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»Wie sich die deutsche Nation als patriotische Gemeinde versammelt«

  • Urs Büttner: Poiesis des ‚Sozialen‘. Achim von Arnims frühe Poetik bis zur Heidelberger Romantik (1800-1808). (Studien zur deutschen Literatur 208) Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2015. 481 S. Hardcover. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-031457-1.
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Dass es bei einer »Poiesis des Sozialen« um ein »weites Feld« geht, das sowohl historisch als auch philosophisch und ideengeschichtlich ausgelotet und begrenzt werden muss, wird notwendigerweise bereits im Einleitungskapitel mit einer genaueren Zielsetzung und Struktur des umfangreichen und ambitiösen Projekts präzisiert. 1 Demnach verfolgt die Arbeit vier Ziele: Sie verspricht a) einen Beitrag zur Wissensgeschichte des ›Sozialen‹ für die Zeit um 1800 im deutschsprachigen Kulturraum zu leisten (S. 4 f., Hervorhebung im Original); b) das Konzept Poetiken des ›Sozialen‹ systematisch auszuarbeiten und Eindrücke von ihrer historischen Relevanz zu vermitteln (S. 6, Hervorhebung im Original); c) die Entwicklungsschritte der Poetik des jungen Arnim zu rekonstruieren (S. 6, Hervorhebung im Original); und d) am Beispiel Arnims exemplarisch historische poetologische Entwicklungen um 1800 aufzuzeigen (S. 7).

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Das ›Soziale‹ und die Poetik des ›Sozialen‹:
Definition und Verortung

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Die Schwerpunkte der Arbeit sind auch deutlich in ihrer Struktur verankert: Einer Besprechung der Poetiken des ›Sozialen‹ folgt eine akribische, bis auf etymologische Wurzeln zurückgreifende Definition des ›Sozialen‹, die sich letztendlich auf den Begriff der »Versammlung des Sozialen« festlegt. Weit ausholende historische, philosophische und erkenntnistheoretische Ausführungen liefern denn auch die Grundlagen, die den jungen Arnim im zeitgenössischen Diskurs situieren und seine Sonderstellung um 1800 hervorheben. Während im ersten Teil der Arbeit Arnims fragmentarische handschriftliche Aufzeichnungen und kürzere Aufsätze aus der Schüler- und Studentenzeit eher sporadisch eingeflochten sind, trägt im zweiten Teil der Arbeit die Besprechung von Arnims Erstlingswerk Hollins Liebeleben, der Erzählung Aloys und Rose, des Lehrgedichts Ariel’s Offenbarungen und der Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn Wesentliches zur Arnimforschung bei.

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Die Arbeit ist in sieben Kapitel gegliedert. Den Ausgangspunkt bildet das Kapitel »Poetiken des ›Sozialen‹«, das nach der thematischen Einführung eine systematische Grundlegung des Konzepts Poetiken des ›Sozialen‹ um 1800 versucht, indem es den Begriff zunächst produktionsästhetisch kategorisiert und in fünf Rubriken unterteilt. Poetiken des ›Sozialen‹ sind zunächst Reaktionen auf ökonomische und politische Krisen, d.h. sie entwerfen Vorstellungen von ›Sozialität‹, die die alten, nicht mehr tragfähigen zentralen Institutionen mittels ästhetischer Revolutionen neu zu begründen suchen.

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Ihre Paradigmen des ›Sozialen‹ orientieren sich demnach an Vorstellungen von ›Gemeinschaft‹, ›Assoziation‹, ›Verband‹ und ›Verein‹, wobei der Begriff ›Geselligkeit‹ das Grundmuster einer Versammlung, ›Zivilgesellschaft‹ oder ›Bürgergesellschaft‹ den Großentwurf ausmachen. Um Außeralltägliches im Alltag zu inszenieren und dadurch neue Freiräume für die Verwirklichung von Individualität zu schaffen, organisiert sich ein Netzwerk von Zusammenkünften, die sich als ›unpolitisch‹ oder ›kulturell‹ verstehen und Veränderungen in den von ihnen abgesteckten Bereichen einleiten können.

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Ein zentrales Modell der ›Vergemeinschaftung‹ findet sich nach Büttner in der protestantischen Gemeinde, das in den Poetiken des ›Sozialen‹ auf Feste um Kunstwerke und Theateraufführungen übertragen wird, die universalistisch und ›allinklusivistisch‹ angelegt sind und jedem offen stehen. Das Mit- und Ineinander von Kunst und Leben mündet in einen Diskurs der ›Ästhetik der Existenz‹, in der utopische Entwürfe eines ›guten Lebens‹ und harmonischen Miteinanders in populärphilosophischen Traktaten und Lebenshilferatgeber konkretisiert werden.

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Alte und neue Sichtweisen

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Da es nicht darum geht, fiktionale, alternative Handlungsmuster zu entwickeln, sondern reale Bedingungen für eine Selbstverwirklichung zu schaffen, wollen die Poetiken des ›Sozialen‹ die »Realität als solche virtualisieren« (S. 24, Hervorhebung im Original). Neue poetische Sichtweisen sollen demzufolge zu neuen Perspektiven im Alltag verhelfen, indem sie das Potential der Umgestaltung und Verbesserung des gesellschaftlichen Miteinanders erkennen und umsetzen. Da die Poetiken des ›Sozialen‹ sowohl von den Initiatoren als auch vom Publikum umgesetzt werden müssen, ist das Eingreifen der Initiatoren dann unumgänglich, wenn das Kollektivgeschehen nicht mehr selbstorganisiert als ›Autopoiesis‹ des ›Sozialen‹ abläuft.

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Damit wird die Poiesis des ›Sozialen‹ als Teilnahme an der Autopoiesis des ›Sozialen‹ konzipiert und Gesellschaftskritik und Verbesserungen der Wirkungsfähigkeit der Kunstwerke werden anheimgestellt. Das Kapitel schließt mit einem weit ausholenden historischen Überblick der Poetiken des ›Sozialen‹ von der Romantik bis zur Gegenwart, in dem auch ein Forschungsbericht zu Achim von Arnims frühem Schaffen integriert ist.

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Das zweite Kapitel beginnt mit der etymologischen Erklärung des Wortes ›sozial‹, wie es in den Wörterbüchern um 1800 belegt ist, weitet dann die historische Diskurslage auf zeitgenössische Kritiker aus, kommt jedoch zu dem Schluss, dass auch hier keine durchsystematisierte Form der Praxistheorie gefunden werden kann. Büttner greift letztendlich zu den Theorien von Bruno Latour, Charles Taylor und Niklas Luhmann, um eine Genese des Wissens vom ›Sozialen‹ zu konstruieren. Vor diesem Hintergrund soll dann die spezifische Position des jungen Arnim in Relation zu anderen zeitgenössischen Positionen klar konturiert werden.

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In mehreren Unterkapiteln wird eine ›praxeologische‹ Diskursanalyse entwickelt, die Latours Akteur-Netzwerk-Theorie zum Ausgangspunkt hat und englische Begriffe wie »assemblage«, »assembling the social«, »re-association« und »reassembling« generell als Versammlung des Sozialen adaptiert. Da die gewählte Formulierung für vielgestaltige Interpretationsmöglichkeiten offen ist, plädiert der Autor auch sofort dafür, den Begriff nur metonymisch zu verwenden, damit er nicht zur bloßen Metapher werden könne.

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Latours ›Social Imaginaries‹, als ›Versammlungen von verschiedenen Gruppen‹ übersetzt, dienen dann auch als Hintergrund der Bildung unterschiedlicher Wissenskulturen, »die sich durch Einigkeit oder Kontroversen über ein alltagsweltliches Verständnis der Basiselemente des ›Sozialen‹ und ihres Zusammenhangs konstituieren« (S. 71). Die skizzenhaften Ausführungen Latours erfahren eine Konkretisierung durch Charles Taylor, der argumentiert, dass das Soziale keine »eingesetzte Ordnung darstellt, sondern von Menschen gemacht und auf ihren Fortschritt hinwirken kann und soll« (S. 73). In den Unterkapiteln »Topographien des ›Sozialen‹« und »Die fünf Fragen des ›Sozialen‹«, mit denen das zweite Kapitel schließt, geht es dann noch um die Anerkennung der Autonomie des Individuums als Basiselement und um die Fragen der Entwürfe menschlichen Zusammenlebens um 1800, in die nun auch der im Untertitel der Monographie genannte Autor Achim von Arnim eingegliedert werden soll.

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Nach der allzu umfangreichen abstrakt-theoretischen und leider auch oft jargonüberfrachteten Prämisse der Poetiken des ›Sozialen‹ erwartet der Leser eine Fokussierung auf Arnims Poetik und die Konkretisierung der Versammlung des ›Sozialen‹ am Beispiel des jungen Arnim. Da sich Arnim um 1800 als Naturforscher verstand, wird jedoch wieder weit ausgegriffen und zwischen den Gegenstandsbereichen Naturwissenschaft, Transzendentalphilosophie und kameralistischer Verwaltung unterschieden, unter denen sich die schöne Literatur nicht nur behaupten, sondern auch als komplementär erweisen muss.

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Das bedeutet, dass nach den methodischen Vorüberlegungen zur Analyse des Dispositionsraums der Genese einer Poetik des ›Sozialen‹ »zunächst die großen diskursgeschichtlichen Entwicklungslinien dargestellt« werden (S. 94). Solche begriffsgeschichtlich, theoretisch und methodisch weit ausgreifenden Fundierungen wie in der vorliegenden Arbeit verlangen folgerichtig zunächst auch umfängliche Darstellungen der zeitgenössischen wissenschaftlichen und philosophischen Diskurse, die schließlich am Beispiel Arnims konkretisiert werden sollen.

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Naturwissenschaft und Poetik

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Aus der Vielzahl der Differenzierungsprozesse werden nun die drei zentralen Wissensgebiete, die sich um Natur (Kap. 3.2.1), den Menschen (Kap. 3.2.2) und die Gesellschaft (Kap. 3.2.3) gruppieren, herausgegriffen und analysiert (vgl. S. 94 f.). Im Unterkapitel ›Natur‹ geht es nun um das Erkenntnisprinzip ›Ahndung‹, das in den Naturwissenschaften und der Naturphilosophie um 1800 eine große Rolle spielt. Zunächst wird es jedoch wichtig, die Denkbewegungen um 1800, die die Empirie der Naturwissenschaften von den naturphilosophischen Spekulationen mit dem Blick auf das große Ganze unterscheiden, zu präzisieren. 2 Dabei geht es darum, dass die ›Duplizität‹ von Wissenschaft und Philosophie nun ausgeweitet wird in die Triplizität, in der die Kunst als selbstbewusste Denkbewegung »Autonomieanspruch aufgrund ihrer spezifischen Epistemologie« erhebt (S. 96). 3

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An diesem Schnittpunkt ist Arnim verortet. Im aufklärerischen Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin geschult, war er in seiner Hallenser Studienzeit an den von seinem Lehrer Ludwig Wilhelm Gilbert herausgegebenen Annalen der Physik maßgebend beteiligt und damit der empirischen Methode verpflichtet. Während seine ersten Publikationen noch empirisch ausgerichtete Berichte, Exzerpte, Vorschläge für eine präzisere Quantifizierung durch die Verbesserung der Messinstrumente sind, werden in den großen Aufsätzen zu Galvanismus und Elektrizität Zweifel deutlich, die seine Wende von der Physik zur Literatur indizieren.

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Arnim, der weder in das Lager der Empiriker, noch in das der spekulativen Philosophie überwechselt, nimmt damit eine Zwischenstellung ein, die er in seiner Hinwendung zur Ästhetik zu explizieren sucht. In Büttners Diskurs der ›Versammlung des Sozialen‹ ordnet sich Arnim ebenfalls als Gradwanderer ein, da er nicht an den »Versammlungsaktivitäten der Scientific Community« teilnimmt, umgekehrt aber Re-inklusion in ein anderes Lager vermeidet (S. 102). Dem wäre hier hinzuzufügen, dass eine detaillierte Auswertung der im dritten Band der Weimarer Arnim-Ausgabe publizierten handschriftlichen Aufzeichnungen ein sehr detailliertes Bild der Arnimschen Denk- und Welterklärungsmodell liefert, das seine Sonderstellung unter den Romantikern nur noch unterstreicht. 4 Eine Gruppe skizzenhafter und fragmentarisch gebliebener philosophischer Entwürfe bezeugt, dass er historisch dachte und Wissenschaft und Dichtung in einem Spannungsverhältnis sah, in dem sich die unterschiedlichen Methoden von Wahrnehmung und Darstellung korrelativ bewegen. 5

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Büttner zeigt nun Arnims Arbeitsweise anhand der bisher nur fragmentarisch veröffentlichten Schriften aus dem Nachlass, in dem der Komplex des »Meteorologie«-Projekts wesentlich ist, da sich hier ein Wissenschaftszweig entwickelte, der sich im Gegensatz zur Chemie, die alles ins Einzelne trennte, auf das Ganze der Natur bezog und versprach, große Synthesen und eine Zusammenschau verschiedenster Phänomenbereiche liefern zu können (S. 104). 6

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Der zweite Teil der Ausführungen handelt von dem Prinzip der ›Ahndung‹, das Büttner anhand einer Briefstelle an Stefan August Winkelmann aufgreift und weiterentwickelt. 7 Nach dem obligaten Exkurs zum Begriff bei Alexander Gottlieb Baumgarten, Johann Georg Sulzer, Friedrich Heinrich Jacobi, Jakob Friedrich Fries und Immanuel Kant definiert Büttner Arnims Vorstellung als ›Prozess‹ der Natur, als fortwährenden Zeugungsakt, der dann auch mit Arnims Auffassung der Metamorphose kongruiert.

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Staat und Gesellschaft

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Das zweite Unterkapitel »Organismus und Gleichgewicht: Naturbilder der Gesellschaft« ist in vier Argumentationsschritte gegliedert: Zum einen sollen zentrale Charakteristika genannt werden, die den »entontologisierenden Umbau beider Bilder kennzeichnen« (S. 126). Zum anderen werden diese Bilder in ihrem historischen Nebeneinander verglichen bzw. kontrastiert. Danach folgen die Darstellungen des Gleichgewichts-Bildes und des Organismus-Bildes. Da das Organismus-Bild bereits gut erforscht ist, wird das Gleichgewichts-Bild ausführlich behandelt, insbesondere für eine Anwendung auf das Gesellschaftliche. Den Abschluss bilden Interpretationen von Goethe’s Wahlverwandtschaften, Arnims erstem dichterischen Versuch Dialogen bey den Ruinen des Thurms zu Babel und Heinrich von Kleists Aufsatz, den sicheren Weg des Glücks zu finden.

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Im dritten Unterkapitel »Herrschaft und Steuerung: Politik/Gesellschaft« geht es zunächst um die Beziehung zwischen Herrscher und Bevölkerung im absolutistischen Staat, deren asymmetrisches Verhältnis schließlich zur Krise führt, die diese Beziehung dann grundsätzlich verändert. Die daraus entstehenden Spannungen in Wirtschaft, Recht und Politik machen den Verfall der souveränen Macht sichtbar und leiten den Aufstieg der Öffentlichkeit ein, in der sich das ›Volk‹ immer mehr als eigentlicher Repräsentant versteht. Als Anschauungsmaterial für diese ökonomischen, politischen und sozialen Veränderungen dient ein Brief des Onkels Hans von Schlitz an den jungen Arnim, in dem dieser von einem Studium als Bergwerksinspektor und Jurist abrät und Kameralwissenschaft empfiehlt, da dies eine Anstellung im preußischen Staat ermögliche. Auf den Rat des Onkels immatrikulierte sich Arnim am 10. Mai 1800 an der Universität Halle, einer der führenden Bildungsinstituten für Kameralistik.

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Den Abschluss dieses Kapitels bildet der Teil »Nationalstaat oder Kulturnation: Öffentlichkeit«; hier wird eine Doppelbewegung festgestellt zwischen der ›Polizei‹ als politischem »Exekutivorgan der Bevölkerungsverwaltung« (S. 205 f.) und der Öffentlichkeit mit ihren Ansätzen zur Selbstverwaltung. Büttner fasst seine These der Poetik des ›Sozialen‹ im Hinblick auf diesen Themenkreis in drei Dispositionslagen zusammen: zum einen nimmt die Fähigkeit zu, das ›Soziale‹ versammeln zu können, um den Blick aufs Ganze zu schärfen und Zukunftsentwürfe zu entwickeln, die dem Wesen des ›Volkes‹ entsprachen; zum anderen bilden sich empirisches anthropologisches Wissen und Ausdrucksformen, deren sich die Menschen bedienen können; zum dritten entstehen ›sozialtechnologische‹ Fähigkeiten, die es ermöglichen, dass »ein Sprechort und Medienkanäle« Anwendung finden (S. 206).

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Hollin’s Liebeleben und frühe Prosa

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Mit dem vierten Kapitel beginnt die eingehende Analyse von Arnims Frühwerk, die sich auf den Erstlingsroman Hollins Liebeleben (1800–1801), Ariel’s Offenbarungen (1804) und die Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1805–1806) konzentriert. Kapitel vier bis sechs schließen mit einem »Zwischenresümee«, das die Auffächerung der drei Kapitel in die Komplexe »Individuum und Kollektiv«, »Integration«, »Differenzierung«, »›Soziale‹ Handlungsmuster, »›Sozialer‹ Wandel« noch einmal zusammenfasst. Während Kapitel vier und fünf sich in die beiden Teile: die »Poetik des ›Sozialen‹« und das »›Soziale‹ der Poetik« aufspalten, schließt das sechste Kapitel zu Des Knaben Wunderhorn mit dem holistischen und im Titel angekündigten Thema »Die Poiesis des ›Sozialen‹«.

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In Hollins Liebeleben lässt sich eine erste Fassung von Arnims Poetik des ›Sozialen‹ erkennen, in der bereits beide Perspektiven – die Poetik des ›Sozialen‹ und das ›Soziale‹ der Poetik – auf einander bezogen sind. Im Anschluss auf die Schüleraufsätze wählt Arnim im Hollin Freiheit als Handlungsmöglichkeit und weist damit dem Individuum die Fähigkeit zur Selbstverwirklichung, aber auch zu Irrtum und Verfehlung zu. Obwohl noch keine poetologisch reflektierten Verhaltensmuster von Individuum und Kollektiv ausgearbeitet werden, ist das Ziel klar: »Die Dichtung soll vom begrenzten Subjektivismus seines Autors abgezogen und zu einer ›realistischen‹ Darstellung der Perspektivefülle der gesellschaftlichen Wirklichkeit werden« (S. 269). Dazu dient die Gegenüberstellung des Hollinromans und des Integrationsmodells des Kollektivs das anhand der Saussurebiographie dem Roman beigefügt ist. Indem Arnims Figuren in konkreten Handlungsbedingungen und als allgemeine Handlungstypen dargestellt werden, befürworten sie die Aufgabe der schönen Literatur, sich am Fortschritt der Gesellschaft aktiv zu beteiligen.

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Die dem Studium folgende Bildungsreise (1801–1804) trug wesentlich zur Umstrukturierung von Arnims poetologischen Denkmodell bei (5. Kapitel). Da die Quellenbasis zu Arnims Reisejahren disparat ist, werden zur Analyse neben den Erzählungen von Aloys und Rose, den Erzählungen von Schauspielen und Ariel’s Offenbarungen vor allem Briefe und Reisedokumente herangezogen. In den poetischen Werken geht es Arnim weiterhin um die Differenzierung von Individuum und Gesellschaft, nun spezifischer, um die politische Lage in der Schweiz, um Reflexionen zur Ästhetik, und in dem »enzyklopädisch angelegte[n] Lehrgedicht [Ariel’s Offenbarungen] über die Natur« nicht mehr darum, über das Volk, sondern zum Volk zu sprechen (S. 375). Im Unterkapitel zu »›Sozialen‹ Handlungsmustern« präzisiert Büttner Arnims Gedanken zur universalen Poesis des ›Sozialen‹ als »produktive Rezeption und Performanz«, die nun spezifisch zugeschnitten ist auf künstlerische Vorlagen (S. 377). Da das Rollenhandeln sich nun auf die ›große Kette der Wesen‹ bezieht, verschiebt sich der Fokus von »Sein« auf das »Werden« 8 .

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Der Abschluss des Kapitels mit dem Titel »›Sozialer‹ Wandel« bringt die beiden Phänomene, den Abbruch der Überlieferung des Ewigen und die Individualisierung der Menschen miteinander in Verbindung und zeigt, wie Arnim an dem Grundbestand ewiger Wahrheit, manifestiert in Religionen, festhält. Damit ergeben sich zwei Tendenzen, die jedoch das gleiche Ziel vor Augen haben: Die Universalisierung des holistischen Ansatzes geht über die Kunst hinaus auf das ganze ›Soziale‹, was Arnim in seinen ästhetischen Konzepten weiter amplifiziert.

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Zum anderen liefern seine Textstrategien konkretere Lösungsansätze, was letztendlich darauf hinausläuft, dass die divergierende Lesart der Poetik des ›Sozialen‹ mit der des ›Sozialen‹ der Poetik an ihre Grenzen stößt und nicht mehr zu halten ist. Im folgenden Kapitel wird die Doppelperspektive aufgegeben und die Poetik des ›Sozialen‹ als Teil der universellen Poiesis des ›Sozialen‹ betrachtet.

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Des Knaben Wunderhorn und die Zeit nach 1806

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Das kurze sechste Kapitel mit dem Titel »Des Knaben Wunderhorn I (1805–1806)« gliedert die Liedersammlung ein in das Konstrukt des Themas und argumentiert zunächst, dass es Ziel war, mit der Publikation des ›Volksliederbuchs‹ die »lineare Säkularzeit aufzubrechen und die ›higher times‹ des Ewigen wieder einzusetzen« (S. 431). Indem die Inhalte der Lieder eine orale ›Social Imaginary‹ schaffen, wird sich jedes Individuum aus seiner Vereinzelung lösen, um sich vermittelst der Kunst zur Nation zu versammeln. Organisiert sich die bürgerliche Öffentlichkeit im Zuge der »oralen Gedächtniskultur« (S. 431) zu einer organischen Einheit, kann die Liedersammlung die Wende im Geschichtsprozess einleiten und eine allumfassende Poiesis des ›Sozialen‹ als Kontinuum erreichen: »Wenn Gott wieder zu sich selbst gekommen ist, dann hat sich die deutsche Nation als patriotische Gemeinde versammelt und in der Poiesis des ›Sozialen‹ verbinden sich Kunst und Leben zu einer ununterscheidbaren Einheit« (S. 433).

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Das siebte und letzte Kapitel »Ausblick: Kriegszeit (1806–1808)« skizziert kurz die Biographie Arnims während der Kriegsjahre, die ihn nach einem Aufenthalt bei Reichardt in Giebichenstein nach Königsberg verschlugen. Erst im Oktober 1807 traf er sich wieder mit Brentano, um am zweiten Band der Volksliedersammlung zu arbeiten. Konfrontiert mit der veränderten politischen Situation, fühlen sich Arnim und Brentano nun gezwungen, die Poetik des ›Sozialen‹ der neuen Situation anzupassen. Das führt in den folgenden zwei Bänden zu noch nachdrücklicherer Hoffnung auf ein Erlösungsgeschehen für die deutsche Nation. Während das Fehlen eines Nachworts und die Aufnahme der Kinderlieder in den Folgebänden bereits auf Zweifel über die Verwirklichung der selbstorganisierten Versammlungen des ›Sozialen‹ hindeuten, geben Briefe eindeutigen Aufschluss darüber, dass Arnim erkannt hat, dass es nicht realistisch ist, friedliche Selbstversammlungen der deutschen Nation in den turbulenten Kriegszeiten zu erwarten. Patriotische Gesänge können keine Kanonen ersetzen (S. 439).

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Arnim greift nun zu dem Alternativplan, »in einem Volksblatt« mit »Worten zu fechten« (S. 440). Obwohl dieser Plan nicht verwirklicht wird, realisiert Arnim mit der Herausgabe der Zeitung für Einsiedler ein Projekt, in dem er, auf das Wunderhorn zurückgreifend, die alten Zeiten an Stelle der Tagesereignisse in den Blickpunkt rücken wollte. Auch dieser Versuch scheiterte an den literaturkritischen und polemischen Auseinandersetzungen in Heidelberg.

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Das Fazit »Nachwirkung der Wunderhorn-Poetik« gibt noch einen Ausblick auf die Wunderhorn-Rezeption von 1818, als Arnim gebeten wurde, zur Neuauflage des ersten Wunderhorn-Bandes ein Nachwort zu verfassen. Im Rückblick auf 1806 sieht er sich in seiner Poetik des ›Sozialen‹ in vieler Hinsicht bestätigt, wenn er darauf hinweist, wie sich die Zustände im »Wehrstand«, den »Zünften«, dem »Studentenleben« oder dem »Gesetzgeben« verbessert haben (zit. S. 448). Dass die Arbeit hier mit einem Zitat aus der »Nachschrift an den Leser« endet, überlässt Arnim das letzte Wort. Wer könnte die Poiesis des ›Sozialen‹ besser artikulieren als der Gegenstand der Untersuchung selbst? Trotzdem wäre an dieser Stelle ein Ausblick auf Arnims weitere Schriften und seinen Gedankengang wünschenswert gewesen, wenn auch nur skizzenhaft umrissen.

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Fazit

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Die vorliegende Arbeit ist eine umfangreiche, auf hohem Niveau argumentierte Untersuchung, die neue und interessante Perspektiven zu Arnims Frühwerk liefert. Vor allem ist zu begrüßen, dass der Autor die Komplexität der anfangs aus den Naturwissenschaften gespeisten Denkmodelle angeht und auch schwer verständliche Texte wie Ariel’s Offenbarungen ausführlich analysiert. Während die oft weit ausgreifenden theoretischen Exkurse wesentliche Punkte erläutern, hätte eine engere Auswahl der besprochenen Quellen und eine Straffung der Argumentation dazu beigetragen, dem ›roten Faden‹ der Beweisführung leichter folgen zu können. Dem Leser wird es nicht leicht gemacht, sich durch die mit zahlreichen Anglizismen belasteten, akribisch argumentierten Folgerungen durchzukämpfen. 9 Das Ziel der Arbeit, Arnim in den Diskurs um die Poetiken des ›Sozialen‹ und das ›Soziale‹ der Poetiken, aufgelöst in die holistische Poeisis des ›Sozialen‹ einzuordnen, ist zweifellos erreicht, wenn die Zielsetzung auch erst im zweiten Teil fokussiert und klar artikuliert wird. Ein Desiderat bleibt ein Personenregister, das den Band dem Leser zugänglicher gemacht hätte.

 
 

Anmerkungen

Die Monographie basiert auf Büttners 2012 in Tübingen eingereichter Dissertation mit dem Titel Die Versammlung des ›Sozialen‹. Studien zu Kontexten und zur Genese von Achim von Arnims früher Poetik bis zur Heidelberger Romantik (1800–1808). Trotz Überarbeitung und Ergänzung behält die Arbeit die Struktur und Beweisführung der Dissertation bei.   zurück
Vgl. dazu Olaf Breidbach und Roswitha Burwick: Einleitung: Physik um 1800: Kunst, Wissenschaft oder Philosophie—eine Annäherung. In: O.B. und R.B (Hg.): Physik um 1800—Kunst, Wissenschaft oder Philosophie? (Laboratorium Aufklärung 5) München: Fink 2012, S. 7–18.   zurück
Ich verwende hier die von Arnim und den zeitgenössischen Naturforschern und ‑philosophen wie Johann Wilhelm Ritter und Joseph Schelling benutzte Terminologie. Vgl. dazu auch Büttners Besprechung von Arnims Versuch einer Theorie der elektrischen Erscheinungen (S. 122).   zurück
Vgl. Roswitha Burwick: »Kunst ist Ausduck des ewigen Daseins«: Arnims Poetische Ansicht der Natur. In: Olaf Breidbach und R.B (Hg.): Physik um 1800 – Kunst, Wissenschaft oder Philosophie? (Laboratorium Aufklärung 5) München: Fink 2012, S. 39–65.   zurück
Burwick: »Kunst ist Ausdruck«, S. 51.   zurück
Büttner bemerkt zu Recht, dass die Transkriptionen aus Stein/Gerten nicht zuverlässig sind und bietet, allerdings sehr vorsichtig, seine eigene Lesart der Transkriptionen an, die durch […] und [.] die fragwürdigen Stellen umgeht (S. 105). Büttner behält auch die alte Zählung des Nachlasses bei. Band 3 der Weimarer Arnim-Ausgabe benutzt nur noch die neue Zählung, fügt jedoch eine Konkordanz bei, so dass ältere Zitierungen der Transkriptionen nachvollzogen werden können.   zurück
Vgl. dazu die bei Büttner aufgeführten früheren Untersuchungen zum Thema (S. 108–114).   zurück
Der von Büttner genannten Quelle zur Kette der Wesen sei noch die 406seitige Aurea Catena Homeri. Das ist: Beschreibung vom Ursprung der Natur und natürlichen Dinge, wie und woraus sie gebohren und gezeuget, auch wie sie erhalten und wiederum in ihr uranfängliches Wesen zerstöret werden, auch was das Ding sey, welches alles gebähret und wieder zerstöret, ganz simpliciter nach der Natur selbst eigner Anleitung und Ordnung mit seinen schönsten natürlichen rationibus überall illustriret (Leipzig 1728) von Anton Josef Kirchweger hinzugefügt, die sich in Arnims Bibliothek befindet und zahlreiche handschriftliche Annotationen enthält. (Sign. 2725)   zurück
Verben wie »plausibilisiren«, »visibilisieren«, »virtualisieren«, Adjektive wie »allinklusivistisch«, oder Nomen wie »social imaginary« stellen wohl auf der einen Seite die Kenntnisse internationaler theoretischer Quellen unter Beweis, stören jedoch den Fluss der semantischen Strukturen. Unübersetzt und ohne Quellenangabe bleibt auch »higher times« (S. 431).    zurück