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Pappmachépracht und Rechenmaschinen-Mädchen im Schaufenster: Die simulierte Wirklichkeit der Neuen Sachlichkeit.

  • Maite Katharina Hagen: Simulation. Verhaltensstrategie und Erzählverfahren im neusachlichen Roman. (Berliner Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte 11) Frankfurt a.M.: Peter Lang 2012. 339 S. Gebunden. EUR (D) 58,95.
    ISBN: 978-3-631-62493-7.

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In einem Schaufenster vor vorbeiziehenden Passanten arbeitet ein Mädchen unaufhörlich an einer Rechenmaschine. Mit dieser Inszenierung einer alltäglichen Büroszene soll die beworbene Correntatormaschine potenziellen Käufern im ›wirklichen‹ Einsatz präsentiert werden. Auf diese ungewöhnliche Begebenheit, wie sie 1925 in einem anonym verfassten Artikel der Zeitschrift Das Tage-Buch geschildert wird, greift Maite Katharina Hagen (neben einigen weiteren Beispielen) zurück (S. 34f.), um ihre Überlegungen zur Wirklichkeitssimulation des zeitgenössischen Diskurs zu veranschaulichen.

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Sachlichkeit vs. Simulation

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Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist zunächst das Verhältnis von zeitgenössischer Forderung nach Sachlichkeit und deren Umsetzung im literarischen Text zur Zeit der Weimarer Republik. Einer Zeit in der Authentizität, Neutralität, Objektivität, Präzision und Materialtreue zu Kennzeichen der literarischen Ästhetik avancierten. Zwar hat Hagen zufolge die bisherige Forschung in umfassenden Bemühungen den theoretischen Diskurs der Neuen Sachlichkeit rekonstruiert, dennoch aber bleibt so die Frage weiterhin offen, ob - und wenn ja, vor allem: wie - die Forderung nach Sachlichkeit auch in Bezug auf literarische Darstellungsverfahren beschreibbar gemacht werden kann (S. 13). Grundsätzlich geht es der Autorin also auch um die Frage, ob ›Sachlichkeit‹ überhaupt eine geeignete Kategorie darstellt, um auch die Literatur zur Zeit der Weimarer Republik charakterisieren zu können (S. 12). Als Alternative hierfür schlägt Hagen den Begriff der Simulation vor.

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Insbesondere an zwei Linien der Forschung schließt die Autorin mit ihrem Vorhaben explizit an und versucht beide zugleich miteinander ins Verhältnis zu setzen. Zum einen ist Helmut Lethens Verhaltenslehre der Kälte zu nennen, zum anderen exemplarisch Sabina Beckers Bemühungen um eine Ästhetik der Neuen Sachlichkeit. Der von Hagen modellierte Simulationsbegriff stellt nun das theorietechnische Verbindungsglied dar, das die - wie Hagen es formuliert - soziokulturelle Dimension der Neuen Sachlichkeit mit einer Ästhetischen verbinden soll (S. 36). Zwar habe insbesondere Sabina Becker verdienstvoll den theoretischen Diskurs der Neuen Sachlichkeit rekonstruiert, der herausgearbeitete Kriterienkatalog biete dabei allerdings noch keine geeigneten Parameter für die Analyse neusachlicher Literatur (S. 10f, siehe auch Fußnote 24 S. 11). Weiterhin offen bleibt die Frage nach den konkreten Kennzeichen neusachlichen Erzählens.

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Hagens Simulationsbegriff ist grundsätzlich an Jean Baudrillard orientiert, wird für das Vorhaben allerdings perspektiviert und durch ein breit angelegtes Bedeutungsspektrum entsprechend funktionalisiert (S. 24-37, siehe auch Fußnote 36 S. 14). Dass die Autorin hier auf eine eigenständige Modellierung setzt, hängt sicherlich auch damit zusammen, dass Baudrillards Simulationsbegriff ansonsten kaum hätte operationalisiert werden können. Auch wenn der Begriff der Simulation durch die anvisierte Bedeutungsoffenheit bisweilen Gefahr läuft, an Schärfe zu verlieren (was sich beispielsweise in fast tautologisch anmutenden Formulierungen äußert, wie: »Im Medium der Literatur gelingt es, die zum sozialen Phänomen verallgemeinerten Verhaltensstrategien des Simulanten sowie die zeittypische Wahrnehmung simulierter Realität zu simulieren.« (S. 313)), soll auf diese Weise dessen Anwendbarkeit auf die unterschiedlichen Dimensionen der Neuen Sachlichkeit garantiert sein (S. 15). Der Konzeption entsprechend wird der Simulationsbegriff als Beschreibungsinstrument, zum einen einer zeittypischen, »verbreiteten Verhaltensform« (S. 34) und zum anderen eines »ästhetischen Verfahrens der Wirklichkeitsdarstellung« (S. 34) eingesetzt. Beide Bereiche wiederum sind korreliert durch eine bestimmte »Wahrnehmungsstruktur« (S. 34), die sich Hagen zufolge im Zuge der sich ausbreitenden neuen Medien zur Zeit der Weimarer Republik etabliert.

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Zunächst geht Hagen von einer allgemeinen, abstrakten Definition des Simulationsbegriffs aus. In der Simulation gehe es nicht mehr um Referenz auf eine vorrangige Wirklichkeit, sondern um die Konstitution einer ›irrealen Realität‹ oder ›virtuellen Wirklichkeit‹ (S. 24). Ein solches Verständnis von Simulation stehe dabei in scharfem Kontrast zum generellen Verständnis von Mimesis, da hier, anders als bei der Simulation, stets ein eindeutig zuzuordnendes Verhältnis von Nachahmung und Realität Voraussetzung sei (S. 30). Auch in zeichentheoretischer Hinsicht führe die Simulation letztlich zu einer Aufhebung von Mimesis, weshalb nur mehr von selbstbezüglicher oder dekonstruktiver Mimesis gesprochen werden könne (S. 30). In der Simulation werde das Verhältnis von Schein und Wirklichkeit ununterscheidbar: Als »Gegenpol« (S. 30) zur Mimesis »negiere Simulation die Unterscheidbarkeit von wahrer und scheinhafter Welt« (S. 32).

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Verhaltensstrategie, Wirklichkeit und Wahrnehmung

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Anschließend findet das Konzept der Simulation (mit unterschiedlicher Schwerpunktverlagerung) seine Anwendung in Bezug auf die beiden genannten Dimensionen: Zum einen spricht Hagen von einer Verhaltensstrategie der Simulation, zum anderen generell von Wirklichkeitssimulation. Auf beiden Ebenen gehe es grundsätzlich um eine Simulation von Wahrnehmungsstrukturen. Konkret heißt das zunächst, dass die Überlegungen zur Verhaltenslehre der Kälte (Lethen) erweitert werden um den Aspekt der Simulation: »Die Inszenierung des Kältehabitus erscheint als kompensatorische Verhaltensstrategie, die als reine Simulation von Realitätsbezügen befreit ist« (S. 96). Durch diese Verhaltenssimulation werden referenzlose, »momentane Realitätseindrücke generiert« (S. 29), wodurch das »simulierte Ich«, anders als im Spiel einer Rolle, nur mehr »in der Wahrnehmung des anderen, ohne Bezug auf etwas dem Simulierten Verschiedenes« (S. 29) bestehe. Entscheidend (auch für Hagens weiteres Vorgehen) ist hier der Aspekt der Wahrnehmung: Da sich die gleichsam hyperreale Identität allein in der Wahrnehmung des Gegenübers konstituiere, werde eine Kontrolle der Fremdwahrnehmung notwendig. »Simulation setzt die souveräne Beherrschung der Fremdwahrnehmung voraus, das inszenierte Selbstbild ist von dem legitimierenden Blick des Gegenübers abhängig« (S. 100), was eine Labilität des generierten Realitätseindrucks zur Folge hat (S. 100). Zugleich zeigt sich hier das angestrebte Entsprechungsverhältnis zur literarischen Ästhetik: Wirklichkeitssimulation zeigt sich Hagen zufolge idealtypisch im Medium Film, schlägt sich aber ebenfalls in den literarischen Darstellungsverfahren der Zeit nieder; und zwar in Form der Reproduktion von zeitgenössischen Wahrnehmungsstrukturen (S. 39f.). Um diese Wahrnehmungsdisposition der Zeit herauszuarbeiten, wird deshalb der Versuch gemacht einen Diskurs der Wirklichkeitssimulation zu rekonstruieren. Die zeitgenössische Wirklichkeitserfahrung sei durch eine bestimmte Wahrnehmungsform geprägt, wie sie sich exemplarisch im »Hyperrealitatserlebnis in den Kunstwelten der Vergnügungspalästen« (S. 53) oder in der »Pappmaschépracht« (S. 47) der referenzlosen, künstlichen Welt des Amüsierbetriebs der Zeit (S. 53) zeige 1 - oder eben am Beispiel des ›Mädchen im Schaufenster‹, wobei auch hier der Einbezug der Wahrnehmung des Betrachters die entscheidende Voraussetzung für die Simulation sei (S. 35). Letztlich geht es bei diesen Überlegungen darum, dass, insbesondere durch das Medium Film, ein spezifischer Realitätseindruck geprägt werde, der sich in der »Dualität von Sehen des Alltäglichen und alltäglichen Sehen« äußert (S. 312, siehe hierzu auch S. 67f.). Es handelt sich dabei um einen Effekt der Verdopplung der Realität, woraus letztlich die Erfahrung von Hyperrealität resultiere (S. 315). Angesichts dieser veränderten Wahrnehmungsdisposition sehe sich auch die Literatur der Zeit dazu herausgefordert neue Darstellungsweisen zu erproben (S. 117). Der entscheidende Punkt der Argumentation ist: Sachlich ist die Literatur Hagen zufolge nicht einfach im Sinne von objektiv, sondern ›sachlich‹ ist sie, insofern sie jene spezifische Wahrnehmungdisposition der Zeit mit literarischen Mitteln ›wirklichkeitsgetreu‹ reproduziert und diesen Prozess darüber hinaus selbstreflexiv thematisiert (S. 111).

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Filmisches Schreiben und die Positionierungsversuche des Individuums

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Um das literarische Verfahren der Wirklichkeitsreproduktion zu beschreiben, greift die Autorin auf den literaturwissenschaftlichen Topos des »filmischen Schreibens« (S. 14) zurück. Die Idee des filmischen Schreibens ist grundsätzlich natürlich nicht ganz unumstritten. Auch wenn der Einfluss des Films auf die Darstellungsweise der Literatur selbstverständlich nicht von der Hand zu weisen ist, drängt sich dennoch die Frage auf, ob es sich dabei nicht stets um eine Metapher handelt, die die Spezifik der Literatur - und insbesondere ihren spezifischen Zeichencharakter - letztlich mehr verdeckt als erhellt. Möglicherweise hängt damit auch zusammen, dass in der anschließenden Analyse der neusachlichen Romane der zuvor herausgearbeitete, geradezu dekonstruktive Zeichencharakter nicht stärker in den Fokus gerückt wurde; hier konzentriert sich die Autorin - wie es allerdings von Beginn an vorgesehen ist und hiermit implizit auch zusammenhängt - vor allem auf die Schwierigkeiten der Positionierung des modernen Individuums. Immerhin: Hätte man die in der Untersuchung verwendeten Begriffe der Individualität und Subjektivität der klassischen Moderne nicht nur entlang der Postmoderne konturiert (S. 21), sondern ebenfalls die Subjektgeschichte seit 1800 mit ins Kalkül gezogen (schließlich ist die Literatur spätestens seit dieser Zeit Austragungsort von Subjektivität par exellence), hätte sich hier eine ergiebige Verbindungslinie gezeigt: Als Kontrastfolie genutzt, wäre es damit möglich gewesen den Bogen zur negativistischen Konzeption des Zeichenbegriffs der Simulation zurückzuschlagen.

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Romananalysen: Ich-Entwürfe im Sprechen und Schreiben

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Die Ausführungen zur Simulation werden von Hagen anschließend in einer groß angelegten (immerhin knapp zwei Drittel der gesamten Arbeit einnehmenden) Analyse neusachlicher Romane überprüft. Vertreten sind dabei sowohl ›klassische‹ Romane der Neuen Sachlichkeit, als auch unbekanntere bzw. sonst nur in anderen Zusammenhängen behandelte Werke. Auf diese Weise soll die Simulation als entscheidendes Merkmal und Darstellungsverfahren der Literatur der Zeit herausgearbeitet werden. Dabei konzentriert sich die Untersuchung vor allem auf Erzählverfahren (Kap. II.1.) und Figurendarstellungen (Kap. II.2.). Beide Dimensionen sind durch den Simulationsbegriff aufeinander bezogen und werden darüber hinaus gebündelt in der problematischen Positionierung des modernen Individuums. Die zusammenführende These der Einzelanalysen ist nun, dass sich durch die Simulationsstrategien der Literatur - wie sie sich sowohl auf der Ebene der Darstellung (in der narrativen Wirklichkeitssimulation durch »fluktuierende Erzählerkonstruktionen« (S. 293) bspw. in der »Standpunktlosigkeit« (S. 139) der Beobachter in Erich Kästners Fabian und Martin Kessels Herrn Brechers Fiasko oder in der Erzählsituation des »fingierten Tagebuchs« (S. 146) in Mela Hartwigs Bin ich ein überflüssiger Mensch?), als auch auf der des Dargestellten (In der Verhaltenssimulation bspw. im »Film-Tagebuch« (S. 150) in Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen) zeigen - Individualität im Medium der Literatur im Sprechen und Schreiben konstituiert (S. 321).

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Ganz gleich wie man sich nun im Einzelnen zu Hagens Konzeption der Simulation verhält, das große Verdienst der Arbeit ist es jedenfalls, die Notwendigkeit deutlich zu machen, dass das paradoxe Ideal der Neuen Sachlichkeit, gewissermaßen ihre ›implizite Poetik‹, Berücksichtigung finden muss, soll das Phänomen der neusachlichen Literatur adäquat beschrieben werden. Zwar wurde in der Forschung im Grunde immer schon darauf hingewiesen, dass die Literatur der Neuen Sachlichkeit nicht einfach in einer Verabschiedung der Literatur (zugunsten beispielsweise des Berichts) mündet. Dennoch aber lässt sich inzwischen vermehrt beobachten, dass die Frage nach der Sachlichkeit nicht allein pragmatisch versucht wird zu beantworteten (im Sinne der Frage: ist im jeweiligen literarischen Text genug Sachlichkeit vorhanden um zur Neuen Sachlichkeit zu zählen, oder nicht?), sondern gerade das Beschreibungsproblem selbst zum Ausgangspunkt der Untersuchung gemacht wird. Einige Einzeluntersuchungen haben bereits gezeigt, wie ergiebig ein solches Vorgehen sein kann. 2

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Simulation als integratives Modell

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Maite Katharina Hagen hat mit ihrer Untersuchung literarischer Simulationsverfahren einen ersten umfassenden Versuch vorgelegt, das Phänomen der literarischen Neuen Sachlichkeit neu zu verorten. Der Hintergrund ihres Projekts ist dabei die Diskrepanz von zeitgenössischem Sachlichkeits-Postulat und konkreter literarischer Umsetzung. Ein breit angelegter Simulationsbegriff stellt den Dreh- und Angelpunkt ihrer Überlegungen dar. Mit dem Begriff der Simulation soll es gelingen, Verhaltenslehre, Wirklichkeitsreproduktion und Ästhetik der neusachlichen Literatur in einem übergreifenden Konzept miteinander zu verbinden. Mit ihrem Versuch, das Problemfeld ›sachlicher‹ Literatur unter veränderter Perspektive zu durchmessen und in einem integrativen Modell zu beschreiben, hat Hagen einen diskussionswürdigen Ansatz vorgeschlagen.

 
 

Anmerkungen

Im Grunde also analog zu den Überlegungen von Götz Großklaus zu Disney-World: Götz Großklaus: Medien-Zeit Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne. Frankfurt am Main 1995. Kap. IX. S. 240-255.

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Exemplarisch genannt sei hierfür der luzide Aufsatz von Oliver Ruf: Kischs Frustrativ. Bussolen, Hochöfen und tätowierte Körper. Neusachliche Schreibstrategien im Rasenden Reporter. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik. Jg. 10 (2005). S. 73-99.

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