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Erzählen als Organisationsform

Zu Albrecht Koschorkes Entwurf einer Allgemeinen Erzähltheorie

  • Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main: S. Fischer 2012. 480 S. Gebunden. EUR (D) 24,99.
    ISBN: 978-3-10-038911-4.
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Bekannt sind die Vorbehalte gegenüber einem allzu eifrigen Theorieimport in den Literaturwissenschaften, die in den letzten Jahrzehnten ihr theoretisches Spektrum durch Anleihen bei den Sozial- und Kulturwissenschaften ebenso wie bei Psychologie, Neurologie oder gar Evolutionsbiologie beträchtlich erweitert haben. Demgegenüber wurde neben einem Ruf nach einer Re-Philologisierung auch jener nach einer Rückbesinnung auf die eigenen Stärken laut, die die Literaturwissenschaften wieder zu einem Theorienexporteur machen sollte. Wahrheit und Erfindung könnte in gewisser Weise als beides zugleich verstanden werden: Die Narratologie als eine genuin literaturwissenschaftliche Disziplin soll zu einer umfassenden Erzähltheorie erweitert werden. Diese Erweiterung ist jedoch nicht möglich, ohne eine breite Adaption von Erkenntnissen aus anderen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die es erlauben, den Begriff der Erzählung zu erweitern und auf gesellschaftliche, politische und kulturelle Phänomene auszudehnen, die zur Erzählung in Beziehung gesetzt werden können und dadurch das Verständnis von Erzählung zu erweitern vermögen.

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Koschorkes Verdienst ist es, in seiner Studie die Grenzen geisteswissenschaftlicher Ansätze, Methoden und Schulen zu durchbrechen und in einer Zusammenschau aus empirischen und kognitionswissenschaftlichen Erkenntnissen, soziologischen und ökonomischen Theoriebildungen in Verbindung mit dem literaturwissenschaftlichen Blick auf Erzählformen und Erzählmuster den Entwurf einer Erzähltheorie zu entfalten, der es erlaubt, nach der kulturellen Dimension von Erzählung weit über den literaturwissenschaftlichen Skopus hinaus zu fragen.

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1. Erzähltheorie als Kulturtheorie: Von der Universalität des Erzählens

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Ausgehend von der Einordnung der Erzählung als einer anthropologischen Universalie entwirft Albrecht Koschorke seine Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Im ersten Kapitel legt er dafür die theoretischen Grundlagen, indem er die Konzepte des homo narrans und des homo ludens zusammenführt. Dadurch revidiert er das unzureichende Konzept des homo narrans, wonach Erzählen immer sinnstiftend und komplexitätsreduzierend sei und vermag so auch gegenläufige Formen des Erzählens in das Konzept zu integrieren. Das wichtigste Unterkapitel bildet Kapitel 1.3, in dem unter der Überschrift »ontologische Differenz« die seit Platon wirksame Unterscheidung zwischen Mythos und Logos in Frage gestellt und programmatisch festgehalten wird: »Das Erzählen hat sich nicht ins Reservat der schönen Künste einsperren lassen [...] Wo immer sozial Bedeutsames verhandelt wird, ist das Erzählen im Spiel«. (S. 18 f.). Koschorkes Anspruch ist es folglich, eine Erzähltheorie zu entwerfen, die über die Analyse literarischer Texte hinausreicht und deren Reichweite sich damit auch jenseits genuin literaturwissenschaftlicher Forschung erstreckt. Als idealen Ausgangspunkt einer solchen Theoriebildung erweist sich nichtsdestotrotz die Literaturwissenschaft mit ihrem profunden Wissen über Erzählmuster. Über die strukturalistische Narratologie möchte Koschorke dabei nicht nur durch eine Ausweitung des Gegenstandsbereichs hinausgreifen, sondern zugleich auch deren Denken in binären Oppositionen aufbrechen, das Erzähltexte letztlich auf eine »unveränderliche Matrix« (S. 21) zurückführt. Demgegenüber begreift Koschorke Erzählungen als »sprachliche Artikulation von Veränderlichkeit«, die »Zugänge zu einem kulturellen Fluidum her[stellen], in dem binäre Codes sich allererst ausbilden«. (S. 22) Grundlage einer solchen Erzähltheorie, in der die Erzählung immer schon kulturell wirksam wird, ist ihre Verbindung mit einer Kulturtheorie.

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2. Schemabildung und Schemamodifikation im narrativen Prozess

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Im zweiten Kapitel beginnt Koschorke seine Darstellung mit einem Blick auf die Mikroebene des Erzählens, indem er auf wichtige narratologische Grundlagen zurückgreift und sie für eine allgemeine – über die literarische Erzählung hinausgreifende – Erzähltheorie fruchtbar macht. Dabei beginnt er mit der Sprache selbst und deren Defizienz gegenüber der Fülle und Komplexität unserer Wirklichkeitswahrnehmung. Erzählung ist damit – das ist als Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen immer mitzudenken – ein Medium der Reduktion, das immer nur einen Bruchteil der Welterfahrung versprachlichen kann. Dies führt entsprechend zur narrativen Schemabildung. Narrative Schemata versteht Koschorke in Anlehnung an den kognitionswissenschaftlichen Schemabegriff als Operatoren, die die »Überfülle unsortierter empirischer Daten auf typenhafte, leicht wiedererkennbare Formen zurück[führen]« (S. 29). Ein solches narratives Schema besteht aus einer Vielzahl von Elementen, die sequentiell organisiert sind, dabei aber bis zu einem gewissen Grad variabel bleiben. Schemata dienen der Komplexitätsreduktion und fungieren als Filter von Wissen; andererseits haben empirische Studien gezeigt, dass unvollständige Schemata mithilfe des ihnen zugrundeliegenden bekannten Grundmusters vom Rezipienten während des Leseprozesses ergänzt werden können.

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In einem zweiten Schritt beschäftigt sich Koschorke mit den Möglichkeiten der Modifikation solcher Schemata innerhalb einzelner Erzählungen, mithin mit der Individualität von Erzählung. Erzählungen bewegen sich immer im Spannungsfeld zwischen »individueller story und überindividuellem Erzählschema« (S. 39). Die dabei auftretende hohe Redundanzrate macht deutlich, dass Erzählen nicht alleine der Informationsvermittlung dient, sondern in hohem Maße auch der Aufrechterhaltung sozialer Kommunikation, wodurch dem Erzählen eine gesellschafts- resp. systemstabilisierende Funktion zukommt. Varianz gelangt in diese auf Redundanz angelegten Schemata durch Details, die sich nicht in das Schema integrieren lassen. In Anlehnung an den editionsphilologischen Begriff des Hapax beschreibt Koschorke solche Details als widerständige Restbestände, die zur Komplizierung der Erzählmuster führen und von der Peripherie des Textes in dessen Zentrum diffundieren können. Beweglichkeit erlangt die narrative Sequenzverknüpfung ferner dadurch, dass sie nicht ausschließlich kausallogisch erfolgen muss, sondern auch über schwächere, etwa temporale Verknüpfungen hergestellt werden kann. Dadurch wird die Struktur für Alternativen und aufmerksamkeitssteigernde Irritationsmomente offen gehalten.

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Zur Veranschaulichung der gesellschaftlichen Relevanz von (Groß-)Narrativen rekurriert Koschorke immer wieder auf politische und soziale Konflikte und die ihnen zugrunde liegenden Erzählungen. So kann er eindrücklich darlegen, welchen Einfluss die Wahl von Anfang und Ende einer Erzählung auf die Bestimmung von Opfer, Täter und die Zuschreibung von Schuld gewinnen kann. Dieses Muster wird auch in den großen Ursprungsmythen wirksam, die häufig für das Selbstverständnis einer Nation zentrale Bedeutung erlangen.

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Narratologische Kategorien, wie die Erzählperspektive, macht Koschorke fruchtbar für die Analyse kultureller Erzählmuster, und zeigt mit deren Hilfe etwa die (fehlende) Introspektion in der Darstellung von Fremden, Feinden oder Minderheiten auf, was er wiederum auf Kosellecks Analyse »asymmetrischer Gegenbegriffe« bezieht, die hegemoniale Konstellationen begründen und festigen. Solche Erzählweisen sollen Gruppen nach Außen separieren und nach Innen stabilisieren, vermögen es jedoch niemals, das soziale Feld in »einer vollkommen klaren und widerspruchsfreien Weise« (S. 98) zu trennen. Entsprechend beschreibt Koschorke die Grenzzone als Kontaktzone, in der sich »das Aufeinandertreffen ungleicher Sprachcodes« (S. 99) ereignet und verweist damit auf Fragestellungen postkolonialer Ansätze in den Literatur- und Kulturwissenschaften.

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3. Semiotische Raumtheorie und die Wechselwirkung zwischen Zentrum und Peripherie

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An diesen Topos der Grenze knüpft Koschorke im 3. Kapitel: »Kulturelle Felder«, an und entwirft ausgehend von einer Diskussion kultureller Raumtheorien und Juri Lotmans Kultursemiotik eine komplexe, interdisziplinär inspirierte semiotische Raumtheorie, die sich aus Erkenntnissen der Ethnologie, Soziologie und den postcolonial studies speist. Ziel ist es, mit Hilfe von Lotmans Ansatz eine Theorie zu entwickeln, die literatur-, kultur- und sozialtheoretische Ansätze miteinander verbindet. »Der Generalnenner dieser Ansätze« heißt es »besteht darin, Beschreibungskategorien für polyzentrische, von Grenz- und Übergangsdynamiken bestimmte, in ihren vielfältigen Strebungen schwach koordinierte und vor allem durch die ›Stärke schwacher Bindungen‹ zusammengehaltener Gesellschaften zu entwickeln.« (S. 128) Zentrale Aspekte sind dabei die Interdependenz zwischen Peripherie und Zentrum, permanente Umcodierungsprozesse in der Kommunikation sowie Theorien zur Interaktion von Codierung und Macht. Die Interdependenzen von Zentrum und Peripherie bilden mithin den Fokus dieser raum- und grenzsoziologischen Überlegungen. Der Peripherie als Kontaktzone zu anderen Kultur- und Wissensräumen kommt dabei besondere Aufmerksamkeit zu. In einem kulturellen Raum bilden mehrere Zentren unterschiedliche Funktionen aus (politisch, wirtschaftlich, militärisch etc.), die meist sowohl räumlich als auch institutionell unterschieden sind. »Die Welt, die in diesem Raum zur Darstellung kommt [ist entsprechend] epistemologisch inkonsistent«. (S. 137) Traditionelle Einheitskonzepte – seien sie theologisch oder philosophisch motiviert –, verlieren aufgrund dieser Erkenntnisse ihre Grundlage. Koschorke plädiert für eine Kulturtheorie, die sich von normativen Sinnkonstruktionen löst, wie sie bisweilen in der Soziologie vorherrschend sind, und stattdessen Kultur nicht als »Sinn verbürgende Instanz, sondern als offenen Raum ihrer differentiellen Konfigurationen« (S. 166) begreift.

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Immer wieder widmet Koschorke ganze Unterkapitel der Diskussion von Begriffen und ihrer Funktionsweise. Zentrale kulturelle Begriffe wie z.B. ›Sinn‹, ›Freiheit‹ oder ›Gott‹ bezeichnet er als »Horizontbegriffe« (S. 146) und betrachtet sie aufgrund ihrer komplexen Bedeutungsschichten als ideale Vermittler über Diskursgrenzen hinweg. Begriffe seien »Knotenpunkte« im semiotischen Prozess, die Mehrdeutigkeiten und wechselnde semantische Besetzungen zu bündeln vermögen und dadurch zu »semiotischen Operatoren« (S. 169) werden, die zwischen unterschiedlichen Diskursen vermitteln können. Dies bedingt zugleich, dass die Akteure des sozialen Feldes »zwischen den Sprach- und Verhaltensweisen unterschiedlicher sozialer Gruppen hin- und hernavigieren« (S. 186) müssen. Es kommt schließlich zu einem sozialen code switching, indem der gleiche Begriff in verschiedenen sozialen Kontexten in je unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird.

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4. Zeitnarrative

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Entsprechend der Darstellung des Raumes als eines komplexen, diskontinuierlichen Gebildes, das aus unterschiedlichen Ebenen mit wechselnden Überlagerungen, Verschränkungen und Parallelisierungen aufgebaut ist, begreift Koschorke auch die »zeitliche Organisation von Gesellschaften als ein Zusammenwirken von unterschiedlichen Tempi, Phrasierungen, Repetitionsmustern, von makro- und mikrostrukturellen Fügungen«. (S. 206) Koordinieren lassen sich diese vielfältigen zeitlichen Schichten durch eine Synchronisation, die die verschiedenen zeitlichen Vorgänge verbindet.

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Bezugnehmend auf Aleida Assmanns Konzeption vom »bewohnten und unbewohnten Gedächtnis« (S. 215), also der Unterscheidung von geformtem, bewusst angeeignetem Gedächtnis und sedimentierter, vergessener Erinnerung sowie deren dynamischer Interaktion leitet Koschorke im Folgenden die Funktion und Bedeutung der Erzählung für das Wechselverhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft her. Unter Rekurs auf Erkenntnisse aus den Geschichtswissenschaften (Koselleck), der analytischen Philosophie (Weberman) und der Kognitionspsychologie zeichnet Koschorke nach, wie das rein Faktische der historischen Quelle im erinnernden Aneignungsprozess stets in die aktuellen Denk-, Wissens- und Deutungsmuster integriert wird und sich auf diese Weise Fiktionalisierungsprozesse mit der Tradierung und Aktualisierung von Faktischem mischen. Diese Vorgänge haben nicht zuletzt darin ihre Ursache, dass die Gegenwart sich immer auch auf die Zukunft hin entwirft und Erinnerung in diese Zukunftsentwürfe integriert.

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In den angeführten Beispielen sind es wieder in erster Linie Konfliktnarrative, anhand deren Koschorke die Funktion narrativer Begründungsmuster erläutert. Erinnernde Narrationen, so lässt sich hier beobachten, wiedersprechen sich je nach erzählendem Akteur und dienen in erster Linie dazu, Gruppenbildungsprozesse zu forcieren, Konfliktparteien im Sinne imaginärer Gemeinschaften erst entstehen zu lassen und diese narrativ zu stabilisieren. Mithin geht es beim Erzählen immer auch um die Frage nach der »kulturellen Modellierung von Differenz« (S. 238). Erst die semiotische Festschreibung gegebener Differenzen macht diese sichtbar und wirksam. So schlussfolgert Koschorke: »Das Spiel der Bedeutungen ist kein bloßer Widerschein faktischer Gegebenheiten, sondern schöpferisch [...]; aber es behandelt, anders als der Radikalkonstruktivismus behauptet, den sozialen Raum nicht als leere Projektionsfläche.« (S. 240)

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Exemplarisch zeichnet Koschorke schließlich die Entstehung von Großnarrativen und deren zeitliche Perspektivierung anhand der »Narrative« der Moderne und der Aufklärung nach. Nicht ohne Suggestivkraft vermag er zu zeigen, wie etwa Kant seine Aufklärungsschrift als Fortschrittsnarrativ im Stil eines Konternarrativs gegen die wirkmächtige Verfallsgeschichte der biblischen Sündenfallerzählung entworfen hat. Dabei integrierte Kant zugleich wichtige Parallelnarrative, etwa die Vorstellung von der Selbstkonstitution des Menschen als Subjekt und die Rousseausche Verklärung der Kindheit. Diese Verbindung unterschiedlicher Großnarrative erlaubte es nachfolgenden Autoren, an das einmal etablierte Narrativ der Aufklärung anzuknüpfen und es unter Bezugnahme auf einzelne seiner Erzählmomente bzw. -stränge weiterzudenken, wie sich am Beispiel von Schillers Entwurf des triadischen Geschichtsmodells aufzeigen lässt.

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5. Die institutionelle Dimension des Erzählens

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Nachdem Koschorke nun mehrfach die Relevanz von Erzählungen für gesellschaftliche und politische Entwicklungs- und Integrationsprozesse beschrieben hat, wendet er sich im fünften Kapitel der Bedeutung von Narrativen innerhalb von Institutionen zu. Von soziologischen Institutionstheorien ausgehend, wonach Institutionen durch die Entkoppelung von Zweck und Motivation eine kognitive Entlastungsfunktion erfüllen, indem sie Handlungswiederholungen ohne aufwendige Begründungen erlauben, zeigt Koschorke die Nähe dieser Funktionsmechanismen zu jenen von Begriffen und Narrativen auf. Danach richtet er den Blick auf die Institutionenökonomik, insbesondere in ihrer Beschreibung durch den Nobelpreisträger Douglass C. North. Nach North erfüllen Institutionen den Zweck, bei notwendig unvollständigem Wissen Entscheidungsprozesse zu leiten und vorhersehbar zu machen. Auch Erzählungen stellen in ökonomischen Entscheidungsprozessen einen unterhalb der rein mathematischen Zahlen- und Faktenlagen subkutan mitlaufenden Entscheidungsfaktor dar, der gleichwohl wirkmächtiger erscheint als die reinen Zahlen selbst. Zugleich legt er anhand von Mary Douglas’ Studie How Institutions Think dar, dass Institutionen meist ihre Autorität und Beständigkeit durch nachträgliche Gründungs- und Legitimierungsnarrative festigen, die nicht selten ideologische Momente tragen.

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Gegen eine rein textimmanente Analyse, wie sie im Strukturalismus vorherrscht, leitet Koschorke aus diesen Beobachtungen die Forderung ab, dass eine narratologische Analyse nie den institutionellen Hintergrund einer Erzählung ausklammern dürfe: »Wer spricht, von welchem Ort aus, unter welchen normativen Voraussetzungen, die seine Erzählweise konditionieren, in welcher (autoritativen oder subalternen) Positionen und in welchem Rahmen?« (S. 328). Damit plädiert er für eine umfassende soziokulturelle Kontextualisierung von Erzählungen.

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6. Zwischen Selbst- und Fremdreferenz: Episteme und Erzählung

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Im letzten Kapitel verfolgt Koschorke die wirkmächtige Frage nach den epistemischen Grundlagen des Erzählens bzw. nach dem Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Wissensgenerierung und -kommunikation und Erzählung. Die wichtigste Einsicht, die diese Überlegungen leitet, besteht wohl darin, dass sich die inferentielle (selbstbezügliche) und die referentielle (außenweltbezügliche) Dimension von Sprache nicht ausschließen, sondern sich wechselseitig bedingen, mithin das Zusammenwirken von inferentiellem Spiel der Zeichen und deren referentiellem Wirklichkeitsbezug die Grundlage allen Erzählens bildet.

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Koschorke unterscheidet im weiteren Argumentationsverlauf zwei Weisen der Fremdreferenz, die in dem oppositionellen Begriffspaar ›Natur‹ und ›Kultur‹ zum Ausdruck kommen und greift damit seinerseits auf ein etabliertes Großnarrativ zurück. Diese Opposition möchte er als Einheit in der Unterscheidung verstehen. Im Bild der Raumsemiotik bleibend, legt er weiterhin dar, dass dies nur so zu denken sei, dass die Trennlinie zwischen beiden Bereichen nicht genau symmetrisch verläuft, sondern sich zwischen den Begriffen eine Asymmetrie etabliert, in der einer der beiden Terme dominiert und den anderen zu integrieren vermag. Dabei soll diese »Trennlinie« zwischen den Begriffen als bewegliche Grenzzone von wechselseitigen Überschneidungen, Überlagerungen und sich je neu organisierende Konstellationen verstanden werden.

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Näher führt er dies exemplarisch für die Begriffe von »Familie« und »Erbe« aus, die sich als Hybride zwischen natürlich-biologischen und kulturellen epistemischen Feldern bewegen. Begriffe könnten als Grenzrelais im epistemischen Feld fungieren, indem ihre semantische Mehrdeutigkeit Verschaltungen zwischen den »epistemischen Regimes ›Natur‹ und ›Kultur‹« (S. 366) erlaube. Die Stärke dieses Denkmodells liegt darin, dass Koschorke die unterschiedlichen epistemischen Felder weder als in sich abgeschlossene, autonome Wissensregimes begreift, noch als zusammenhangloser Polyperspektivismus. Vielmehr weist er auf die Interaktion zweier epistemischer Regimes hin, die sich an ihren Grenzzonen in einem hochkomplexen Spiel der Zeichen und Bedeutungen entfaltet und ein vielfältiges Spannungsverhältnis zwischen einander überlagernder, ausschließender oder ergänzender Bedeutungsebenen etabliert, wodurch eine »Restunschärfe« (S. 371) entsteht, die sich logischen Denkmodellen widersetzt. Diese Überlagerung bei gleichzeitiger (partieller) Inklusion der epistemischen Diskurse ist nur dadurch möglich, dass jeder Diskurs nicht vollständig in sich geschlossen bleibt, sondern offene Randzonen bewahrt. Erst dies ermöglicht das Funktionieren der Gesellschaft mit ihren heterogenen Diskursen und Perspektivierungen.

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7. Fazit: Erzählung als gesellschaftliche Organisationsform

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Wahrheit und Erfindung vermag vielleicht auf den ersten Blick nicht durch die klare Struktur von Begriffen und Kategorien zu bestechen, wie rein strukturalistische Erzähltheorien nach dem Vorbild Gerard Genettes es vermögen. Diese Klarheit des Aufbaus ist – bei aller außerordentlichen Leistung für die Literaturwissenschaft – jedoch um den hohen Preis einer Dichotomisierung, einer abschließenden Klassifizierung und letztlich einer gewissen Simplifizierung erkauft.

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Die Stärke von Koschorkes Konzept einer allgemeinen Erzähltheorie liegt zweifelsohne darin, dass er es vermag, eine Konzeption von Erzählung zu entwerfen, die Erzählung als eine Form der Wissens- und Gesellschaftsorganisation begreift. Am neurowissenschaftlich fundierten, mentalen Schema ebenso wie an der Funktionsweise von Institutionen zeigt Koschorke eine Organisationsstruktur auf, die sich nach dem räumlichen Muster von Zentrum und Peripherie beziehungsweise nach der zeitlich komplexen Überlagerung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft beschreiben lässt und die er zugleich als narrative Organisationsform begreift. Deutlich wird dabei, wie sich die gesellschaftlichen Eigendynamiken einer strukturierenden Einfriedung immer wieder von neuem entziehen und begriffliche und narrative Ordnungen immer wieder in Bewegung versetzen.

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Damit bringt Koschorke in seiner Erzähltheorie strukturalistisches mit dekonstruktivistischem Denken zusammen: Ihre systemstabilisierende Wirkung liegt im strukturalen Moment der Erzählung begründet; ihre Dynamik gewinnt sie aus der Offenheit dieser Strukturen, die sich gerade an ihren Rand- und Grenzzonen entfaltet und von dort aus Umwandlungsprozesse in Gang zu setzen vermag. Die Erzählung wird ihm dabei zum Modell, mit dessen Hilfe sich unterschiedlichste gesellschaftliche und kulturelle Prozesse beschreiben lassen. Weit mehr als eine Methode literarischer Textanalyse zu sein, wird bei Koschorke die Erzähltheorie zu einer Theorie sozialer Interaktion.

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Von diesen Beobachtungen ausgehend mag es für den Literaturwissenschaftler lohnenswert sein, den Blick noch einmal zurück zu wenden, auf den literarischen Text und dessen Organisation von Erzählung. Zu fragen wäre, wie sich die (literarischen) Einzelerzählungen, quasi die Mikroebene des Erzählens, zu den Makrostrukturen der von Koschorke skizzierten Großerzählungen verhalten. Gestalten die vielen kleinen Erzählungen nur das Großnarrativ rein reproduktiv in exemplarischen Einzelgeschichten oder vermögen sie mitunter auch eine widerständige Kraft gegen die Großnarrative zu entfalten, aus deren Subversion im besten Fall ein neues Gegennarrartiv entstehen kann?

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Eine in Koschorkes Studie immer wiederkehrende Beobachtung scheint mir dabei besonders relevant und fruchtbar für anschließende Forschungen: So vermochte Koschorke in unterschiedlichsten Kontexten zu zeigen, welch zentrale Rolle Erzählungen bei der Entstehung, Verhärtung und Eskalation von Konflikten spielen, wie Feindbilder, Opfernarrative und ideologische Selbststilisierungen durch Erzählungen erst geschaffen und gefestigt werden, wie ökonomisches (Fehl-)Verhalten durch Narrative gestützt und verselbständigt wird und nicht zuletzt, wie Ideologisierung und Ausgrenzung sich narrativ stabilisieren. Erkenntnisse, die sicher nicht alle neu sind, die aber doch in der Zusammenschau die soziale Relevanz von Erzählungen einmal mehr vor Augen treten lassen.

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Was bei Koschorke noch in einem weitestgehend beschreibenden Modus verbleibt, scheint mir fruchtbare Anschlussmöglichkeiten zu bieten für ein – ebenso interdisziplinär auszurichtendes – Fragen nach der ethischen Dimension von Erzählungen. Diese Frage würde weiterführen auf ein Feld, in dem literaturwissenschaftliche Unterscheidungs- und Wertungskriterien von Erzählformen und Erzählweisen wieder an Relevanz gewinnen könnten. Wo zum Beispiel die Frage am Horizont erscheint, ob der (rein) fiktionalen, literarischen Erzählung nicht vielleicht ein subversives Potential innezuwohnen vermag, gegen die gesellschaftlichen und politischen (Groß-)Narrative eine Perspektivverschiebung und Unterwanderung in Gang zu setzen, die gerade an den von Koschorke immer wieder betonten unscharfen Randzonen ansetzt, dabei das ungestörte Nebeneinanderherlaufen von Widersprüchlichem jedoch nicht zu- sondern aufdeckt und so die Problematiken hegemonialer Erzählweisen offenzulegen vermag. Diese Perspektive wäre im Grunde lediglich eine literaturwissenschaftliche Wendung von Koschorkes programmatischer Formulierung: »Deshalb ist die Erzähltheorie, so wie sie hier verstanden sein soll, eine politische Wissenschaft.« (S. 245)