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Europäisches Wissen und reiseliterarische Selbsterkenntnis. Johannes Görbert untersucht die Vertextung der Welt bei Forster, Humboldt und Chamisso.

  • Johannes Görbert: Die Vertextung der Welt. Forschungsreisen als Literatur bei Georg Forster, Alexander von Humboldt und Adelbert von Chamisso. (WeltLiteraturen / World Literatures 7) Berlin u.a.: Walter de Gruyter 2014. 426 S. 10 s/w, 6 farb. Abb. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-036865-9.
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Der Germanist Johannes Görbert hat mit seiner Studie Vertextung der Welt eine breit angelegte und äußerst gründlich recherchierte Untersuchung des Reiseberichts in der Moderne am Beispiel der Werke von Georg Forster, Alexander von Humboldt und Adelbert von Chamisso vorgelegt. Die Arbeit behandelt die Frage, »wie Wirklichkeitserfahrung in die Form von naturwissenschaftlich-literarischen Texten gebracht wird und welche kulturgeschichtlichen Aufschlüsse sich aus diesen Gestaltungsarten ergeben« (S. 3). Der Begriff der Wirklichkeitserfahrung ist dabei das Scharnier zwischen der in den Reisetexten vollzogenen Objektivierung der bereisten Gebiete und ihrer Erforschung auf der einen und der literarisch inszenierten Subjektivierung der dabei durchlebten Erfahrungen auf der anderen Seite.

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Die Reflexion über die Beschaffenheit der Welt ist – so eine Grundthese der Arbeit – eng verbunden mit der Reflexion über die Position des Selbst in dieser Welt. Als Medium einer weitgehend simultanen und in seiner »Vertextung« mitunter nicht voneinander zu trennenden Autopsie von Wirklichkeit und Selbst kommt der (Reise-)Literatur eine privilegierte Stellung zu, womit das Desiderat der Arbeit benannt ist: die »Frage nach der Literarisierung von historischer Realität« (S. 5). Das Konstrukt des Reisetextes ist zwar hoch artifiziell, sein Bestreben aber liegt in der Herstellung einer ›narratio vera‹, in der die Ebenen von Reisegeschehen, Reisegeschichte und Reiseerzählung komplex miteinander verwoben sind und in ihrer Aussagekraft beständig schwanken zwischen dem ›truth claim‹ von Empirie und Zeugenschaft als Instanzen von Wahrhaftigkeit auf der einen und dem ›self-fashioning‹ der reiseliterarischen Akteure auf der anderen Seite.

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In der Auswahl der Autoren und Texte ist die Studie komparatistisch angelegt, handelt es sich doch bei allen drei um mehrsprachige Schriftsteller mit äußerst welthaltigen Biographien und Lebensentwürfen, deren Werk in Deutsch, Englisch und Französisch geschrieben wurde und von denen jeder auf seine Weise maßgeblich zur Herausbildung des (wissenschaftlichen) Reiseberichts als Gattungsbegriff der deutschen und europäischen Literaturgeschichte beigetragen hat. Das systematische Interesse formuliert Görbert mutig als Frage, »wie sich Reisen als Literatur darstellen bzw. welche theoretischen, typologischen und poetologischen Schlussfolgerungen sich für das Genre aus dem Material der exemplarischen Texte von Forster, Humboldt und Chamisso ableiten lassen« (S. 8 f.). Ideengeschichtlich umfassen die ausgewählten Texte die Koselleck’sche ›Sattelzeit‹ in geradezu klassischer Manier von Forsters A Voyage around the World (1777) über Humboldts Relation historique (1814 - 1831) bis zu Chamissos Tagebuch der Reise um die Welt (1836). Die Arbeit legt ihren Schwerpunkt auf die »schriftstellerische Darstellung der kulturellen Praxis des Reisens« (S. 14 f.) und verbindet damit literatur- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen.

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Bereits in der geradlinigen Einführung überzeugt die Studie durch ihren unaufgeregten und stilsicheren Sprachgestus sowie einen in der Aufarbeitung der umfangreichen Sekundärliteratur äußerst souveränen Umgang mit verschiedensten Positionen der Forschung. Das ist schon deswegen bemerkenswert, weil sich Görbert mit seinen drei Autoren jeweils komplexe Werk- und Wirkungskontexte ausgesucht hat, die jede für sich umfassende und teil-autonome Forschungsfelder begründen und darüber hinaus noch an der Schnittstelle von Literaturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte ein nicht immer klar ausgeleuchtetes Feld kulturwissenschaftlicher Forschung definieren, in dem sich Phänomene der Vereinnahmung oder Überforderung gleichermaßen leicht einstellen können. Auch entgeht er der Gefahr einer fast schon zwangsläufigen Falle akademischer Selbstlegitimierung durch den Anspruch »zum unbedingten Nachweis von Aktualität« (S. 23). Im Gegenteil lotet Görbert an mehreren Stellen die Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen seiner Studie aus und bekennt sich offen dazu, dass die von ihm untersuchte »Praxis des Reisens und Forschens […] zwar heute noch reichhaltiges Material für gegenwartsrelevante Erkenntnisse bietet, aber zugleich auch an vielen Stellen die historische Distanz von circa zwei Jahrhunderten deutlich sichtbar werden lässt« (ebd.). Dass die damit verbundene Positionierung nicht selbstverständlich ist, sagt sicher viel über die Verhandlungspositionen gegenwärtiger geisteswissenschaftlicher Spitzenforschung.

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Die Architektur der Arbeit folgt einem rhythmischen Wechsel von Perspektive und Segmentierung auf der strukturellen und einer Gegenüberstellung von vorrangig textimmanenten und literatursoziologischen Untersuchungsmethoden auf der analytischen Ebene. Die als Perspektive angeordnete Analyse befragt zunächst auf einer Makroebene (›top down‹) und einer Mikroebene (›bottom up‹) die Reisetexte auf ihre paratextuellen Programmatiken und erzählerischen Gattungstraditionen hin und richtet sich anschließend auf die Inszenierungs- und Verortungsstrategien von Erzähler- und Autorinstanzen. Die konkreten Fallstudien konzentrieren sich hingegen (fast immer) auf jeweils einen der drei Autoren. Dies gilt sowohl für die textimmanenten als auch für die literatursoziologischen Kapitel. In großer Synchronie gibt es darüber hinaus zu jedem der vier Hauptkapitel eine Einleitung sowie eine Zusammenfassung.

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Görbert gelingt es trotz dieser zunächst recht strengen Segmentierung, in kurzen Synthesen immer wieder die verbindenden Momente zwischen den Texten herzustellen. So zeigt die enorme Vielfalt der schriftstellerischen Strategien auf mikrotextueller Ebene ein doch allen drei Autoren gemeinsames Bewältigungsproblem, das auf die zentralen Funktionsweisen reiseliterarischer Darstellungen hinweist: »Stets geht es im Kern um die schriftstellerische Veranschaulichung von Erfahrungen während der Forschungsexpeditionen, die von ihrer autobiographischen Qualität her prinzipiell nur schwer zur Sprache zu bringen sind« (S. 200). Wie Görbert zeigt, kennzeichnet es alle Texte, das hier beschriebene Problem durch eine Ausweitung der Konventionen des Reiseberichts, einer innovativ-kritischen Arbeit an der Form also, auflösen zu wollen.

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Die Segmentierung der Arbeit erlaubt verschiedene Wege in das Buch, etwa sich einzelne Kapitel zu Forster, Humboldt oder Chamisso herauszunehmen und als in sich abgeschlossene Texte und Einzeluntersuchungen zu lesen. Auch hier zeigt sich die besondere Qualität der vorliegenden Studie, etwa in Görberts Ausführungen zur Typologie Humboldts als »Causeur« (S. 231) sowie – daraus abgeleitet – zur Wirkungsästhetik der Ansichten der Natur als exemplarisches Textzeugnis einer »konzeptionellen Mündlichkeit« (S. 237), die wiederum Text- und Schreibphänomene erhellt, die sich durchaus auf weitere Teile von Humboldts Werk verallgemeinern lassen und ähnliche Ansätze der Humboldt-Forschung überzeugend weiterführen.

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Das fünfte Kapitel zur Frage der »Selbstverortungen« der Autoren wiederum überzeugt vor allem in seiner Syntheseleistung jenseits der Einzelperspektive auf Forster, Humboldt und Chamisso. Es ist faszinierend, durch Görberts Blick die Strategien der Autoren im Wechsel aus Bezugnahme und Abgrenzung untereinander aber auch zu Zeitgenossen wie Cook, Banks, Kotzebue oder Goethe nachzuvollziehen. Die komplexe Modellierung einer »Werk-Persona« (S. 340) durch literarische Manöver in Publikationen und Korrespondenzen, mit denen die »gewürdigten Schriftsteller-Kollegen wie Schachfiguren« (S. 310) verschoben werden, zeigt sich in den Einzelstudien genauso wie als Quintessenz dieses Kapitels und wirft ganz in Bourdieu‘scher Manier ein erhellendes (wenn auch für die Akteure nicht immer vorteilhaftes) Licht auf das literarische Feld der Zeit. Freilich verschiebt sich hier der Fokus weg von einer reiseliterarischen »Vertextung der Welt«, wie es im Titel heißt, hin zu einer sozialtheoretisch analysierten (Selbst-)Literarisierung der schreibenden Akteure und in der Folge zu einer Kritik des autobiographischen Schreibens. Dem analytischen Mehrwert der Arbeit schadet dieser Perspektivwechsel nicht, liegen Reiseliteratur- und Autobiographieforschung doch schon aufgrund ihrer offensichtlichen Gattungsnähe in analytischer Reichweite zueinander.

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Die Vertextung der Welt speist sich also aus einer Vielzahl literatur- und kulturwissenschaftlicher Fragstellungen und bereichert diese um eine außergewöhnlich belesene und klar argumentierende Untersuchung dreier prominenter Akteure der deutschen und europäischen (Reise-)Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, deren kulturelles Kapital als hochkanonisierte Werke Görberts Buch durchaus den Status einer exemplarischen Analyse zukommen lässt. Wenn auch zuweilen die Klammer, die der Autor mit seinen analytischen Perspektivwechseln öffnet, recht weit ausfällt, gelingt doch immer die Rückbindung an die Grundfrage nach den Möglichkeiten und Bedingungen von Reise(erfahrung) als Literatur. Das Schreiben über die Reise als Dispositiv von Welt- und Selbsterfahrung ist – so könnte man hinzufügen – stets ein schriftstellerisches Wagnis gewesen. Johannes Görbert hat sich mit der selbst gestellten Aufgabe, auf diese Frage hin das Werk von Georg Forster, Alexander von Humboldt und Adelbert von Chamisso parallel und transversal zu untersuchen, auf ein ziemliches Wagnis eingelassen. Zum Glück für die Forschung ist daraus ein hervorragendes Buch geworden.