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Theoretisch-ästhetische Gleichzeitigkeit Un/Verblümt Queerer Politiken

  • Josch Hoenes / Barbara Paul (Hg.): un/verblümt. Queere Politiken in Ästhetik und Theorie. Berlin: Revolver Publishing 2014. 270 S. Broschiert. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 978-3-95763-025-4.
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Der reichhaltig bebilderte Sammelband Un/Verblümt. Queere Politiken in Ästhetik und Theorie, hervorgegangen aus der Ringvorlesung un/verblümt und der sie begleitenden Abschlussausstellung Un/Möglich. kreuz und queer, liefert einen gelungenen und ambitionierten Beitrag zum herrschaftskritischen Feld queerer Politiken im Bereich Forschung und Ästhetik. Die Publikation schließt damit an eine Reihe wichtiger Ausstellungen und Publikationen in den USA und Europa, von 1997 bis 2014, an, die jüngst von dem Sammelband Zu Spät? Dimensionen des Gedenkens an homosexuelle und transgender Opfer des Nationalsozialismus (2015) fortgesetzt wird, der unter anderem »Mahnmals-Kunstdiskurse[] in Österreich und Europa« behandelt.

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Im Gegensatz zu Publikationen wie zum Beispiel: Das Achte Feld. Geschlecht, Leben und Begehren in der Kunst seit 1960, oder Trans*_Homo. Differenzen, Allianzen, Widersprüche ist Un/Verblümt kein Ausstellungskatalog. Ebenso wenig versuchen Josch Hoenes und Barbara Paul ein Lexikon queerer Kunst zu schaffen, wie das der Band Art & Queer Culture getan hat. Es handelt sich vielmehr um eine Sammlung theoretischer Beiträge zu Queer-Theorien, die anhand beispielhafter Texte einen Überblick über das breite Spektrum des ästhetischen Bereichs ebenfalls queerer Politiken bietet.

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Das Ziel der Herausgeber_innen ist es, durch den Dialog zwischen Ästhetik und Theorie Heteronormativität zu hinterfragen, und Herrschafts-Verhältnisse durch die Produktion »queere[r] Kunst und Kunstgeschichte/ -wissenschaft« (S. 14) zu verändern, ohne sich von Neoliberalen Tendenzen vereinnahmen zu lassen. Hoenes und Paul fragen nach den »Effekten von ästhetischen und theoretischen Artikulationen innerhalb historisch und kulturell spezifischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse« (Ebd.). Der Titel Un/Verblümt verweist dabei auf das Wechselspiel von versteckten und konfrontativen Darstellungen queerer Inhalte. Die einzelnen Beiträge schaffen durch vielfältige disziplinäre Perspektiven Einblicke in die diversen theoretischen und künstlerischen Entwürfe widerständiger queerer Politiken, die eine Schaffung (utopischer) Orte jenseits heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit ermöglichen.

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Die Herausgeber_innen beziehen sich mit ihrem Begriff der queeren Politiken auf eine Reihe (in den Kulturwissenschaften) einflussreich gewordener Konzepte: Prozesse der Subjektkonstituierung nach Judith Butlers Konzept der Performativität, Michel Foucaults den sozialen Körper überziehenden Machtbegriff, Antonio Gramscis Begriff der Hegemonie und Ernesto Laclau und Chantal Mouffes Konzept der ›radikalen Demokratie‹. Insbesondere Mouffes Differenzierung zwischen Politik und dem Politischen als konfliktreiche Dimension, welche neue Artikulationen und Unterscheidungen in Politiken und sozialen Ordnungen auslösen kann, verweist auf die besondere Bedeutung, die in diesen Überlegungen und Perspektiven künstlerischen, kulturellen und theoretischen Praxen zukommt. Mouffe ermöglicht es somit, diese als queere Politiken, die sich mit Herrschaftskritik und Widerständigkeiten auseinandersetzen, zu analysieren.

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Das behandelte Spektrum ästhetisch-künstlerischer Praktiken in Un/Verblümt ist beachtlich und beinhaltet Bild- und Performance-Analysen, musikwissenschaftliche Beiträge, einen Einblick in die Programmgestaltung queerer Filmfestivals und eine Textanalyse. Der Schwerpunkt liegt auf dem deutschsprachigen Raum, wobei auch drei Übersetzungen aus dem Englischen, unter anderem »Low Theory und Gaga-Feminismus« von Jack Halberstam, vertreten sind. Zwischen zehn theoretischen Beiträgen und zwei Workshop-Dokumentationen begegnet den Leser_innen außerdem eine Selektion abfotografierter Kunstwerke der Ausstellung, un/möglich. kreuz und quer. Neben Installationen, Skulpturen und Malerei gibt es hier sogar queer-politische Mode zu sehen. Zu den reproduzierten Künstler_innen gehören Ins A Krominga, Ruvel Gelibter, Josch Hoenes/Tomka Weiß, Elise Müller, Patricia Adler, Lulu Mendelova, Kristine Uebers, Mari Lena Rapprich, Alex Giegold/Tomka Weiß und Caren Reuss. Trotz der ambitionierten Einbindung dieser interessanten Kunstwerke zwischen die Theorieteile nimmt – jenseits der Einleitung – leider keiner der Textbeiträge auf sie Bezug. Auch ein dritter Workshop, von Lulu Mendelova, »Workshop 5.1 unter Druck Genuß«, ist kommentarlos fotografisch festgehalten. Es wäre wünschenswert gewesen, die künstlerischen Arbeiten – beispielsweise durch beigestellte Künstler_innen-Kommentare oder anderweitige (theoretische) Textbeiträge – zu reflektieren und so stärker zu integrieren. Ebenso hätte das Autor_innenverzeichnis am Ende des Buches um ein Künstler_innenverzeichnis erweitert werden können. Trotz dieser Versäumnisse ermöglichen die vielen abgebildeten Kunstwerke Leser_innen einen umfangreichen visuellen Eindruck von queeren Politiken in der künstlerischen Praxis.

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Das Nebeneinander von Text- und Bildbeiträgen ist nicht nur auf den Wunsch nach einem Dialog zwischen Ästhetik und Theorie zurückzuführen, sondern reflektiert auch das Anliegen queerer Politiken, sich mehreren Herausforderungen auf einmal zu stellen. Dieses Anliegen wird auch in einigen der Textbeiträge reflektiert. So plädiert zum Beispiel Mathias Danbolt in seinem Text »Gleichzeitig: Queere Politiken – Alles Auf Einmal« für das wertvolle Potential von Kontrollverlust und Verwirrung, die Folgen der gleichzeitigen Beschäftigung queerer Politiken mit unterschiedlichen Problemen sein können. Danbolt illustriert seine Argumentation am Beispiel von Auftritten der queeren Pop-Gruppe MEN, die in ihrem Song Simultaneously sowohl Pop-Musik als auch AIDS-Aktivismus visuell und sprachlich performt. Er argumentiert des weiteren, dass queere Zeit, wie sie Halberstam beschrieben hat, die Möglichkeit bietet, sich der Gleichzeitigkeit von Ereignissen, Problemen und Sexualitäten anzunähern und, nach Tom Boellstorff, die ›straight time‹ zu destabilisieren.

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Ein weiteres Beispiel für Gleichzeitigkeiten liefert Jonathan D. Katz in seinem, aus dem US-Amerikanischen übersetzten, Beitrag »Nicht versteckt, aber auch nicht sichtbar: Über Homoerotik in der US-amerikanischen Kunst«. Ausgehend von den Arbeiten von George Bellows und Romaine Brooks gibt Katz einen Einblick in die sexuelle Kultur des frühen 20. Jahrhunderts, in welcher sich queere und straighte Personen nicht nur oftmals die gleichen Räume teilten, sondern sich geradezu in wechselseitiger Abhängigkeit befinden konnten. Katz verweist darauf, wie sich die Konsequenzen geschlechtlicher Nonkonformität für Frauen und Männer unterschieden und welche Bedeutung Klassenunterschiede in diesem Zusammenhang hatten. Die Männlichkeit des aktiven männlichen Partners wurde in der damaligen Vorstellung durch gleichgeschlechtlichen Sex nicht beeinträchtigt. Hingegen galten passive homosexuelle Männer als queer und weiblich, und verloren dadurch in der sozialen Hierarchie an Ansehen. Im Gegensatz dazu wurde Maskulinität bei Frauen in den Zwanziger Jahren als ein Zeichen für Unabhängigkeit und Progressivität gewertet und war dadurch oft an sozialen Aufstieg gekoppelt. Katz verschweigt jedoch nicht, dass Frauen wie Brooks, die ihre Nonkonformität offen lebten, diese Möglichkeit oft nur hatten, weil sie finanziell unabhängig waren. Katz setzt seine Betrachtungen queerer Kunst mit einer Zusammenfassung verschiedener Reaktionen auf die Ausstellung Hide/Seek: Difference and Desire in American Portraiture fort. Er leitet damit über zur Zeit der AIDS-Krise und der Ablösung jener Koexistenz, die in Bellows’ Shower Bath noch dominiert hatte, durch das Minderheitenmodell.

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Klasse und Geschlecht spielen ebenso in Kadja Grönkes musikwissenschaftlicher Recherchearbeit »À la recherche de Mme Alexandre … Ein Plädoyer für eine erkenntnisgeleitete Gender-Forschung« eine entscheidende Rolle. Grönke legt dar, welche Schwierigkeiten, aber auch welche besonderen Erkenntnisse, die Forschung über musizierende Frauen des 18. und 19. Jahrhunderts begleiten, und weshalb es Mut zu grenzüberschreitender, pluralistischer Forschung braucht, um den Mangel an passenden methodischen Verfahren auszugleichen.

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In Beiträgen wie Antke Engels »Postkolonial Kauen Und Kannibalisch Begehren. Queere ästhetische Strategien im Kontext postkolonialer Kritik« sehen sich Leser_innen als Publikum mit ihrer Rolle in der Kunstrezeption und der Macht bzw. Verantwortung konfrontiert, die dem/der Einzelnen im Betrachten und der Interpretation zukommen. Engel konzeptualisiert hier spucken, schlucken und kauen (als Ausdruck kannibalischen und kannibalistischen Begehrens) in politischen Kontexten. Sie schlägt vor, dass im Kauen viszerale Politiken zu finden sind, die interkorporelles und transtemporales Verstehen kolonialer Gewaltgeschichte möglich machen. Nach Anne McClintock und Teresa de Lauretis argumentiert sie für die »queer-politische Umarbeitung« (S. 102) von kannibalistischem Begehren mithilfe von de Lauretis’ geteilten Phantasieszenarien’. Im bildanalytischen Durchkauen eines Fotos aus der Serie Lick Before You Look von Ines Doujak/Marth (2000) entsteht so eine Vielzahl von gleichzeitigen Deutungsmöglichkeiten, die Betrachter_innen eine Gelegenheit bieten, rassistische und heteronormative Machtkonstellationen verantwortungsvoll zu hinterfragen.

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Außer-sich-Geraten, ein ›undoing‹ nach Butler, und Aussetzen der eigenen Autonomie sind weiterhin Teil der Publikumserfahrung in Renate Lorenz’ Überlegungen »the drag of queer art«. Darin setzt sie sich mit drei Arbeiten aus der Performance- bzw. Installations-Kunst des späten 20. Jahrhunderts auseinander. Helen Chadwicks Domestic Sanitation (1976), drei Performances von Jack Smith (1970–71) und Zoe Leonards Strange Fruit (1992–97) dienen ihr als Beispiele für ›radical drag‹, ›transtemporal drag‹ und ›abstract drag‹. Chadwicks Performance wird von Lorenz als ›radical drag‹ verstanden, da sie es schwierig macht, Körper zu lesen. Lorenz versteht die bei Chadwick entstehende »Distanz zur Subjektivierung« (S. 124) als bezeichnend für queere künstlerische Praxis. Sie stützt ihre Argumentation geschickt auf Bertolt Brechts ›Verfremdungstechniken‹, Stefan Brechts ›queer theatre‹ und Kathrin Siegs Konzept des ›ethnic drag‹. Die Performances von Jack Smith wiederum stellen ein Beispiel für ›transtemporal drag‹ dar, da sie das teilnehmende Publikum mit einer zögernden, aufgeschobenen, alternativen Zeit konfrontieren. Lorenz interpretiert diese, im Zusammenhang mit der »Zeitlichkeit von SM« (S. 127) und anderer nicht-reproduktiver, perverser Sexualitäten (nach Sigmund Freud und Elisabeth Freeman), als eine »Intervention in die Verkörperung von Unterwerfung und regulierter Sexualität mittels Zeit« (S. 128). Das Publikum kann, trotz Kontrollverlust, durch Verhaltensstrategien wie dem vorzeitigen Verlassen der Performance, in das entstandene Machtverhältnis eingreifen. In Zoe Leonards Installation Strange Fruit wird für Lorenz der Übergang zwischen ›radical drag‹ und ›abstract drag‹ fließend, wenn mühsam erhaltene Überreste von Früchten neue Verbindungen zu Körpern implizieren und auf an AIDS erkrankte oder sterbende Menschen verweisen.

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Weitere hervorragende Textbeiträge sind Claudia Reiches Untersuchung anatomischer Darstellungen der Klitoris im Wandel der Zeit, Skadi Loists medienwissenschaftliche Abhandlung schwul-lesbischer Filmfestivals und queerer Programmstrategien, Michael Zywietz’ Versuch Richard Wagners Haltung gegenüber Homosexuellen am Beispiel von Wagners Aufzeichnungen über Karl Ritter zu interpretieren, und Johanna Schaffers Betrachtungen zur Thematisierung und Reproduktion sexueller Gewalt in Bildern.

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In den Workshops wurde anhand von Beispielen aus Kunst und Aktivismus über die Möglichkeiten, zwischen queerer Ästhetik und Politiken innovative Verbindungen zu schaffen, und somit Abhängigkeiten und Verantwortungen zu betonen nachgedacht. So wurden in Ins A. Krommingas Workshop »Genderfuck, Queercore und Hermculture – Wieso nur zwei Geschlechter?« die Fragen »Wie kann Kunst politisch sein?« und »Wie kann Kunst aktivistisch sein?« (S. 240) am Beispiel der Arbeiten von Nicole Eisenman, Sue Williams, Kara Walker, Del LaGrace Volcano, Risk Hazekamp und Ins A Kromminga diskutiert. Diese theoretische Auseinandersetzung und die daraus entstandenen Ideen wurden im praktischen Teil des Workshops dann als Inspiration für eigene künstlerische Arbeiten der Teilnehmer_innen genutzt. Die entstandenen Werke wurden abschließend zu einem queer Zine zusammengefasst, das in der Publikation reproduziert ist.

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In Gin Müllers Workshop Queere Performances und Aktivismus im öffentlichen Raum lernten die Teilnehmer_innen verschiedene Aktivist_innen Gruppen und Interventionsformen kennen. Auf diese Art wurde ihnen ein Verständnis für öffentlichen Raum als »Konfliktraum« (S. 222) vermittelt. Dieser Konfliktraum stellt ein Interventionspotential für subversive, queere Strategien, Aktionen und Gruppen dar. Müller bezeichnet radikal demokratische Interventionen (nach Laclau und Mouffe) als »Possen des Performativen« (Ebd.) und fragt danach, welche Möglichkeiten sie bieten, diesen Konfliktraum zu bespielen, zu kritisieren und zu öffnen. Der Workshop führte zu einer gemeinsamen ›Adbusting‹ Abschlussaktion Don’t be a Maybe – May U be Queer! der Workshop Teilnehmer_innen im Bremer Stadtgebiet. Bei dieser Intervention wurden Plakate der Marke Marlboro mit neuen Texten überklebt, so dass die ursprünglichen Plakate mit ihrem Slogan »Don’t be a Maybe – Be Marlboro« (S. 234) zum Beispiel zu »Don’t be a Sexist – May U be Queer!« (Ebd.) wurden und so queer-politische Aussagekraft bekam.

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Erfreulich an der Publikation Un/Verblümt ist, zusammenfassend gesagt, nicht nur, dass die theoretischen Beiträge das Feld queer-ästhetischer Forschung bereichern, sondern besonders dass der akademische Rahmen mittels Ausstellung, Zine und (speziell) Intervention im öffentlichen Raum aktivistisch erweitert und so queere Politiken in Theorie und Praxis betrieben wurde/n. Der Sammelband leistet somit nicht nur einen wertvollen theoretisch-ästhetischen Beitrag, sondern dokumentiert auch mehrere Momente queerer Politiken, die im Rahmen der Ringvorlesung un/verblümt stattgefunden haben.