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'Fraternal Enemies': Interdependenzen zwischen Erzählung und Performanz

Theater, Literatur und Film im Deutschland der Gegenwart

  • Claudia Breger: An Aesthetics of Narrative Performance. Transnational Theater, Literature and Film in Contemporary Germany. (Theory and Interpretation of Narrative) Columbus: Ohio State University Press 2012. 315 S. Gebunden. USD 72,95.
    ISBN: 978-0-814211-97-7.
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Die Rückkehr des Erzählens auf die Bühne einer transnationalen Kultur: »Standort Deutschland«

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Es wird wieder erzählt. Seismographen der ästhetischen Kultur verzeichnen spätestens seit der Jahrtausendwende eine Rückbesinnung auf traditionelle Erzählformate, die im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bereits im Zuge postmoderner Kritik an den großen Erzählungen für überwunden deklariert wurden. Das Erzählen ist nach seiner Verabschiedung in der Postmoderne also vielleicht sogar »back with a vengeance« (S. 3). Diese Rückkehr des Erzählens ist aber nicht auf literarische Erzählformate wie die boomenden Romangattungen beschränkt, sondern lässt sich ebenso in traditionell erzählkritischen Formaten wie dem Theater und dem Film beobachten. Darin besteht der Ausgangspunkt von Claudia Bregers Arbeit. Die Autorin ist Literaturwissenschaftlerin an der Indiana University in Bloomington und beschäftigt sich vor allem mit Performanztheorie und Gender Studies. In ihrer dritten Monographie von 2012 – im vergangenen Jahr ist sie als Taschenbuch erschienen – nimmt sie sich die Wechselbeziehungen von narrativen und performativen Darstellungstechniken vor. Ihre Prämisse besteht darin, dass sich Narrativität und Performativität eben nicht wechselseitig ausschließen, sondern als »fraternal enemies« (S. 1, zit. Marie Maclean 1 ) aufeinander angewiesen sind.

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Damit bearbeitet Breger eine der wirkmächtigsten Oppositionen der Literaturtheorie, die sich seit antiken Poetiken in Oppositionspaaren wie mimesis/diegesis, showing/telling oder Körper/Sprache niedergeschlagen hat. Die Rückkehr des Erzählens – sei es in Form von narrativen Elementen auf die Bühnen deutscher Theater oder in Form von traditionellen Erzählformaten in zeitgenössischen Romanen – ist flankiert von der Überlappung zweier Paradigmenwechsel oder ›turns‹, die versuchen, ästhetische Phänomene seit den 1990er-Jahren zu beschreiben: dem performative turn auf der einen Seite und dem narrative turn auf der anderen. Dezidiert plädiert Breger gegen die Ablösung des performative turn durch den narrative turn; im Gegenteil betont sie die Austauschbeziehungen der durch beide Paradigmenwechsel in den Blick genommenen Aspekte und fokussiert diese auf der Ebene von »techniques of narrative performance« (S. 7): Techniken also, die einerseits die Performativität des Erzählens und andererseits die Narrativität des Performativen erzeugen. Mit dem Begriff der ›narrative performance‹ wirkt Breger auch dem Trend in der Narratologie entgegen, performative Anteile schlicht über den Erzählakt als performative Urszene jeder Erzählung in ihre Theorietopologie zu integrieren und dabei gleichzeitig theoretische Ansätze der Performanz weitgehend zu ignorieren.

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Diese Aneignung der Performativität durch die Narratologie würde den Blick zumindest auf eine Seite der von Breger analysierten Objekte verstellen. Denn sie diskutiert sowohl Film als auch Theater und (erzählende) Literatur des ›Standorts Deutschland‹ in transnationaler Perspektive. Ihre 18 Fallstudien behandeln populäre Filme wie Sonnenallee (1999) und Good Bye, Lenin! (2001) ebenso wie René Polleschs Theaterstück Der Leopard von Singapur (2003) oder Feridun Zaimoğlus Roman Kanak Sprak (1995). Dieser Fokus mag nur auf den ersten Blick verwundern: Warum und inwiefern beschränkt sich die Studie auf Deutschland, wenn sie sich doch als transnational versteht? Mit dem Begriff der »location Germany« (S. 40) – dem ›Standort Deutschland‹ – nimmt Breger ein Schlagwort aus der Ökonomie auf, das von Kulturschaffenden und Kulturpolitikern 2 auf die kulturelle Produktion übertragen wurde. Es fasst die Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung als eine Arena, in der die nationale Identität der »Kulturnation« (S. 41) vor dem Hintergrund der Globalisierung in den ästhetischen Formen von Film, Theater und Literatur ausgehandelt wird. Dass diese Aushandlungsprozesse gar nicht anders als transnational zu denken sind, begründet Breger nicht nur mit der neuen politischen Selbstbeschreibung als ›Einwanderungsland‹, sondern vor allem mit den globalisierten ästhetischen Strömungen der Berliner Republik, die unter einer nationalen Perspektive nur schwer zu beschreiben wären. Ästhetik ist hier also mit Politik verknüpft. Indem die kulturelle Produktion mit verschiedenen Formen der Un/Mittelbarkeit spielt, zeitigt sie nicht nur ästhetische Effekte, sondern auch politische und kulturelle: Die Differenzierung zwischen den verschiedenen Techniken der Un/Mittelbarkeit dient dazu, »cultural trends« (S. 43) in größerem Maßstab zu kartographieren, ohne dabei die Vielfalt der einzelnen Medien einzuebnen.

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Der ›Standort Deutschland‹ ist also unter einer kulturwissenschaftlichen Perspektive deshalb so interessant, weil er diese Vielfalt in seinen Kunstformen reflektiert, auch wenn diese wie die Berliner Adaption am Renaissance-Theater von Doug Wrights I Am My Own Wife von 2007 importiert sind. Transnationalität ist dabei sowohl eine Herangehensweise als auch zugleich eine Objektbeschreibung. Denn die Studie behandelt Texte, die sich mit dezidiert transnationalen Themen beschäftigen wie Migration, der deutschen Wiedervereinigung und dem internationalen ›Kampf gegen den Terrorismus‹ – und das nicht in einem isolierten nationalen Raum, sondern im Austausch mit anderen diskursiven Gemeinschaften. Dementsprechend besteht das Ziel des Buches in der Erklärung von »imaginative world-making, identity formation, and critique in contemporary culture by studying the productive interplay, and overlap, of different narrative and performative forms« (S. 7). Genau an diesen Formen setzt die Studie an. Denn alle Medien bedienen sich narrativer wie performativer Formen – allerdings zu ihren medienspezifischen Bedingungen. Die Dichotomie zwischen Narrativität und Performativität wird also auf einer zweiten Ebene der – wiederum medienspezifischen – Techniken von Un/Mittelbarkeit durchbrochen.

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Die Arbeit besteht aus sechs Kapiteln: Im ersten Kapitel wird die titelgebende Ästhetik der narrativen Performanz theoretisch hergeleitet und auf den Standort Deutschland bezogen. Die folgenden drei Kapitel widmen sich verschiedenen Formen der narrativen Performanz in je unterschiedlichen Medien: Das zweite Kapitel untersucht Filme um die Jahrtausendwende, das dritte Kapitel analysiert literarische Erzähltexte desselben Zeitraums, und das vierte Kapitel beschäftigt sich mit zeitgenössischem Theater. Die folgenden Kapitel brechen mit der bisherigen Disposition, indem sie explizit intermedial und zunehmend transnational angelegt sind. So beschreibt das fünfte Kapitel die Rückkehr des autoritativen Erzählens in Erzähltexten (Juli Zehs Spieltrieb (2004) und Jonathan Safran Froers Extremely Loud and Incredibly Close (2005)) sowie auf der Theaterbühne (Elfriede Jelineks Bambiland in der Inszenierung von Christoph Schlingensief (2003) und ihrem Intertext, Die Perser von Aischylos). Das sechste Kapitel beschreibt den »turn to presence« (S. 227) im zeitgenössischen Theater (Günter Senkels und Feridun Zaimoğlus Schwarze Jungfrauen (2006), Andreas Veiels Der Kick (2005)) und Film (Christian Petzolds Yella (2007), Brigitte Berteles Nacht vor Augen (2008)). Das Buch schließt mit einer Zusammenfassung, die mit »Gestures of Closure« überschrieben ist und performativ zur Fortsetzung des Nachdenkens aufruft: »contribute to emerging conversations about the cultural forms of the present moment« (S. 274).

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Dramen der Theorie: Narrativität vs. Performativität

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Besonderes Verdienst der Studie liegt in ihrem theoretischen Zuschnitt, der Narratologie und Performanztheorie in einen produktiven Dialog setzt. Beide Theorien erzählen nämlich eine ähnliche Geschichte mit wechselseitigen Antagonisten: Das »narratological drama« (S. 12) besteht darin, dass das Erzählen als Held im Kampf gegen seinen Gegner, das Performative, bestehen muss und in diesem Antagonismus sein Profil gewinnt. Ebenso konturiert sich in der Performanztheorie das Performative in der Abgrenzung zum Narrativen (vgl. S. 24).

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Doch zunächst zur Narratologie: Breger beginnt mit der Definition des Narrativen bei Genette und legt den Finger in die Wunde der Theorie. Denn die Differenz zwischen Erzählung und Performanz ist asymmetrisch, was sich in der narratologischen Systematik niederschlägt, indem das Performative auf einer zweiten Stufe integriert wird. Nur so kann Genette den dramatischen Modus vom narrativen Modus in Erzähltexten unterscheiden, wobei die Unmittelbarkeit des dramatischen Modus immer unter dem Vorbehalt eines Erzählers steht, der die Figurenrede – etwa im Dialog – vermittelt. Erzählen ist damit laut Genette immer ein »mixed genre« (S. 13). Bregers Arbeit begegnet der Asymmetrie der narratologischen Systematik mit eigenen Begriffen: Statt vom dramatischen Modus im Sinne Genettes spricht sie von szenischem Erzählen, um das »cluster of techniques approaching immediacy of presentation« (S. 13 f.) zu beschreiben. Im Rekurs auf Käte Friedemann argumentiert die Arbeit gegen die »media purisms« (S. 15) der Theorien und bestimmt Narrativität eben nicht über eine mehr oder weniger anthropomorphisierte Erzählinstanz, sondern implizit funktional als »composition, selection, and arrangement« (S. 15). 3 Damit spielt die Kategorie gerade für die Analyse von Filmen und Theateraufführungen eine tragende Rolle. Das führt die Arbeit zu ihrer Hauptfrage bezogen auf Narrativität: »the question in which ways this act of narration is made aesthetically visible, or invisible, in any work in any medium, through (the absence of) a narrating figure or other techniques marking mediation« (S. 16). Mit Austin und Ricœur reagiert die Arbeit weiter auf den »antimimetic post/structuralist purism« (S. 16), indem sie mimesis als aktive Rekonfiguration definiert. In diesem Sinne eignet auch literarischen Texten eine »mimetic component« (zit. Phelan, S. 16). Damit nähert sich das narratologische Kapitel seiner Pointe, die in der Differenzierung zwischen Dramatisierung und Theatralisierung besteht. Theatralisiertes Erzählen betont seine Vermittlung, während szenisches Erzählen Unmittelbarkeit inszeniert.

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Erzählen verwendet also verschiedene »clusters of techniques« (S. 21), um Vermittlung darzustellen. Diese Techniken haben ihre Entsprechung in nicht-narrativen Texten. Dort differenziert Breger zwischen Vergegenwärtigung (presencing), die Unmittelbarkeit produziert, und Theatralisierung, die – etwa durch eine Stimme aus dem Off – ihre Mittelbarkeit inszeniert. Den Ausgangspunkt für Bregers performanztheoretische Bemerkungen bildet Antonin Artauds Attacke gegen den Dialog im Theater europäischer Prägung. Artauds Ziel, im Rekurs auf balinesische und andere nichteuropäische Theaterformen eine neue Theatersprache zu entwickeln, geht mit der Ablehnung von Narrativität einher, und zwar von Narrativität sowohl im Modus der mimesis – verstanden als Konstitution narrativer Welten – als auch im Modus der diegesis im Sinne Genettes als einer mittelbaren Präsentation durch Sprache. Darin verbindet sich die Kritik an mimetischem Realismus mit der Kritik linguistischer Vermittlung. Diese in der Forschung unter dem Stichwort der Repräsentationskritik vermengte Differenzierung ist für Breger entscheidend. Denn nur so kann sie die Produktion von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit in den verschiedenen Medien auf der Ebene von Techniken differenzieren:

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Two clusters of techniques from the respective angles of narratology and performance theory: on the one hand, those of scenic (= highly mimetic, presumably immediate) narrative and theatricalized narrative (= narrative that dramatizes the process of narrative mediation), on the other hand, those of (implicitly narrative, or mimetic) presencing and presentification, and (implicitly or explicitly narrative, or diegetic) theatricalization. (S. 269)
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Besondere performanztheoretische Anknüpfungspunkte bilden die Arbeiten von Erika Fischer-Lichte und Judith Butler. Fischer-Lichtes Theorien werden über ihre Untersuchungen zur Unmittelbarkeit des Theaters angeschlossen: Theater produziert intensive Erfahrungen von Gegenwärtigkeit, ein Erscheinen (epiphany), das nicht im Schein (appearance) aufgeht (vgl. S. 27). Dabei wendet Breger Fischer-Lichte gegen sich selbst, indem sie deren »media-ontological argumentation« (S. 28) durch die Betonung ästhetischer Techniken unterläuft: »techniques of rupture and disconnection« brechen zum einen mit den narrativen Strukturen des klassischen Theaters und betonen zum anderen durch Entsemantisierung ihre »specific materiality« (zit. Fischer-Lichte, S. 28). In Butlers Gender Trouble wird die Janusköpfigkeit der Performance deutlich: Einerseits führt die wiederholte Stilisierung zum Anschein (appearance) von Substanz; andererseits impliziert diese Stilisierung die Möglichkeit einer kritischen Modifikation der »figures of gender« (S. 34) im Erscheinen. Das führt Breger – trotz ihrer anfänglichen Weigerung (vgl. S. 7 f.) – zu einer Definition der Performativität:

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I argue for fully conceptualizing performativity as a ›democratic‹ process of (linguistic or other) signification, in which power is negotiated at the dynamic intersection of multiple, dispersed vectors of force (see Foucault, History of Sexuality I 92–95) or (with Bakhtin) in the »play« of »heteroglot social opinion« (S. 37 f.).
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Der Zielpunkt ihres Theoriekapitels liegt schließlich in der Frage nach der Autorität bzw. Zuverlässigkeit von Repräsentation (vgl. S. 39 f.). Damit löst die Studie auch die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Narrativität und Performativität auf: Nicht mehr nur stiftet Narrativität Zusammenhang, wo Performativität Präsenz erzeugt (vgl. S. 9), sondern unter dem Stichwort der ›narrative performance‹ kann Breger auch genau die Austauschbeziehungen und unterschiedlichen Techniken von Mittelbarkeit in den verschiedenen Medien – Film, Theater, Literatur – beschreiben. Mit Ästhetik meint sie dabei ein »media-inclusive analogue to the (predominantly literature-associated) notion of poetics« (S. 7). Damit geht es ihr um eine bestimmte Konfiguration der Elemente in einem Kunstwerk, die »a set of readerly engagements« (zit. Phelan, S. 7) auslösen. Mit diesem weiten rezeptionsästhetischen Fokus formuliert Breger ihr Projekt der ›narrative performance‹ als »process of reconfiguration, which develops, or minimally allows audiences to develop, new narrative connections in variously challenging existing tropes, topoi, and larger sociosymbolic scripts while also drawing on them« (S. 269). Ein politisches Konzept von Performativität wird also mit einem strukturellen enggeführt: Mit der politischen Produktion von Identität geht die Herstellung von Sinn einher.

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Das Ende der Spaßgesellschaft als intermediale Herausforderung

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Den genauen Argumentationsgang von Bregers Studie zu verfolgen, würde den Umfang dieser Rezension sprengen. Daher soll nach einer kurzen Situierung der Argumentationslinie auf ihr fünftes Kapitel eingegangen werden, das meines Erachtens das innovative Potential der ›narrative performance‹ am besten darstellt. Die Kapitel zwei bis vier beschreiben verschiedene Techniken narrativer Performanz, indem sie sich jeweils auf ein Medium – Film, Literatur und Theater – konzentrieren. Das zweite Kapitel beschreibt den deutschen Film als Mischform, der »elements of the literary art of time with the spatiality of visual media« (S. 43) kombiniert. Die analysierten Filme kombinieren dabei Theatralisierung mit narrativer Integration, d.h. sie bedienen sich verschiedener Techniken narrativer Performanz. Kutluğ Atamans deutsch-türkischer Film Lola und Bilidikid (1999) ist nicht nur der Paradefall eines transnationalen Films, sondern auch ein Fall doppelbödiger Inszenierung, der seine tragische Handlung mit komischen Elementen konfrontiert (vgl. S. 50–67). Im dritten Kapitel beschreibt Breger die neue Popliteratur um 2000, die sich von den 1990er-Jahren abgrenzt, indem sie eine neue Form performativer Ästhetik entwickelt. Diese unterscheidet sich etwa in Rainald Goetz’ Abfall für Alle (1999) von zeitgenössischen Filmen dahingehend, dass sie programmatisch szenische, präsenzorientierte Verfahren benutzt, um dadurch den Schein von Unmittelbarkeit zu erwecken, diese aber mit Techniken der Theatralisierung – also der Markierung von Mittelbarkeit – verbindet (vgl. S. 132). Im vierten Kapitel analysiert die Studie schließlich das Zusammenspiel von epischem Kommentar und affektiver Vergegenwärtigung im Theater. Dabei interessiert sich die Studie allerdings nicht für das Zusammenspiel des dramatischen Textes und seiner Aufführung, sondern konzentriert sich auf letztere. Ebenso wenig behandelt Breger die derzeit boomende Dramatisierung von Erzähltexten – eigentlich ja ein paradigmatischer Fall von ›narrative performance‹. In Olumide Popoolas dramatischem Fragment this is not about sadness (2010) wird der Konflikt soziosymbolischer Narrative in der Stimme einer Erzählerin, die allerdings als »internally multivocal« (S. 143) qualifiziert ist, auf die Bühne gebracht. Obwohl diese Stimme explizit als unzuverlässig markiert ist, kreiert sie gerade dadurch eine affektiv aufgeladene Präsenz in einer »complex negotiation between its diverging articulations« (S. 143). 4 An den transnationalen Rändern der deutschen Theaterszene hat sich demnach ein Trend entwickelt, der sich gegen den antinarrativen Impetus in ihrem Zentrum stellt.

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Im fünften Kapitel bricht die Studie mit ihrer bislang monomedialen Gliederung, indem es zeigt, dass ein Zugang, der keine transmedialen Beziehungen in den Blick nimmt, den ästhetischen Phänomenen des ›Standorts Deutschland‹ nur unzureichend gerecht wird. Ausgangspunkt bildet die These vom Ende der Spaßgesellschaft, die nach dem 11. September 2001 in der Rückkehr größerer Romanformen und auktorialer, vorgeblich allwissender Erzählinstanzen die Verfahren der Popliteratur (s. Kap. III) hinter sich lassen. Dabei betont Breger die poetologische Hybridität dieses Trends: Die Reste der Theatralität der Postmoderne aus den 1990er-Jahren treffen auf das Interesse für Präsenz nach der Jahrtausendwende. Mit Juli Zehs Spieltrieb beschreibt Breger, wie die Rückkehr zum allwissenden Erzählen durch postmoderne Kritik an narrativen Gottesmetaphern heimgesucht wird. Der Text oszilliert zwischen Fantasien absoluter Souveränität und Unterwerfung unter eine göttliche Instanz. In Elfriede Jelineks Bambiland betont der »turn to the divine« (S. 225) sein Gegenteil: das Scheitern des Menschen. Dieses Scheitern findet in der Inszenierung von Christoph Schlingensief am Wiener Burgtheater von 2003 (offenbar gehört Österreich auch zum ›Standort Deutschland‹) seine intermediale Entsprechung, tilgte der Regisseur doch weitgehend Jelineks Text. Demgegenüber stellt Breger die Inszenierung des Intertextes von Bambiland durch Dimiter Gotscheffs: der Perser von Aischylos (Deutsches Theater, 2006), die über die Figur des Boten und seine erfahrungsbasierte Autorität Kriegsleiden szenisch evoziert. In Jonathan Safran Froers Extremely Loud and Incredibly Close erkennt Breger schließlich eine komplexe Beziehung von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit, also von Theatralisierung und Vergegenwärtigung (presencing). Denn Froer verbindet beide Techniken durch seinen zehnjährigen Erzähler, der auf der einen Seite klar gegen den Trend einer Rückkehr allwissenden Erzählens spricht. Auf der anderen Seite hat gerade der Verlust seines Vaters in den Anschlägen vom 11. September seinen Niederschlag in der psychischen Verfassung der Erzählerfigur gefunden: Sie hat ein gesteigertes Bedürfnis nach Zusammenhang und Sinn. Diese Zusammenhänge hinterfragt der Text nur indirekt über die Psychologie des Erzählers, dessen Stimme trotz seines Traumas zu respektieren ist. Er »invites readerly empathy even where we evaluate him as unreliable« (S. 226). Damit stellt er ein »earthly and, in Zeh’s words, democratic substitute for the divine figures often evoked by contemporary calls for overcoming the postmodern crisis of narrative authority« (S. 226) dar. Diese Überwindung wird zum Ausgangspunkt des sechsten und abschließenden Kapitels, wo Breger ein neues Interesse für Präsenz in Film und Theater konstatiert, das »(direct) authority« aufgibt – und zwar »in favor of effects of ›the Real‹, without therefore necessarily being motivated by the radical antinarrativity of twentieth-century quests for presence«. Damit wird auch der Trend zu erhöhter Theatralisierung in theoretischen und ästhetischen Entwicklungen der 2000er-Jahre abgelöst (vgl. S. 270). Dieser Trend ist allerdings weniger Ausdruck eines »political quietism« (S. 271), sondern hat durchaus subversives Potential in der Entwicklung affektiver Störfaktoren, die sich vor allem in der Stimmenvielfalt der verschiedenen Texte zeigen.

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Fazit

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Als »close-up on contemporary culture at ›location Germany‹« (S. 268) bietet Claudia Bregers Studie nicht nur einen neuen Blick auf gegenwärtige ästhetische Darstellungsformen. Ihr spezifisch transmedialer Fokus bricht darüber hinaus mit einer Art Medienontologie (vgl. S. 28), indem sie Medialität, wie sie sich in Literatur, Film und Theater je spezifisch zeigt, von Un/Mittelbarkeit strikt trennt und Narratologie und Performanztheorie in einen produktiven Dialog setzt – genau an den Stellen, wo sie sich voneinander abgrenzen. Mit diesem innovativen theoretischen Zuschnitt lassen sich zwei Vektoren der Argumentation unterscheiden: Einerseits erkennt Breger in der Ästhetik der 2000er-Jahre einen zunehmenden Trend zu Präsenz (s. Kap. VI), der aber andererseits durch »media-specific trajectories« (S. 271) kompliziert wird.

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Neben der genauen Analyse dieses Trends in seinen verschiedenen medialen Formen betreibt Breger durchaus Kanon- und Gruppenbildung, indem sie Texte über mediale und nationale Grenzen hinweg analysiert und zueinander in Verbindung setzt. Das macht die Arbeit auf eine Weise, die ihre Leserinnen und Leser durch die Fülle ihrer Beispiele und durch die Engführung politischer und struktureller Argumente durchaus vor Herausforderungen stellt, aber nichtsdestoweniger zu neuen Verbindungen und Lektüren anregt. In diesen Bezügen über Gattungs- und Genregrenzen sowie über nationale Räume hinweg liegt neben ihrem innovativen theoretischen Zuschnitt und ihren Einzellektüren trotzdem der größte Gewinn der Arbeit, die zweierlei leistet, indem sie einerseits die ›fraternal enemies‹, Narrativität und Performativität, zu einem fruchtbaren Dialog überredet, andererseits die Literatur seit der Jahrtausendwende aus mediologischem wie politischem Blickwinkel kartographiert.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Brian Nelson / Anne Freadman / Philip Anderson (Hg.): Telling Performances: Essays on Gender, Narrative, and Performance. Newark, NJ: University of Delaware Press, 2001, S. 9 f.    zurück
Vgl. Randall Halle: German Film, European Film: Transnational Production, Distribution and Reception. In: Screen 47/2, 2006, S. 251–259, hier S. 252.   zurück
An dieser Stelle wäre der Anschluss an Gérard Genettes Bestimmungen von Funktionen des Erzählens ertragreich: vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Auflage. Wilhelm Fink: München, S. 183–186.   zurück
Das Konzept von Unzuverlässigkeit in der Darstellung spielt eine große Rolle in Bregers Arbeit. An dieser Stelle wäre sie anschlussfähig an die jüngst intensivierte Forschung, z.B. exemplarisch an Tilmann Köppe / Tom Kindt (Hg.): Unreliable Narration. Special Issue. In: Journal of Literary Theory 5/1. (2011).   zurück