berlin u.a.: De Gruyter 2011. Auch der gleichsam an der Universität Hamburg entstandene Sammelband Probleme filmischen Erzählens zielt, trotz produktiver Anleihen bei der philologischen Erzählforschung (insbes. im Beitrag von Jens Eder), vornehmlich auf rezente Forschungsfragen der Filmnarratologie: Vgl. Hannah Birr/Maike Sarah Reinerth/Jan-Noël Thon (Hg.): Probleme filmischen Erzählens. (Beiträge zur Medienästhetik und Mediengeschichte 27) Berlin: Lit Verlag 2009.   zurück
Vgl. Norbert Greiner: Kinematographische Strukturen im Roman. In: Trierer Beiträge 15 (1985), S. 12-21; Ekkehard Kaemmerling: Die filmische Schreibweise. Am Beispiel Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 5 (1973), H. 1, S. 45–61; Christian von Tschilschke: Roman und Film. Filmisches Schreiben im französischen Roman der Postavantgarde. (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 46) Tübingen: Narr 2000; Sabine Schlickers: Verfilmtes Erzählen. Narratologisch-komparative Untersuchung zu El beso de la mujer araña (Manuel Puig/Héctor Babenco) und Crónica de una muerte anunciada (Gabriel García Márquez/Francesco Rosi). (Editionen der Iberoamericana, Serie A: Literaturgeschichte und -kritik 14) Frankfurt a. M.: Vervuert 1997.   zurück
Vgl. Irina O. Rajewsky: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne. Von den giovani scrittori der 80er zum pulp der 90er Jahre. Tübingen: Narr 2003; Dies.: Intermedialität. Tübingen/Basel: Francke 2002; Christian von Tschilschke (wie Anm. 4); Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. 3., überarb. und erw. Aufl. Berlin u.a.: De Gruyter 2014 [2005].   zurück
Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. (Narratologia 3) Berlin u.a.: De Gruyter 2004; Lilith Jappe/Olav Krämer/Fabian Lampert (Hg.): Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung. (Linguae & litterae 8) Berlin u.a.: De Gruyter 2012; Jens Eder (Hg.): Characters in Fictional Worlds. Understanding Imaginary Beings in Literature, Film, and other Media. (Revisionen 3) Berlin u.a.: De Gruyter 2010.   zurück
Gottfried Boehm/Helmut Pfotenhauer (Hg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München: Fink 1995; Ulrich Weisstein: Literatur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Berlin: Schmidt 1992.   zurück
Claus Tieber: Drehbuchforschung zwischen Narratologie und Produktionsästhetik. In: MEDIENwissenschaft 3 (2015), S. 311–324.   zurück