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Goethes Dichtung im Lichte seiner Religionsauffassung

  • Konrad Rahe: Religionskritik in Goethes 'Prometheus'-Hymne, in den 'Venezianischen Epigrammen' und in der Ballade 'Die Braut von Corinth'. Ein Beitrag zum Thema 'Goethe und das Christentum'. (Studien zur Kirchengeschichte 22) Hamburg: Kovac 2014. XII, 418 S. Kartoniert. EUR (D) 99,80.
    ISBN: 978-3-8300-8132-6.
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Es ist kaum zu bestreiten, dass Goethe dem Christentum vornehmlich ablehnend gegenüberstand. Er bezeichnete »die ganze Lehre Von Christo« als ein »Scheisding« 1 und bekundete zeitweise einen »wahrhaft julianische[n] Haß« 2 gegen ihre Anhänger. Philosophen wie Lukrez und Spinoza, deren Ansichten mit dem Christentum schwer zu vereinbaren sind, wurden von ihm bewundert. Diese Tatsachen sind bekannt. 3 Trotzdem wurde bisher noch nicht systematisch untersucht, wie Goethes Religionsauffassung die Komposition seiner literarischen Werke bestimmt. Konrad Rahes Buch erforscht nun exemplarisch, wie sich Goethes Lust, das Christentum und seine Anhänger anzugreifen, in seiner Dichtung äußert.

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Die Arbeit ist in vier Abschnitte gegliedert: Sie beginnt mit einer kurzen Übersicht der teils zutreffenden, teils abstrusen Behauptungen, die in der Vergangenheit über Goethes Verhältnis zum Christentum aufgestellt wurden. Es folgen Kapitel zum Prometheus, zu den Venezianischen Epigrammen und zur Braut von Corinth. Rahe beschränkt sich auf eine Analyse dieser Werke und verzichtet bewusst auf eine allgemeine Erörterung z.B. von Goethes ›Pantheismus‹. Sein Anliegen ist es, in den ausgewählten Texten möglichst alle gegen das Christentum gerichteten Pointen aufzuklären, um auf diese Weise die Reichweite und Kraft der literarischen Religionskritik zu würdigen. Dieses Ziel verfolgt er mit großer Beharrlichkeit und Sachkenntnis.

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Was heißt ›Religionskritik‹?

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Rahe tut sich in seinen methodologischen Bemerkungen sichtlich schwer, den Gegenstand der Untersuchung genau zu bestimmen. Es geht ihm nach eigenem Bekunden »um Blicke, die [...] Goethe in verschiedenen Phasen seines Lebens auf das Christentum wirft, so, wie es in einigen seiner Gedichte zum Ausdruck kommt« (S. 1). Dieser etwas ungeschickt formulierte Satz (worauf bezieht sich ›es‹?) deutet auf eine Schwierigkeit hin, die sich in der Arbeit immer wieder bemerkbar macht. Genau genommen sind es nämlich nicht »Blicke«, die erforscht werden, sondern etwas, das Goethe als Dichter in seinen Werken tut, z.B. Christus und seinen Jüngern Betrug unterstellen oder Geringschätzung gegenüber dem Kreuz zum Ausdruck bringen. ›Religionskritik‹ ist eine allgemeine Bezeichnung für etwas, das der Autor im Gedicht vollzieht. Indem nun Rahe die Gedichte vornehmlich als »Quelle« (S. 229) für Goethes Haltung zum Christentum auswertet, vernachlässigt er eine sorgfältige Analyse der literarischen Technik.

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Religionskritik kann, je nach Literaturgattung und der für sie relevanten Bedürfnisse, verschiedene Formen annehmen. In Goethes Gedichten äußert sie sich auf eine andere Art als in Spinozas Tractatus theologico-politicus oder Bayles Dictionnaire historique et critique. Man muss die besonderen Interessen des Dichters beachten, um zu verstehen, wie Religionskritik in seinen Werken funktioniert. Goethes Gegnerschaft zum Christentum ist unter anderem mit seinen ästhetischen Vorlieben, seinem Selbstverständnis und nicht zuletzt auch mit seinem dichterischen Geltungsdrang verbunden. Diese Zusammenhänge werden von Rahe weitgehend ignoriert.

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Prometheus

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Es ist naheliegend, eine Untersuchung über Goethes religionskritische Dichtung mit Prometheus zu beginnen. Friedrich Heinrich Jacobi bezeichnete das Werk als ein »in sehr harten Ausdrücken gegen alle Vorsehung gerichtete[s] Gedicht« 4 . Lessing hatte den Eindruck, dass der Verfasser eine Betrachtungsweise nahelegt, die dem »orthodoxen Begriffe von der Gottheit« 5 scharf entgegengesetzt ist. In dem Gespräch, das sich an dieses Gedicht anknüpft, bekennt sich Lessing – Jacobis Bericht zufolge – zu einer Auffassung, die ein hohes Maß an aufgeklärter Ungläubigkeit voraussetzt. In der derzeitigen Forschung herrscht hingegen einige Unsicherheit darüber, ob man das Gedicht richtig auslegt, wenn man es als Angriff auf das Christentum versteht.

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Rahe scheint zunächst den Beweis führen zu wollen, dass das Gedicht gegen den Begriff eines allmächtigen und gütigen Gottes gerichtet ist. Er legt weitgehend überzeugend dar, wie der Dichter durch biblische Anspielungen und die Aneignung biblischen Sprachgebrauchs zu verstehen gibt, dass nicht nur der alles lenkende und leitende Zeus diskreditiert werden soll, sondern auch das etablierte Gottesbild seiner christlichen Zeitgenossen. Für Rahe ist der Prometheus ein »poetischer Beitrag zur Kritik an der christlichen Religion« (S. 52). Hier müsste man näher bestimmen, welche Auffassung des Christentums Gegenstand der Kritik ist, denn ›das‹ Christentum gibt es nicht. Rahe hätte in diesem Zusammenhang deutlich machen können, dass die Vorstellung, gegen die sich das Gedicht wendet, auch von vielen aufgeklärten Anhängern des Christentums, ja selbst von optimistischen Deisten geteilt wurde. Die Hypothese, dass in Goethes Gedicht der Gott, an den die Christen ihre Gebete richten, als Einbildung entlarvt wird, kann Rahe durch neue Argumente stützen. Er unterlässt es jedoch leider, auf die Ideen hinzuweisen, die Spinoza im Anhang zum 1. Teil der Ethik formuliert, obwohl es naheliegend ist, dass Goethe sie gekannt und für seine Zwecke genutzt hat.

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Nachdem er wichtige Belege für die antichristliche Tendenz des Gedichts gesammelt hat, vollzieht Rahe in seinem Gedankengang eine erstaunliche Kehrtwende. Er lässt sich von Ulrich Gaier überzeugen, dass die religionskritische Auffassung stark relativiert werden müsse. 6 Gaier habe plausibel gemacht, dass die Aussage über die Abhängigkeit der Götter von »Opfersteuern« und »Gebetshauch« 7 zur Selbstvernichtung des Sprechers führe, da dieser selbst der Götterwelt zuzurechnen sei. Er habe weiterhin auf den Widerspruch zwischen der Erklärung, Zeus »nicht zu achten«, und der Tatsache, dass dieser im Gedicht fortwährend apostrophiert werde, hingewiesen. Und schließlich habe Gaier gezeigt, »daß man die Haltung des Prometheus als eine des Undanks verstehen kann« (S. 60). Diese Argumente widersprechen in Rahes Augen der Auffassung, dass der Dichter das Bild eines Gottes, der Klagen hört und Wunder wirkt, entkräften will: Indem Goethe einen Prometheus vorführe, der sich undankbar zeige und in Widersprüche verwickle, werde die Gottheit nicht in Frage gestellt, sondern indirekt bestätigt.

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Während Gaier gegen die religionskritische Auffassung des Gedichts argumentiert, behauptet Rahe, dass Gaiers Interpretation und die religionskritische Auffassung gleichermaßen gültig seien: »Das Erfordernis, [...] unterschiedliche, ja einander widersprechende Deutungen gelten zu lassen, ist angelegt in Goethes eigener, polyperspektivischer Denkweise« (S. 61). Es ist richtig, dass Goethe Dinge von mehr als einer Seite betrachtete, aber man sollte an dieser Stelle nicht vergessen, dass es um die Komposition eines Gedichts geht, das in seinem Verlauf spezifische Reize entfalten und eindrucksvoll wirken soll. Es ist nicht ersichtlich, wie das Werk gleichzeitig als Herausforderung des akzeptierten Gottesbegriffs und als entlarvende Darstellung der Vorwürfe des Prometheus gewürdigt werden kann. Man kann wohl sagen, dass es unvereinbare Auffassungen davon sind, worin der Reiz des Werks besteht. Es spricht vieles dafür, dass man abwägen und entscheiden muss, ob das Gedicht zur Bewunderung über die gewagte Provokation oder zur Genugtuung über die Darstellung eines undankbaren Prometheus einlädt.

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Aristoteles macht in seiner Poetik darauf aufmerksam, dass Dichter bestimmte (nicht allzu aufdringliche) Widersprüche in Kauf nehmen, wenn sie auf diese Weise erreichen können, dass ihre Darstellung den gewünschten Eindruck macht. 8 Man sollte sich bei Ungereimtheiten also stets fragen, was die im jeweiligen Kontext wirksamen Interessen des Dichters sind. Werden die Ungereimtheiten ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt? Oder sollen sie möglichst unbemerkt bleiben bzw. wohlwollend vernachlässigt werden? Diese aristotelische Denkweise hätte Rahe dabei helfen können, die Schwierigkeiten, die von Gaier aufgeworfen werden, zu lösen. Es gibt keinen Grund, die Annahme zu akzeptieren, dass der Dichter entweder ein Gedicht unter strenger Beachtung der mythologischen Angemessenheit gestaltet oder absichtliche Ungereimtheiten erzeugt. Es ist durchaus möglich, dass Goethe seinen Prometheus eine selbstbewusste Kampfansage äußern lässt, mit der er zu verstehen gibt, dass das christliche Gottesbild auf natürlichen Ursachen wie Furcht und Unwissenheit beruht – und die dabei entstehenden Spannungen um der Vorteile willen hinnimmt, die ihm diese Konstruktion bietet.

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Die weiteren Überlegungen, die Rahe, in enger Anlehnung an einen Aufsatz von Hans-Jürgen Schings, entwickelt, stützen wiederum die religionskritische Interpretation 9 : Goethes Gedicht lasse sich als Kontrafaktur von Gewitterliedern verstehen, die das Bild eines zornigen Gottes entwerfen und das Unwetter als Strafandrohung deuten. Um die selbstbewusste Haltung des Prometheus zu verstehen, müsse man die Erfindung des Blitzableiters und den damit einhergehenden Bewusstseinswandel in Rechnung stellen. Im Gegensatz zu Schings, der Goethes Nähe zur Radikalaufklärung betont, möchte Rahe ihn vom Atheismus abgrenzen (S. 79 f.) – leider ohne diesen problematischen Begriff näher zu untersuchen. Letztlich gelingt es ihm nicht, die Traditionen der Religionskritik präzise zu bestimmen, die Goethe für sein Gedicht fruchtbar macht. Allerdings stärken seine Ausführungen fast durchgehend die Vermutung, dass die polemische Kraft des Gedichts auf einer Religionsauffassung beruht, die von den Ideen der radikalen Aufklärung geprägt ist.

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Venezianische Epigramme

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Die Epigramme im Stil Martials, die Goethe während seines Aufenthalts in Venedig und in den Monaten nach seiner Rückkehr verfasst hat, bilden den eigentlichen Schwerpunkt der Untersuchung. 10 Rahe schenkt den von Schiller zensierten, lange unterschätzten und in der Forschung vernachlässigten Texten die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Indem er sie im Hinblick auf ihre Religionskritik analysiert, vertieft er das Verständnis ihrer Komposition und präzisiert in manchen Einzelheiten das Goethe-Bild. Wertschätzung verdient Rahes Arbeit auch dafür, dass sie durch die Beschreibung der erstaunlichen Frechheit des Dichters die harmonisierende Vorstellung von der ›Weimarer Klassik‹ stillschweigend demontiert. 11

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Rahe zeigt, dass einige Gedichte der Sammlung »religionskritische Texte von unerhörter Aggressivität« (S. 219) sind. Die christliche Lehre wird in nahezu jeder Hinsicht satirisch angegriffen: Erbsünde, Offenbarung, Göttlichkeit Jesu, Jungfrauengeburt, Auferstehung, Jüngstes Gericht, Transsubstantiationslehre, Kultus und Gebet werden der Lächerlichkeit preisgegeben. Jesus, seine Jünger und die Evangelisten werden als Betrüger dargestellt. Herrscher und Priester, die das Christentum nutzen, um die Ungebildeten zu kontrollieren, sind Gegenstand der Verachtung. Das Kreuz und die Darstellung von Wundern in Gemälden werden als Zeichen schlechten Geschmacks gewertet. Besonders vernichtender Spott trifft Johann Caspar Lavater, der das Christentum verteidigt und somit seine Fähigkeiten in den Dienst von »Unsinn und Lüge« 12 stellt.

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Das erste Epigramm bezeichnet Rahe treffend als ein »programmatisches Lob des antiken Heidentums« (S. 100). Goethe vergleicht darin seine Gedichtsammlung mit einem römischen Sarkophag, der durch seine figürlichen Verzierungen »reichlich mit Leben geschmückt« 13 den Tod gewissermaßen überwältigt. Rahe meint, dass Goethe der Todesfurcht »als Antidot die heidnische Vorstellung von der Wichtigkeit des Nachruhms entgegenstellt« (S. 104 f.). Diese Auslegung ist eher zweifelhaft. Denn das Epigramm konzentriert sich, genau genommen, nicht auf die Vorstellung des Nachruhms, sondern auf die Haltung zum Leben, die sich in der Gestaltung der heidnischen Sarkophage manifestiert. Die Erwähnung der »Asche« 14 des Dichters, die Goethe in der erweiterten Fassung des Gedichts hinzufügt, wirkt hinsichtlich des Nachruhms eher desillusionierend und erinnert an Martials »cineri gloria sera venit« 15 . Rahe besteht – gegen Hans Bernsdorffs scharfsinnige Auslegung 16 – darauf, dass dieses für die Sammlung wegweisende Gedicht Ausdruck einer »enormen Todesverdrängung« (S. 101) sei. Aber das Klischee, Goethe habe keine rationale Einstellung zum Tod entwickelt, wird durch die Wiederholung nicht glaubwürdiger: Indem sich der Dichter zu einer Begräbniskultur bekennt, die das Leben künstlerisch vergegenwärtigt, ohne der Hoffnung auf persönliche Fortdauer Raum zu geben, akzeptiert er die Endgültigkeit des Todes.

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Der »antike Sensualismus« (S. 129), der sich in zahlreichen Epigrammen bemerkbar macht, wird von Rahe in den Vordergrund gestellt. Er legt überzeugend dar, wie der Dichter, indem er die Gegenstände, die den Christen heilig sind, regelmäßig in obszöne Zusammenhänge stellt, die »Leibfeindlichkeit« ihrer Religion offenlegt (S. 127–156). So erhellend und amüsant diese Erläuterungen größtenteils sind, erwecken sie zuweilen den irreführenden Eindruck, dass ›Heidentum‹ dasselbe bedeute wie »gesunde Erotik« (S. 137). Der Dichter, der beschließt, »als ein vernünftiger Mann, als ein vergnügter« 17 zu leben, wird bei Rahe zu einem Mann, »der erotisch nichts zu entbehren hatte« (S. 157). Mit derartigen Banalitäten wird man dem Charakter der Gedichte, die zwar häufig derb, aber niemals plump sind, nicht gerecht. Das Beiwort ›vernünftig‹, das mit dem intellektuellen Versagen der Christen kontrastiert, ist nicht weniger wichtig als ›vergnügt‹, das die Fähigkeit bezeichnet, Lust und Freude an den dazu geeigneten Gegenständen zu haben. Neben der Disposition, körperlicher Schönheit und sinnlichem Vergnügen den richtigen Wert zuzumessen, beinhaltet Goethes ›Heidentum‹ ein freies, selbstbewusstes Denken, das sich den Wunderberichten und den Geheimnissen des Glaubens nicht demütig unterwirft, sondern ihnen mit kultivierter Ungläubigkeit begegnet.

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Jene Abschnitte, in denen Rahe darauf zu sprechen kommt, dass Goethe nicht bei dem schlichten Gegensatz von Heidentum und Christentum stehen bleibe (S. 197–206, S. 226–227), gehören zu den interessantesten der Untersuchung. Goethe betont zum einen, dass die Christen Einsichten der Heiden aufnehmen, um ihre intellektuelle Blöße zu kompensieren, also »die nackende Scham weislich mit Menschenvernunft« 18 bedecken. Zum anderen wird die antike Philosophie nicht einfach mit klarem Verstand und einer richtigen Schätzung der irdischen Güter gleichgesetzt. Die Lehre der Stoiker wird vom Dichter aus ähnlichen Gründen abgelehnt wie das Christentum. Hier allein auf die besonderen Lebensumstände des Autors zu verweisen, wie es Rahe tut, ist allerdings nicht sonderlich überzeugend. Es ist eine unzulässige Vereinfachung, den »freien / Menschen«, dem es nicht »geziemt« 19 , ein Stoiker oder Christ zu sein, mit dem Autor und seiner »freie[n] Liebesgemeinschaft mit Christiane Vulpius« (S. 227) gleichzusetzen. Die Ausdrücke ›frei‹ und ›sich ziemen‹ lassen eine weitreichendere Auslegung zu.

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Auch jenes Epigramm, das sich gegen die Gewohnheit richtet, die Leistungen der heidnischen Antike angesichts der »Wunder des Herrn« 20 hochmütig zu verachten, wird von Rahe zu oberflächlich behandelt. Das Gedicht richtet sich nicht nur gegen die »Wundersucht« (S. 184), es ist auch eine Reaktion auf den Versuch mancher Christen, Tugenden der Heiden als versteckte Laster darzustellen. 21 Der Streit um diese Frage findet im 17. Jahrhundert seinen Höhepunkt, wird aber noch anlässlich von Marmontels Bélisaire (1767) und Eberhards Neuer Apologie des Sokrates (1772) fortgesetzt. In der Absicht, die Tugenden der Heiden zu entwerten, wird immer wieder das Argument angeführt, dass die Heiden, selbst wenn sie erstrebenswerte Ziele verfolgten, dies nicht aus Liebe zu Gott täten, sondern weil sie hochmütig und anmaßend seien. Goethes Epigramm legt nahe, dass die Christen, die so denken, ihrerseits einen falschen Stolz an den Tag legen.

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Erstaunlich wenig Beachtung erfährt das 55. Epigramm, in dem der Dichter einen der wichtigsten Einwände, den moderate Aufklärer gegen eine radikale Religionskritik vorgebracht haben, kampflustig zurückweist. Einige moderate Aufklärer machten geltend, dass religiöser Betrug notwendig sei, um die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. 22 Das Volk, so wird argumentiert, sei nicht gebildet genug, um die Wahrheit richtig aufzunehmen. Die radikale Aufklärung würde insofern mehr schaden als nützen. Dagegen behauptet der Dichter, dass der Mangel an Bildung, mit dem man die Aufrechterhaltung der Religion rechtfertigt, durch den Betrug verstetigt wird. Da Rahe die Diskussion um die Instrumentalisierung des Betrugs nicht berücksichtigt, kann er die Radikalität der epigrammatischen Religionskritik nicht richtig beurteilen.

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Allgemein ist festzustellen, dass die Entlarvung der Religion als Betrug, die in fast allen religionskritischen Epigrammen zum Tragen kommt, von Rahe nicht genügend betont wird. Stattdessen ist er immer wieder darum bemüht, der Kritik ihre Schärfe zu nehmen. Christus wird nach Rahes Beschreibung lediglich »in die Nähe eines Betrügers gerückt« (S. 219), obwohl der Dichter ihn eindeutig als Schwindler identifiziert. Reimarus wird zwar vorgestellt
(S. 177–179), aber der wichtige Hinweis, dass Goethe mit seinen Ideen vertraut war, versteckt sich in der Fußnote eines anderen Kapitels (S. 121). Ferner: Wo man erwarten würde, dass die Ideen, die Goethe in seine Gedichte einfließen lässt, in die Traditionen der antiken und frühneuzeitlichen Religionskritik eingebettet werden, wird lediglich auf Marx (S. 204,S. 211) und Freud (S. 194) verwiesen. Das Traité des trois imposteurs, dessen Hauptanliegen es ist, die Geschichte der Religion als eine Geschichte des politischen Betrugs darzustellen, wird als »plakative[s]« und »äußerst flache[s]« Werk bezeichnet (S. 176), obwohl es sich immerhin um eine Kompilation aus Vanini, La Mothe Le Vayer, Hobbes und Spinoza handelt. Der springende Punkt ist, dass Goethe sich die radikalen Ideen, die in diesen und anderen Texten verbreitet wurden, angeeignet hat. Rahe nimmt diesen Sachverhalt, obwohl er das Thema ausführlicher behandelt, nicht ernst genug. Er nennt Goethes Betrugstheorie geringschätzig eine »Obsession« (S. 187).

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Bei der Interpretation der Epigramme stellt sich Rahe die Frage, ob nicht die Invektiven gegen das Christentum ein bloßes Rollenverhalten des Dichters seien. Er zieht in Erwägung, sie nicht dem Dichter selbst, sondern einem »epigrammatischen Ich« zuzuschreiben, das sich in den Gedichten äußert
(S. 227–230). Seine Überlegungen beruhen, so scheint es, auf einem falschen Gegensatz zwischen Selbstinszenierung und authentischer Äußerung. Es ist wahr, dass der Dichter eine Rolle spielt, aber das ändert nichts daran, dass es in seinem Interesse liegt, das Christentum systematisch bloßzustellen und zu verspotten. Auch sieht Rahe nicht, dass es eine Sache ist, in einer dichterischen Schmährede zu fordern, Schwärmer im dreißigsten Jahre zu kreuzigen, und eine ganz andere, ein epigrammatisches Ich redend einzuführen, das ernsthaft diesen Wunsch hegt (S: 171). Es gibt keinen Grund, nur ernstgemeinte Rede als Rede des Dichters zu behandeln.

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Die Braut von Corinth

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Rahe nähert sich der bekanntesten der antichristlichen Balladen, die Goethe verfasst hat, indem er die Texte betrachtet, die ihn möglicherweise beeinflusst haben könnten: »Der Gehalt dieser Ideen-Ballade ergibt sich weitgehend aus dem Gehalt der Quellen, aus denen Goethe geschöpft hat.« (S. 242) Dieser Grundsatz ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Erstens ist der Begriff des Gehalts in Bezug auf ein kompliziertes Gedicht, das sich in einer geordneten Folge von Teilen entfaltet, einigermaßen irreführend. Zweitens ergibt sich die Bedeutung der Elemente eines Gedichts nicht aus der Bedeutung, die sie in dem Text haben, aus dem sie der Autor entnommen hat. Die Bedeutung eines Elements, das der Autor übernimmt, hängt vor allem davon ab, wozu er es in seinem Werk verwendet. Allerdings muss man zugeben, dass das Material, das Rahe diskutiert, fast immer zum Verständnis des Werks beiträgt. Künftige Analysen, die sich genauer mit der literarischen Technik befassen, werden seine Hinweise dankbar aufnehmen.

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Es sind sechs mögliche Quellen, die Rahe identifiziert: 1. Diderots La Religieuse, 2. Phlegons Peri Thaumasion, 3. Philostrats Vita Apollonii, 4. Homers Odyssee, 5. der Erste Korintherbrief und 6. Pseudo-Vergils Elegie Copa. Rahe kann zeigen, dass es antik-heidnische, biblische und aufklärerische Ingredienzien sind, die in das Gedicht eingehen. Der Einfluss von La Religieuse wird von ihm besonders herausgestellt: »Von Diderot übernimmt Goethe das Motiv der – naturwidrigen – Triebunterdrückung, die durch einen unfreiwilligen Klosteraufenthalt erzwungen wird« (S. 249). Es ist nicht nur das Thema, das Goethe mit Diderot verbindet, sondern auch die Haltung. Beide urteilen in einem »aufklärerischen Geist« (S. 307). Leider erklärt Rahe nicht genau, was diesen Geist ausmacht, den er als »typisch aufklärerisch« (S. 307) bezeichnet.

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Fragwürdig ist, dass Rahe die Ballade als »wuchtig« (S. 241) beschreibt und sie – etwas schlicht – als Darstellung des »Konflikt[s] zwischen antiker Sinnenfreude und christlicher Sinnenverneinung« (S. 241) interpretiert. Arthur Schopenhauers »kongeniale Annotation« (S. 303) des Gedichts wird von Rahe, was verdienstvoll ist, vollständig wiedergegeben. Dabei unterlässt er es aber, die Anregungen, die in Schopenhauers Notizen angelegt sind, wirklich fruchtbar zu machen. Man hätte sie zum Anlass nehmen können, die Struktur der Ballade eingehender zu analysieren und die Diskussion der Religionskritik in eine Untersuchung der literarischen Technik einzubinden.

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Fazit

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Rahes Interpretationen sind, unabhängig davon, ob man sie zufriedenstellend findet, immer diskussionswürdig. Sie verfehlen nur selten das Hauptanliegen des Autors. Leider geht Rahe dem, was er erkennt, oftmals nicht genügend auf den Grund. Er bemüht sich um Klarheit und Präzision in der Darstellung, vermeidet aber nicht immer das Klischee. Störend sind die übertrieben vielen Ausrufezeichen, der verschwenderische Gebrauch des Wortes ›aufweisen‹ und andere Idiosynkrasien. Mit dem persönlichen Vorwort und unsachlichen Nebenbemerkungen riskiert der Autor, ablehnende Reaktionen hervorzurufen, die nichts mit der Güte seiner Erklärungen zu tun haben. Die Einteilung des Stoffs ist insgesamt einleuchtend, auch wenn, gerade im Kapitel über die Epigramme, eine übersichtlichere Darstellung der verschiedenen Aspekte von Religionskritik sinnvoll gewesen wäre.

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Bei der Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur hätte der Arbeit eine strengere Auswahl gut getan. Ein intellektueller Tiefpunkt ist, dass ein lahmes Wortspiel (»Anti-Christentum auf den Spuren des Ante-Christentums«) des Rechtsintellektuellen Gerd-Klaus Kaltenbrunner als »kongeniale Formulierung« (S. 295) gelobt wird. Auch an anderen Stellen hätte Rahe besser eigene Worte gefunden, statt andere sprechen zu lassen. Fast in allen Fällen überflüssig sind die Auszüge aus Briefen, die der Autor von anderen Forschern erhalten hat. Ob Albrecht Schöne ihn in seinen Ansichten bestärkt und Lob spendet, tut nichts zur Sache, ja es könnte der ungünstige Eindruck entstehen, dass der Urteilsspruch eines anerkannten Philologen einen Mangel an Argumenten ausgleichen soll. Die Thesen, für die Rahe jeweils argumentiert, brauchen diese Art von Unterstützung nicht. Manche seiner Autoritätsbeweise könnten, wenn man es nicht besser wüsste, als absichtliche Selbstparodie gelesen werden: »Daß Goethe eine heftige Knoblauch-Allergie gehabt haben müsse, wurde mir von von [sic] dem Allergologen Dr. med. Burkhard Rüchel auf das freundlichste bestätigt (Mitteilung vom 19.3.2001).« (S. 162)

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Rahe sieht sein Verdienst darin, den »Mangel an Sensualismus« (S. 307) als Grund für Goethes Ablehnung des Christentums herausgearbeitet zu haben. Erfreulicherweise erschöpft sich die Arbeit nicht in dieser These. Ihr großer Wert liegt besonders in der Auflösung zahlreicher Anspielungen. Einige Epigramme werden hier zum ersten Mal überzeugend interpretiert. Insgesamt bringt Rahe den unbequemen, angriffslustigen Goethe besser zur Geltung. Man lernt einen Dichter kennen, der seine Gegnerschaft zum Christentum literarisch produktiv zu machen weiß. Die Arbeit regt dazu an, genauer zu erforschen, wie sich Goethes Religionsauffassung in seiner Dichtung bemerkbar macht.

 
 

Anmerkungen

Goethe an Herder, Mai 1775 (Briefe von Goethe, 1. Band: 1764–1786, textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Karl Robert Mandelkow unter Mitwirkung von Bodo Morawe, München: Beck 31988, S. 182).   zurück
F.H. Jacobi an Goethe (Entwurf), Nov. 1815 (Briefe an Goethe, 2. Band: 1809–1832, textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Karl Robert Mandelkow, München: Beck 31988, S. 182).   zurück
Einen guten Überblick vermittelt Martin Bollacher: Art. Christentum. In: Goethe-Handbuch in 4 Bänden, Bd. 4/1: Personen, Sachen, Begriffe A-K. Hg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998, S. 165–175.   zurück
F.H. Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Irmgard Piske bearbeitet von Marion Lauschke. Hamburg: Meiner 2000, S. 22.   zurück
Ulrich Gaier: Vom Mythos zum Simulacrum. Goethes Prometheus-Ode. In: Lenz-Jahrbuch 1 (1991), S. 147–167.   zurück
Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1756–1799. Hg. von Karl Eibl. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1987, S. 203.   zurück
1461b, 22–24.   zurück
Hans-Jürgen Schings: Im Gewitter gesungen – Goethes Prometheus-Ode als Kontrafaktur. In: Traditionen der Lyrik. Festschrift für Hans-Henrik Krummacher. Hg. von Wolfgang Düsing. Tübingen: Niemeyer 1997, S. 59–71.   zurück
10 
Rahe hat die Ergebnisse seiner Forschungen, die er in dieser Monographie zusammenfasst und beträchtlich erweitert, schon in früheren Publikationen zur Diskussion gestellt: Goethes Kritik am Christentum in den Venezianischen Epigrammen. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 108 (1997), S. 187–212; Antikes Heidentum und heidnisches Christentum in Goethes Venezianischen Epigrammen. In: Antike und Abendland 43 (1997), S. 158–173; Die Gestalt Christi in Goethes Venezianischen Epigrammen. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 42 (2000), S. 160–180.   zurück
11 
Vgl. Horst Lange: Goethe‘s Strategy of Self-Censorship. The Case of the Venezianische Epigramme. In: Monatshefte 91 (1999), S. 224–240.   zurück
12 
Johann Wolfgang Goethe: Venezianische Epigramme. Eigenhändige Niederschriften, Transkriptionen und Kommentar. Hg. von Joachim Golz und Rosalinde Gothe, Frankfurt/Main: Insel 1999, S. 265.   zurück
13 
Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1800–1832. Hg. von Karl Eibl. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1988, S. 208.   zurück
14 
15 
I/25 –»Für die Asche kommt der Ruhm zu spät« (Martial: Epigramme. Hg. und übersetzt von Paul Barié und Winfried Schindler. ³2013, S. 51.)   zurück
16 
Hans Bernsdorff: Goethes erstes Venezianisches Epigramm und seine antiken Vorbilder. In: Antike und Abendland 47 (2001), S. 164–75.   zurück
17 
Goethe: Venezianische Epigramme (Anm. 12), S. 136.   zurück
18 
Goethe: Gedichte 1756–1799 (Anm. 7), S. 467.   zurück
19 
20 
Goethe: Venezianische Epigramme (Anm. 12), S. 313.   zurück
21 
Zu dieser Diskussion: Michael Moriarty: Disguised Vices. Theories of Virtue in Early Modern French Thought. Oxford: Oxford University Press 2011.   zurück
22 
Vgl. Hans Adler (Hg.): Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Est-il utile au Peuple d‘être trompé? 2 Bände. Stuttgart: Frommann-Holzboog 2007.   zurück