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Die bunte Welt der Modelle

  • Friedrich Balke / Bernhard Siegert / Joseph Vogl (Hg.): Modelle und Modellierung. (Archiv für Mediengeschichte 14) Paderborn: Wilhelm Fink 2015. 171 S. Kartoniert. EUR (D) 19,90.
    ISBN: 978-3-7705-5880-3.
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Die Rolle von Modellen in Erkenntnisprozessen und in der Lebenswelt ist in den vergangenen Jahren verstärkt ins Bewusstsein getreten. Gegenwärtig beschäftigen sich Forscher des Exzellenz-Clusters »Bild – Wissen – Gestaltung« an der Humboldt-Universität Berlin ebenso mit Fragen der Modellbildung wie eine interdisziplinäre Forschergruppe an der Christian-Albrechts Universität in Kiel. Das Graduiertenkolleg »Literarische Form. Geschichte und Kultur ästhetischer Modellbildung« an der Universität Münster und das Graduiertenkolleg »Modell Romantik. Variation – Reichweite – Aktualität« an der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeiten mit dem Begriff. Sie alle können auf eine zuletzt verstärkte Reflexionstätigkeit zurückgreifen.

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Hintergründe

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Bereits seit den 1960er Jahren gibt es Versuche einer Systematisierung der Typen, der Funktions- und Verwendungsweise von Modellen – am prominentesten in der Allgemeinen Modelltheorie (1973) 1 des Mathematikers Herbert Stachowiak, der in einer späteren Veröffentlichung formulierte:

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»Modelle sind immer Modelle von etwas, Abbildungen, Repräsentationen natürlicher oder künstlicher Originale (die selbst wieder Modelle sein können). Aber sie umfassen im Allgemeinen nicht alle Originalattribute, sondern stets nur solche, die für die Modellbildner und/oder Modellverwender relevant sind. Modelle sind mithin ihren Originalen nicht per se zugeordnet; sie erfüllen ihre Ersetzungsfunktion stets a) für bestimmte Erkenntnis- und/oder Aktionssubjekte, b) innerhalb bestimmter Zeitintervalle und c) relativ zu bestimmten Zwecken und Zielen, denen die Modellbildung und die Modelloperationen unterliegen«. 2
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Stachowiak ging von einer attributerhaltenden Repräsentation aus. Auch wenn seine Theorie in vielen sich mit »Modellen« reflexiv befassenden Wissenschaften breit rezipiert wurde, wird deren Abbildorientierung – vor allem seit einem erneuten Aufschwung der Modell-Forschung – problematisiert, und es wird heute kritisch nach dem Realitätsgehalt von Modellen gefragt. 3 Betont wird vielfach, dass Modelle nicht nur durch die Abstraktion und Idealisierung empirischer Beobachtungen zu einem Konstrukt werden, sondern auch durch in ihnen enthaltene Vorannahmen und Hypothesen. 4 Die genannten Fragestellungen nimmt der Informatiker und Wissenschaftstheoretiker Bernd Mahr in einer seit den 2000er Jahren publizierten Reihe von Aufsätzen auf. Sie zielen auf die Entwicklung einer neuen allgemeinen Modelltheorie. 5

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Mahr nimmt an, dass ein Gegenstand nicht für sich genommen ein Modell ist, sondern dadurch, dass er als Modell aufgefasst wird. Ein Gegenstand (in seiner Erscheinungsform als Körper, Text, Graphik, Menge von Regeln, Annahmen) wird durch die Auffassung eines Subjekts zum Modellobjekt. Das Modellsein ist also Inhalt eines Urteils und damit eine Rollenbeschreibung. Der als Modellobjekt aufgefasste Gegenstand verkörpert ein Modell, das wiederum in zwei wesentlichen Relationen steht. Zum einen ist es Modell von etwas, das Ergebnis eines induktiven Prozesses, der seinen Ausgangspunkt in einem Ursprungssystem (Matrix) nimmt. Zum anderen ist das Modell Referenzpunkt für Realisierungen und Anwendungen (Applikate) und hat damit eine deduktive Komponente. Daraus ergibt sich der Doppelcharakter einer zurückblickenden Reflexion und einer vorausschauenden Antizipation als Grundstruktur jeder Modellsituation. Diese an verschiedenen Orten explizierten Grundgedanken fasst Mahr in seinem Artikel »Formalisierende Anordnung« des vorliegenden Bandes zusammen.

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Der Band

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Die Herausgeber Friedrich Balke, Bernhard Siegert und Joseph Vogl formulieren im Editorial ihres Bandes Modelle und Modellierung theoretische Vorannahmen und beziehen sich in diesen eng auf die skizzierte Forschungssituation. Sie folgen Mahr in der Annahme, dass Modelle Gegenstände sind, die für sich selbst stehen, die aber zugleich durch ihre von-Relation und ihre für-Relation zu verstehen sind. Durch induktive Prozesse verbinden sie auch für die Herausgeber Daten und Merkmale zu einer abstrahierenden Anordnung und sind Referenz für eine Ableitung, für eine Übertragung ihrer Inhalte auf ein Anwendungsfeld. Die damit einhergehenden Übertragungs- und Transportprozesse werden – ebenfalls Mahr folgend – als wesentlich für das Wirken von Modellen angenommen. Sie werden im Editorial des vorliegenden Bandes allerdings sehr allgemein formuliert. Der Grad an Vagheit der Formulierung irritiert hier und an anderer Stelle, wenn »Modelle als Artefakte begriffen werden, die etwas mit bestimmten Mitteln von irgendwo nach irgendwohin transportieren« (S. 7).

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Auch andere als wesentlich hervorgehobene Punkte wirken ein wenig assoziativ in den Raum gestellt. Dies gilt für den Hinweise auf das weite Spektrum von Modellfunktionen (Erklärung von Ereignissen, Isolierung kausaler Zusammenhänge, Test von Hypothesen und Theorien, Voraussage von Resultaten) ebenso wie für die Annahme, dass der Modellgebrauch und das Verfahren der Modellierung einen wichtigen Anteil an der Verfertigung von Wissensformen übernehmen. Dabei wird die vielfältige Art ihrer Materialität betont – »Modelle verkörpern sich in Stilen, Vorschriften, Experimenten und Ausdrucksformen aller Art« (S. 6) – und nicht zwischen Modellbildungen in der Lebenswelt und in der Wissenschaft getrennt. »Die Modellierung geschieht mit sprachlichen und bildnerischen Mitteln, mit symbolischen Operationen, mit Algorithmen, mit kognitiven und handwerklichen Praktiken« (S. 6).

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Die Herausgeber nehmen auch auf die oben knapp skizzierte, zuletzt in den wissenschaftstheoretischen Debatten der Naturwissenschaften geführte Diskussion um den epistemischen Status von Modellen Bezug, indem sie ihren Gegenstand zwischen Faktizität und Fiktion einordnen und Modelle eine »Spielart theoretischer Fiktionen« (S. 6) nennen. An diesen »theoretischen Fiktionen« interessiert sie zweierlei: zum einen die Grenzen ihrer repräsentativen Kraft und die damit verbundene Frage, wann ein abstrahierendes, reduzierendes und formalisierendes Modell das Ausgangssystem durch eben die Vorgänge des Komprimierens und Subsumierens verfehlt. Zum anderen problematisieren sie den determinierenden Charakter von Modellen. Modelle verkörpern nicht nur ihr Ausgangssystem, sondern sie vollziehen eine Setzung und beeinflussen so die weitere Weltwahrnehmung ihrer Nutzer. Zur Zirkularität von Setzungen und empirischen Beobachtungen in Modellbildungs- und Anwendungsprozessen hat Sandkühler 2000 einen instruktiven Sammelband vorgelegt. 6 Und schon Herbert Stachowiak hatte auf dieses Problem reagiert, indem er pragmatisch hervorhob, dass seine Heuristik das Bewusstsein der Relativität und Vorläufigkeit von Modellen und Wissen immer schon mittransportiert. 7

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Die Beiträge

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Die dreizehn Beiträge des Bandes stammen aus verschiedenen Wissenschaften und Künsten, nehmen einige der genannten Grundfragen auf und decken ein ganzes Spektrum von Modellfunktionen, von Modellsituationen und Reflexionen über Modelle ab:

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Jan Müggenburg beschäftigt sich mit der Kybernetik als einer Wissenschaft, die nicht nur Modelle zum Einsatz brachte, sondern ihren Gebrauch auch theoretisch reflektierte und den Weg zu einer »Epistemologie der Computersimulation« (S. 21) wies. Martin Warnke bietet »Simulation wilder Spekulationen. Oder: Wie einmal Paul Baran mit einem falschen Modell das Internet erfand«. Aktuelle Herausforderungen in der Computersimulation schildert Richard Weinkamer aus naturwissenschaftlicher Perspektive und stellt deren Bedeutung am Beispiel der Berechnung von Knochenheilungsprozessen dar. Lina Maria Stahl betrachtet die Zelle als ein prominentes Modell der Lebenswissenschaften.

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Zur Rolle von Modellen in Literatur, Kunst und Architektur äußern sich Karin Krauthausen (»Der unmögliche ›Teste‹ und der mögliche ›Léonard‹. Zu Paul Valérys Modellierung (in) der Literatur«), Reinhard Wendler (»›Es gibt Dinge, die dulden keine Herstellung in einem Modell‹. Zur Rolle der Geltung von Entwurfsmedien«), Peter Heinrich Jahn (»Vorbild und Entwurfsvorlage. Gestaltgenerierende Modellbildung beim frühneuzeitlichen Architekturentwurf«) und Veronika Riesenberg (»Die Theoriefähigkeit des Modells in eigener Sache. Werkimmanente Modellkritik in der Gegenwartskunst«).

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Bernd Mahr liefert in seinem schon oben erwähnten Beitrag nicht nur eine Kurzfassung seiner Theorie, sondern grenzt Modelle als »Formalisierende Anordnung« auch von Notat und Zeichen ab. Samo Tomšič erklärt die platonische Ideenlehre zum Ursprung des klassischen Modellbegriffs und sieht in ihr sowohl ein statisches als auch ein dynamisches Modellverständnis angelegt (»Modelle in der Philosophie: zwischen Platon und Deleuze«). Robert Smid beschreibt die Interdependenzen zwischen psychoanalytischen Modellen (»Freud ›Chained‹ to Shannon: Transcribing Temporal Processes in Psychoanalysis«). Elke Muchlinski und Taylor Spears / Donald MacKenzie befassen sich mit der Relevanz ökonomischer Modelle für das Handeln von Zentralbanken und anderen Marktteilnehmern (»Vertrauen und Modellbildung in der Ökonomie«, »The Cognitive Sociology of Toxic Assets«).

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Herausgegriffen seien nun drei Beispiele, die über ihre Disziplinarität hinaus Anregungen bieten. Martin Warnkes Beitrag erzählt von der Grundlagenforschung zur Struktur von Kommunikationssystemen, die in der RAND-Corporation, einem amerikanischen Forschungsinstitut mit militärischen Wurzeln, in den 1960er Jahren betrieben wurde. Dort stellte man sich die Frage, wie im Falle eines thermonuklearen Krieges Informationen zuverlässig zu übermitteln seien. Paul Baran schlug einen Digitalverkehr in Paketform vor und entwickelte die Vorstellung eines fischerartigen Netzwerkes, das jedem Datenpaket zahlreiche Alternativrouten anbot. Das Modell, das topographische Gegebenheiten zu einer Grundfigur abstrahierte und die vielfältigen Verbindungen in einer Punktwolke abbildete, wurde zum Referenzpunkt einer technischen Entwicklung: des Internets. Die Raffinesse des Aufsatzes von Warnke besteht nun darin, dass er die Dynamik von Modellbildungsprozessen greifbar macht, indem er zeigt, inwiefern das Internet, einmal in der Welt, seinem Modell gar nicht entspricht, sondern neue Beschreibungen herausfordert, die die Netzknoten nicht gleichmäßig verbindet, sondern ein skalenfreies Netz ohne Maß und Mitte entwirft. Ein Beispiel für die produktive Kraft des Verfehlens.

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In den Künsten haben Modelle traditionell eine wichtige, doch zumeist dienende Rolle. Für Veronika Riesenberg spiegelt sich die gegenwärtige Modellkonjunktur im künstlerischen Interesse am Modell als eigenständigem Motiv oder Thema. Bei der zeitgenössischen ›Modellkunst‹ handelt es sich »um jene künstlerischen Positionen, die das Modell nicht nur zum vollgültigen Werk, sondern darüber hinaus zum Aushandlungsort von Modellkonzeptionen machen und damit – analog zu den Befragungen des Bildes im und als Bild […] im und als Modell Fragen nach dem Modellsein stellen.« (S. 103) Riesenberg stellt eine Auswahl von Künstlern vor, die mit einer Veränderung des Verhältnisses von Vor- und Nachbildung in den von ihnen dargestellten Modellen arbeiten. Das Lebensgroße wird verkleinert, die Miniatur vergrößert, um beispielsweise durch gut sichtbare Nahtstellen, Materialüberschüsse und Verzerrungen zu zeigen, welche Mechanismen beim modellierenden Zugriff auf die Wirklichkeit wirken. Nach Ansicht Riesenbergs lässt sich ›Modellkunst‹ nur durch die Zusammenführung von kunstwissenschaftlichen und modelltheoretischen Diskursen erfassen.

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Elke Muchlinski versteht die Finanzkrise als Evidenzbeweis von Defiziten ökonomischer Standardmodelle, die sie zunächst als Abstraktion von der Wahrnehmung ökonomischer Sachverhalte erklärt. Sie widmet sich der Rolle der Zentralbanken zur Überwindung der Finanzkrise und fördert dabei einen Aspekt zutage, der ihrer Ansicht nach in ökonomischen Modellen sträflich vernachlässigt wurde: das Vertrauen. Transparenz und Kommunikation seien als Funktionskriterien moderner Zentralbanken entscheidend. Also müssten Modelle entwickelt werden, die die konstitutive Funktion von Sprache und Kommunikation in der ökonomischen Interaktion berücksichtigten. Bestehende und zu entwickelnde Modelle werden hier an ihrer Fähigkeit zur Beschreibung sich verändernder Realitäten gemessen.

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Schon diese wenigen Beispiele machen die Vielfalt der Modellfunktionen und der Situationen, in denen Modelle eine Rolle spielen, evident. Die Darstellung dieser Vielfalt ist die Stärke des Bandes »Modelle und Modellierung«, auch wenn viele der Beiträge für eine schweifende, nach Anregung suchende Lektüre zu hoch spezialisiert sind. Das Gemeinsame (man könnte auch sagen »Modellhafte«) der dargestellten Situationen bleibt durch die Heterogenität der Gegenstände und die mangelnde Präzision der Einleitung allerdings etwas vage. Wer sich über den Stand der Arbeit am so schwer zu fassenden Begriff ›Modell‹ systematisch orientieren möchte, sei auf den Band der Kieler Forschergruppe Wissenschaft und Kunst der Modellierung verwiesen. 8

 
 

Anmerkungen

Herbert Stachowiak: Allgemeine Modelltheorie. Wien, New York 1973.   zurück
Herbert Stachowiak: Modelle und Modelldenken im Unterricht. Bad Heilbrunn 1980, S. 29.   zurück
Vgl. Günter Abel: Modell und Wirklichkeit. In: Ulrich Dirks, Eberhard Knobloch (Hg.): Modelle. Probleme und Perspektiven. Frankfurt a.M. 2008, S. 31–46. Thomas Gil: Modelle des Menschen. In: Dirks / Knobloch (Hg.): Modelle, S. 75–73.   zurück
Vgl. Anouk Barberousse / Pascal Ludwig: Fictions and Models. In: Mauricio Suárez (ed.): Fictions in Science. Philosophical Essays on Modelling and Idealisation. London: Routledge 2009, S. 56–75.   zurück
Bernd Mahr: Modellieren. Beobachtungen und Gedanken zur Geschichte des Modellbegriffs. In: Horst Bredekamp / Sybille Krämer (Hg.): Bild, Schrift, Zahl. München: Fink 2003, S. 59–86;
Bernd Mahr: Das Wissen im Modell. In: KIT-Report 150 (2004), S. 1–21. In: Institut für Telekommunikationssysteme Formale Modelle, Logik & Programmierung Online. URL: https://www.flp.tu-berlin.de/fileadmin/fg53/KIT-Reports/r150.pdf (18.02.2016);
Bernd Mahr: Cargo. Zum Verhältnis von Bild und Modell. In: Ingeborg Reichle / Steffen Siegel / Achim Spelten (Hg.): Visuelle Modelle. München u.a.: Fink 2008, S. 17–40;
Bernd Mahr: Ein Modell des Modellseins. Ein Beitrag zur Aufklärung des Modellbegriffs. In Ulrich Dirks / Eberhard Knobloch (Hg.): Modelle. Frankfurt a. M.: Lang 2008, S. 187–210;
Bernd Mahr: Modelle und ihre Befragbarkeit. Grundlagen einer allgemeinen Modelltheorie. In: Erwägen – Wissen – Ethik 26/3 (2015), S. 329–342.   zurück
Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Theorien, Modelle und Tatsachen. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1994   zurück
Herbert Stachowiak: Gedanken zu einer allgemeinen Theorie der Modelle. In: Studium Generale (1965), Bd. 18, S. 432–463.   zurück
Bernhard Thalheim / Ivor Nissen (Hg.): Wissenschaft und Kunst der Modellierung. Kieler Zugang zur Definition, Nutzung und Zukunft. Berlin u.a.: De Gruyter 2015.   zurück