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J. M. R. Lenz von ihm selbst

  • Herbert Kraft: J.M.R. Lenz. Biographie. Göttingen: Wallstein 02.03.2015. 464 S. Gebunden. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 9783835316478.

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»Jakob Michael Reinhold Lenz wurde 1751 am Reinholdstag, dem 23. Januar, im livländischen Seßwegen geboren, fünf Tage später getauft. Zum Namenspatron wählte er später nicht einen Heiligen mit seinem Rufnamen, sondern den Stärksten: den Erzengel Michael.« Ein Buch, das zu den ersten zwei Sätzen bereits drei Fußnoten aufweist, nämlich eine zur Datierung des Reinholdstages, eine zur Topographie von Livland und eine zur Wahl des Namens-Paten Michael, entzieht sich der herkömmlichen Vorstellung, dass Biographien durchgeschriebene Großerzählungen sind. Hier geht ein Gelehrter offenbar unbeirrt den historischen Details der Schriftsteller-Existenz nach, aber seine lebhafte, oft geradezu in Personenrede übergehende Diktion kommt dem Leser so weit wie möglich entgegen und vermittelt ihm die Illusion eines unmittelbaren Zeugnisses: Lenz von ihm selbst.

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Orte und Werke

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Die Gliederung des Buches ist denkbar einfach, sie folgt den Stationen eines literarischen Migrantenlebens, ausgehend vom Pfarrhaus im livländischen Seßwegen, an der nordöstlichen Grenze der damaligen Kulturwelt, dem Schulort Dorpat und dem Studienort Königsberg, fortschreitend über das liebliche Straßburg zum auratischen Weimar, von dort zu den Fluchtorten in der Schweiz und nach Waldersbach im Elsaß, dann zum »langen Weg zurück« nach Riga und Dorpat, nach St. Petersburg, wieder nach Dorpat, und schließlich nach Moskau, dem Ort einer elfjährigen Nachexistenz. Damit sind die Kapitelüberschriften gegeben.

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Damit sind auch die Gegenstände der Beschreibung bestimmt: Wechselnde Milieus für Leben und Schreiben. Darin eingeschlossen: Die entstehenden Werke und Schriften. Als zeitliche Klammer: Die Freundschaften, Begegnungen und Briefwechsel mit Zeitgenossen, Männern wie Frauen, und die Beziehungen zur Familie. Keine durchgehende Chronik der Ereignisse, keine Entwicklungsbögen, dafür Einzelstudien. Der Leser muss aufpassen.

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So beginnt alles mit einer zwölfseitigen Exploration der Lage Livlands unter dem Zarenregime in der Mitte des 18. Jahrhunderts, also der Verheerungen durch Krieg und Pest, der Dominanz einer deutschsprechenden Oberschicht und der unbeschränkten Leibeigenschaft der autochthonen Bevölkerung mit ihren »Bauernsprachen«, den sich daraus ergebenden Problemen des Religions- und Erziehungswesens, und schließlich der protestantischen Kirche selbst als »Herrenkirche« und der Nähe der landbesitzenden Pastorate zu den adligen Gütern (Unter Großherren und Kirchenherren). In diesem Konfliktfeld erscheint das Seßwegener Vaterhaus als Bildungsinsel, der Vater selbst, als Probst und bald pastor primarius in Dorpat, als souveräner Herr. In Dorpat besucht Lenz das Gymnasium, 1765 spricht er in einer Schulrede über die Verwüstungen des letzten Krieges, sein erstes Gedicht ist noch ein barocker Neujahrswunsch für die Eltern, aber sein erstes Theaterstück, Der verwundete Bräutigam, bezieht sich bereits auf einen zeitgenössischen Standeskonflikt. Statt das tränenreiche, zu Lebzeiten ungedruckte Familiendrama des Fünfzehnjährigen mit wenigen Worten abzutun, widmet Herbert Kraft ihm drei Seiten, beschreibt den Gang der Handlung nach dessen innerer Logik: »Dauernd will Lenchen zu Schönwald gehen, um sich selbst zu überzeugen, und tut es lange Zeit trotzdem nicht.« Lakonische Zwischenbemerkungen (»Tigras Ehre ist eine Standesehre, die des Deutschen«) und die dialektische Überschrift des Berichts: Ein deutscher Diener, ersetzen die Interpretation des Stückes. Das vergegenwärtigende Beschreiben historischer Texte, mit zahlreichen Zitaten aus dem Original, wird sich im Buch immer wieder finden.

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Nach Dorpat kommt Königsberg, »die drittgrößte Stadt Preußens«. Wie studiert man dort? Was kostet das? Welcher protestantischen Schule gehören die Theologen an, bei denen Lenz studieren soll? Was hat es mit dem Professor Kant auf sich, bei dem Lenz eigentlich studiert, und dem er 1770 eine Ode widmet? In ihr trägt nicht mehr Jesus von Nazareth den Titel Der Menschheit Lehrer, sondern ein Professor: Das »bedeutet Aufklärung statt Offenbarung.« Lenz schreibt das Vers-Epos Die Landplagen, die Liebe muss er sich, wie auch in Zukunft, in Gedichten erschreiben: Belinde und der Tod. Ein Student aus gutem Hause, aber was soll aus ihm werden? Gegen den Willen des Vaters zieht er als Gesellschafter, Diener und Sekretär zweier junger Adliger nach Süden.

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Straßburg, die schöne Stadt, Sonne, Liebe, Freuden, Wein. Aber zunächst erfährt der Leser alles zur Stadtgeschichte und zu den aktuellen Einrichtungen der Stadt – bis hin zur Zahl der Gasthöfe und zu den Sehenswürdigkeiten. Der kaum ältere Studiosus Goethe führt Lenz in die literarische Gesellschaft ein. Dieses mit Abstand längste Kapitel des Buches hat viel zu berichten, von der miserablen und abhängigen Existenz des jungen Lenz, von seinen mutwilligen Auftritten vor der Societé de philosophie et de belles-lettres, von seinen Liebschaften, aber vor allem von einem Produktionsschub des Schriftstellers zwischen 1771 und 1776: Ästhetische und philosophisch-moralische Abhandlungen, Gedichte, Streitschriften, Übersetzungen, Prosa, Dramen, darunter die beiden heute bekanntesten, Der Hofmeister und Die Soldaten. Der Biograph beschreibt das alles in mehr oder weniger kurzen, intensiven Referaten. Immer wieder zeigt sich, wie im Falle Wieland, das Missfallen des jungen Autors am herrschenden Literaturbetrieb, seine publizistische Befangenheit, seine Distanz zum Buchmarkt. Sie wird später eine lückenhafte und extrem verzögerte Publikationsgeschichte erklären müssen.

Hans Altenhein: J.M.R. Lenz und die Öffentlichkeit. In: Aus dem Antiquariat (inVorb.)

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Als die ökonomische Situation in Straßburg unhaltbar wird, geht Lenz auf Reisen, um sein Glück zu suchen, schreibt an Freunde in Hannover, Darmstadt und Weimar, sammelt ausstehendes Geld, besucht Darmstadt und Frankfurt und ist am 1. April 1776 in Weimar.

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Das Kapitel Weimar, genauer Weimar, Berka, nicht sehr lang, beginnt mit Goethes Eintreffen ein halbes Jahr zuvor und mit einer Bestandsaufnahme der Hauptstadt des Herzogtums von Sachsen-Weimar-Eisenach, 6.000 Einwohner. Der Besucher Lenz, der hier als Freund Goethes eingeführt ist, lebt von Anfang an auf Kosten des herzoglichen Hauses. Bald ist er Teil der Weimarer »Weltgeisterei« um den jungen Herzog herum, und bald endet der illusionäre Rausch (»O Angst, o tausendfach Leben«, Lied zum teutschenTanz) in der Stille des nahe gelegenen Ortes Berka. Lenz versucht immerhin, sich als Reformer des Militärwesens nützlich zu machen und schreibt den Briefroman Der Waldbruder, ein Pendant zu Werthers Leiden. Das eine wie das andere unterzieht der Biograph genauerer Betrachtung. Dann muss Lenz die Aura Weimars verlassen, Herbert Kraft schildert den Ablauf minutiös nach den Quellen.

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Was folgt, ist die Beschreibung der verschiedenen Fluchtorte und der Rettungsversuche von Freunden für einen weiterhin schreibenden, aber nun verstörten Autor. Der nächste Aufenthalt (und das nächste Kapitel) heißt Waldersbach. Was Büchner später von dort erzählen wird, ist die Krankengeschichte eines noch nicht Dreißigjährigen, hier heißt die Überschrift dazu Hieroglyphen – Zeichen, die der Theologe Lenz plötzlich zu erkennen glaubt.

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Der letzte Abschnitt der Biographie, immerhin noch fast hundert Seiten lang, widmet sich dem »langen Weg zurück nach Livland«. (Gert Hofmann, ein Autor des zwanzigsten Jahrhunderts, ist der Sache literarisch nachgegangen: Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz nach Riga.) Auch im heimatlichen Livland ist seines Bleibens nicht, die russischen Beziehungen – ist er nicht eigentlich Russe? – locken in die Residenz Petersburg. Dann beginnt erneut eine Irrfahrt, zurück nach Dorpat, wieder nach St. Petersburg. Im Herbst 1781 reist Lenz nach Moskau. Immerhin befördert er jetzt noch Arbeiten zum Druck, das sicher in Weimar schon begonnene »Lustspiel à la Chinoise« Myrsa Polagi, und das ebenfalls schon früher angefangene »historische Gemälde« Die Sizilianische Vesper.

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Wäre doch die Moskwa der Rhein!, heißt der neue und letzte Abschnitt der Biographie. Noch einmal eine Ortsbeschreibung, hier aus dem Stadtführer von 1804, noch einmal eine Reihe beruflicher Experimente, die alle misslingen. Beschäftigung mit gesellschaftspolitischen Entwürfen (wie einst in Berka) und Übersetzungen aus dem Russischen. Versuche, Anschluss an die politisch-literarische Gesellschaft zu finden. Bald verschwindet der Autor aus dem Gesichtsfeld seiner Zeitgenossen in Deutschland, 1792 stirbt er in Moskau. Keine Apotheose.

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Dem Buch beigegeben ist ein umfangreicher Anhang mit 851 Anmerkungen, einem Verzeichnis der Ausgaben und Einzelveröffentlichungen von Schriften und Briefen, einem Verzeichnis der Sekundärliteratur, einem Register der Lenz‘schen Werke mit Verweisen auf Textseiten und Anmerkungen im Band, und einem Personenregister. Stellenzitate im laufenden Text beziehen sich laut Vorrede zu den Anmerkungen generell auf die Ausgabe von Sigrid Damm: Jakob Michael Reinhold Lenz, Werke und Briefe (Leipzig: 1987). Aber auch alle anderen Ausgaben werden häufig benutzt, die inzwischen beträchtliche Sekundärliteratur erscheint in den Nachweisen.

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Historisches Präsens

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Immer wieder sieht Jakob Lenz sich selbst als Reisenden, wie eine seiner Dramenfiguren, »reisend in philosophischen Absichten«. Diesem Zwang zur Fortbewegung mit unbekanntem Ziel und für unbestimmte Zeit trägt die Anlage der Biographie von Herbert Kraft konsequent Rechnung. Ihre Hauptkapitel, quasi als Stationen in einer Reisebeschreibung, sind durch Ankunft und Abreise begrenzte Abschnitte, dazwischen liegen oft Leerräume. Diese Abschnitte sind von unterschiedlichem Umfang, je nach der Dichte der jeweils am Ort verbrachten Lebenszeit. Sie sind in Unterabschnitte gegliedert, die wechselnde Detail-Ansichten bieten, Ansichten von Örtlichkeiten, Liebesbeziehungen, einzelnen Werken, philosophischen Problemstellungen, historischen Begebenheiten, manche biographisch ausführlicher (Begegnung mit dem Lehrer der Menschheit, Leben in der Hauptstadt Livlands), die meisten nur wenige Seiten lang, ein enzyklopädisches Verfahren. Die Kunst der vielsagenden Überschrift verleiht diesen Kurztexten trotzdem generelle Bedeutung: Ein Mensch ist sein Tauschwert (zu einem Gedicht von 1775), Der Schmerzenssohn (Nachrichten aus Moskau: »Herr Lenz ist noch immer und zuweilen in einem hohen Grad hypochondrisch«), Die Ständegesellschaft auf den Begriff gebracht (zu dem Lustspiel Myrsa Polagi). Wer weiter in die Details eindringen möchte, ist auf die Fußnoten verwiesen. Manche von ihnen sind selbst kleine Forschungsberichte: Zur Rolle der Bauern in Livland (Nr.19-21), zu Kant unter der Zensur (Nr.155), zu dem lange Lenz zugeschriebenen Stück Das leidende Weib (Nr.325), zum Besuch des Rheinfalls (Nr.644). Dazu Zitate aus den Werken von Lenz und anderen, die für den Lesetext zu umfangreich sind, aber der Erläuterung dienen.

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Was die Teile des Buches zusammenhält, ist die »Einheit des Interesses«. (J.M.R. Lenz: »Das Interesse ist der große Hauptzweck des Dichters«, Über die Veränderungen des Theaters im Shakespear), nicht zuletzt das Interesse an den Beziehungen zwischen Sein und Bewusstsein. Was auf diese Weise sichtbar wird, ist kein Porträt des Dichters, kein Lebensbild, wie das von Sigrid Damm den Quellenfunden nachgezeichnete, das Buch enthält charakteristischerweise keine Abbildungen, nur der Schutzumschlag ist mit dem Kopf von Lenz aus Lavaters Physiognomischen Fragmenten unterlegt. Was hingegen sichtbar wird, ist die Textur einer vergangenen Schriftsteller-Existenz in ihrer Vergegenwärtigung. Das Buch ist generell im historischen Präsens geschrieben. Fertige literarhistorische Begriffe fallen nur wie beiläufig, unter dem Kennwort Sturm und Drang finden sich lediglich zwei kurze Einzelstudien. Alle Werkbeschreibungen, auch die von Nebenarbeiten, sind Lektüreberichte, »Befunde statt Deutungen«. Alles Weitere ist dem nachdenkenden Leser überlassen. Nicht umsonst ist der Verfasser Editionsfachmann.

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Jakob Michael Reinhold Lenz, der hundert Jahre lang von den Philologen eher verachtet als vergessen war und erst im frühen 20. Jahrhundert von den Literaten wieder in Erinnerung gebracht wurde, erlebt seit einigen Jahrzehnten seine Rehabilitation durch die Literaturwissenschaft. Monographien und neue Werkausgaben sind erschienen, von einer historisch-kritischen Ausgabe war mal in Jena, mal in Mannheim die Rede, Konferenzen folgen einander, das Lenz-Jahrbuch als Periodikum versammelt Forschungsarbeiten, ein Lenz Handbuch ist in Vorbereitung. Herbert Krafts Biographie ist als jüngstes Beispiel dieser Wiederbegegnung zu nennen, seine Darstellung sollte in ihrer besonderen Reichhaltigkeit und Lesbarkeit auch für öffentliches Interesse sorgen können.