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Ein Unbekannter mit Bourdieu gelesen

  • Barbara Neueder: Eugen Oker. Einer der bekannteren Unbekannten der bayerischen Literatur. (Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland 48) Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2015. 434 S. 24 s/w Abb. Hardcover. EUR (D) 76,95.
    ISBN: 978-3-631-66023-2.
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Bekannte und Unbekannte

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Ein Kennzeichen des Literaturbetriebs ist, dass in ihm einige Autoren zur Kenntnis genommen werden, andere unbeachtet bleiben, bestimmte Texte sich durchsetzen und schließlich kanonisch werden, andere das Schicksal des Vergessens erleiden müssen. Auch dass zunächst unbeachtete Texte und deren Verfasser dann doch entdeckt werden und eine späte Karriere erleben, kommt vor. Dass das Schicksal literarischer Werke nicht immer von deren ästhetischer Qualität abhängt, ist allen, die mit Literaturgeschichte, Wertungsfragen und Kanondebatten vertraut sind, ein offenes Geheimnis.

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Literaturwissenschaft kann hier bis zu einem gewissen Grad Ungerechtigkeiten des Literaturbetriebs wieder gut machen, indem sie auf das, was das zeitgenössische Publikum nicht angemessen gesehen hat, aufmerksam macht. Aber auch wenn Literaturgeschichtsschreibung Erzählung ist, ist sie in dem, was sie in der Erzählung rekonstruiert, an die Quellen gebunden: so gibt es selbstverständlich immer wieder Autoren, die erst zeitlich versetzt in ihrer Rezeption Wirkung entfalten oder deren Signifikanz sich erst im Rückblick angemessen zeigt. Dazu braucht es aber den historischen Abstand, der die Arbeitsteilung zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft markiert: hier die Sichtung und Wertung der aktuellen Literatur, dort die Ordnung und Kanonisierung der literarischen Überlieferung, wobei beide nicht ohne die Kenntnis jeweils des anderen Bereichs auskommen.

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Pierre Bourdieu hat in seinen Arbeiten zum literarischen Feld die Literatur Frankreichs im 19. Jahrhundert zum Gegenstand genommen und ist damit von abgeschlossenen Prozessen ausgegangen. Welche Autoren auf diesem Feld zu welchen Formen des Kapitals gelangt sind, lässt sich aus der Rückschau und mit Blick auf die Erfolge und Misserfolge der sich bildenden Kraftfelder beschreiben. Der Ansatz hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine ganze Reihe von Nachahmern gefunden, die andere historische und geographische Räume zum Gegenstand genommen haben. Es ist also durchaus legitim und reizvoll, ausgehend von Bourdieu auch das literarische Feld Münchens in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zu analysieren. Die hier zu besprechende Dissertation unternimmt diesen Versuch ausgehend von Friedrich Gebhardt, der der literarisch interessierten Öffentlichkeit unter seinem Pseudonym Eugen Oker bekannt ist. Wie in der zu besprechenden Arbeit durchgängig der Fall wird der Autor auch im Folgenden mit seinem Künstlernamen benannt werden.

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Eugen Oker und das literarische Feld

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Eugen Oker ist 1919 in Schwandorf in der Oberpfalz geboren, hat vor dem 2. Weltkrieg eine Ausbildung zum Vermessungstechniker gemacht. Nach dem Kriegsdienst trat er, da seine Brüder gefallen waren, in die elterliche Ofenbaufirma ein, die er übernahm, dann aber 1969 verkaufte. Schon in dieser Zeit war er durchgängig als Lokaljournalist für die Mittelbayerische Zeitung und unter dem Pseudonym Adolar Gelb als freier Mitarbeiter für die Neue Zeitung in München tätig. Seit der Veröffentlichung seines Romans Winnetou in Bayern 1961 ist er nebenbei unter dem für die Publikation des Romans aus dem dunkleren Gelb abgeleiteten Pseudonym O(c)ker (die Schreibung entstand aus einem Versehen) zunächst als Rezensent von Gesellschaftsspielen für die Wochenzeitung Die Zeit journalistisch tätig (er gilt als Begründer der Spielekritik), um im Jahr 1971 schließlich seinen Wohnsitz nach München zu verlegen und dort als freier Schriftsteller seine Existenz zu suchen. Auch wenn literarische Projekte seit dem Kriegsende verfolgt wurden, dominieren zunächst die journalistischen Arbeiten. Barbara Neueder geht von einem Eintritt in das literarische Feld im Jahr 1972 aus, dem eine Vernetzungsphase von 1961 an voraus gegangen sei. Auch die Zeit ab 1972 lasse sich demnach in drei Phasen – Integration, Etablierung und Spätphase mit einer Wende hin zu literarischer Qualität – einteilen. Neueder spricht hier von »der literarischen Karriere Eugen Okers im literarischen Feld« (S. 342). Diese Fokussierung bestimmt auch ihre Darstellung: im Mittelpunkt steht das ›literarische Werk‹ und die Strategien des Autors, diesem Werk eine Öffentlichkeit zu verschaffen.

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Um die Problematik dieses Vorgehens mit dem Autor selbst zu signalisieren: der Vermessungstechniker Friedrich Gebhardt dürfte gewusst haben, dass man ein Feld nicht von einem Punkt aus vermessen kann. Und auch wenn der Feldbegriff Bourdieus nicht ein räumlicher, sondern ein struktureller ist, so sind Strukturen nur dann wahrnehmbar, wenn verschiedene Elemente aufeinander bezogen sind. Dazu liegen in der Arbeit zwar Ansätze vor, die aber sowohl im Sinn der Bourdieuschen Feldtheorie als auch in einer alternativ dazu vielleicht anzuwendenden Netzwerkanalyse kritisch zu befragen wären. Dass diese Ansätze in der Arbeit nicht weiter reflektiert werden, hat wohl auch etwas mit der Materialbasis zu tun, auf die sie sich stützt.

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Von Eugen Oker liegen zwei umfangreiche Nachlässe vor, zu denen die Verfasserin Zugang hatte. Der eine Teil ist im Literaturarchiv in Sulzbach-Rosenberg aufbewahrt, der andere besteht im Privatarchiv der Witwe des Autors. Dort finden sich umfangreiche Korrespondenzen, Entwürfe zu Veröffentlichtem und Unveröffentlichtem, Geschäftsunterlagen des auch als Versandhändler von Gesellschaftsspielen und als Verleger tätigen Autors, Dokumente seiner journalistischen Tätigkeit für Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen. Vieles davon wird in der Arbeit zitiert und ausgewertet, vor allem als Beleg für die literarische Bedeutung herangezogen, die seine Korrespondenten dem Briefpartner zuschreiben. Es handele sich um »ungehobene Schätze in Fülle und Klarsichthülle«, wie Gerd Burger, ein Freund Eugen Okers, in einem Brief an die Literaturwissenschaftlerin Gertrud Maria Rösch hervor hob, um die Regensburger Germanistik zu einer Beschäftigung mit dem Autor zu motivieren. Dieses Briefzitat sollte ursprünglich in den Titel der Dissertation eingehen, wie die Verfasserin gleich mehrfach mitteilt (S. 13, 65, 265). 1

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Die Fülle wird im Anhang der Arbeit dokumentiert; zugleich wird in diesem Anhang aber auch sichtbar, dass die Materialfülle überfordert, ja geradezu erschlägt. So stellt sich die Frage, welchen Status denn unveröffentlichte Werke innerhalb des literarischen Feldes haben können. Nur in Fällen, in denen sich dann auch eine Diskussion innerhalb einer Gruppe dokumentieren ließe, könnte man vom Austausch entsprechenden Kapitals ausgehen. Aber auch außerhalb der Kategorien Bourdieus ließe sich danach fragen, ob denn Unveröffentlichtes tatsächlich zu einer angemessenen literaturgeschichtlichen Einordnung des Autors führen kann. Dieser Teil des Nachlasses wäre doch allenfalls jeweils im Kontext der veröffentlichten Werke zu diskutieren.

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Der Anhang wirft aber auch sonst Fragen auf: Warum gibt es ein Verzeichnis der Werke Okers einschließlich der Entwürfe aus den Archiven (S. 349–363), ein weiteres, das die Werke Okers in seinem eigenen Verlag Kuckuck & Straps auflistet und sich zwangsläufig bei vielen Titeln mit dem ersten decken muss (S. 364–367), sowie eine Aufstellung der gedruckten selbständigen und unselbständigen Veröffentlichungen von Oker dann noch einmal im Literaturverzeichnis (S. 407–434)? Und auch wenn die Privatbibliothek von Eugen Oker mit Sicherheit Aufmerksamkeit verdient, so wohl nicht in der hier vorgelegten Form einer Beschreibung ihrer Aufstellung im Haus (S. 107: »Im gebhardtschen Haus befinden sich nahezu überall Bücher«) und des Erstellens eines Querschnitts von 90 Autorennamen (im Anhang S. 392 f.). Präsentiert wird nämlich eine Liste von Namen, die nichts über die tatsächlich vorhandenen Werke aussagt und von der man zudem annehmen muss, dass sie nicht auf Autopsie gegründet erstellt, sondern auf Zuruf (der Witwe Okers?) notiert wurde. So findet man in der Tabelle Kurt Götz (Curt Goetz?) an erster Stelle, 2 aber auch Öden [sic] von Horvath, Edgar Wallis [sic], Egon Fridel (Friedell) oder Andre Schid (André Gide). Die Schreibungen Bertold [sic] Brecht und Ringlnatz kann man noch unter Tippfehler verbuchen. Dass sich neben dem Eintrag »Laureuce [sic] Sterne« auch »Tristan Schandi« als Autorname findet, deutet aber darauf hin, dass das, was als Ausweis kulturellen Kapitals dienen soll (S. 107 f.), als solches nicht angemessen eingeordnet wurde, wie überhaupt der Aspekt des kulturellen oder des Bildungskapitals zwar in den einführenden Bemerkungen zur Methode der Untersuchung benannt ist, in der Durchführung dann aber auch wegen des stark verkürzten Verständnisses kaum eine Rolle mehr spielt.

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Rollenspieler und Feldakteure

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Damit komme ich noch einmal zur Untersuchungsmethode, ist doch erklärtes Ziel der Arbeit, wie der knappe Abriss Methodische und theoretische Grundlagen (S. 26–66) referiert, die Theorie des literarischen Feldes von Bourdieu auf den Gegenstand Eugen Oker anzuwenden. Dabei wird durchaus gesehen, dass die Theorie an der Literatur Frankreichs im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, eine Übertragung auf ein literarisches Feld in München in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und speziell auf einen einzelnen Schriftsteller also problematisch sein kann: »Eine bloße Übertragung der Theorie von einer Nation auf eine andere Nation sowie von einer Zeit in einen anderen Zeitabschnitt ist nicht legitim« (S. 49). Als besonders geeignet für eine solche exemplarische Übertragung der Feldtheorie auf einen neuen Gegenstand erscheint der Verfasserin Eugen Oker aber schon deshalb, weil er »die Rolle des Schriftstellers, aber eben auch die Rolle des Spielekritikers, des Feuilletonisten oder Verlegers« einnehme. Weiter verdiene Oker besonderes Interesse, weil an ihm untersucht werden könne, ob »der Dialekt als Teil der habituellen Prägung ein Distinktionsmerkmal [sei], das Okers Position im Feld positiv beeinflusst« (S. 51).

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Der Zusammenhang zwischen ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital wird als Grundlage der Untersuchung herausgestellt. Zusätzlich wird der Hinweis Bourdieus, man könne die Akteure im Feld auch als Spielende im Sinne Huizingas auffassen, mit Okers Interesse an dessen kulturphilosophischen Schrift Homo ludens verknüpft. Die Ankündigung, man wolle an »den Stellen der Arbeit, an denen die Verknüpfung von Feldtheorie und Spieltheorie im Hinblick auf den Schriftsteller Eugen Oker gewinnbringend scheint« (S. 48), diese auch thematisieren, prägt dann auch einen guten Teil der Darstellung. Damit handelt sich die Verfasserin allerdings das Problem ein, dass nun unbewusste Akte der Akteure im literarischen Feld, wie sie Bourdieu in seinem Modell beschreibt (er spricht deshalb ja auch von Feldpositionen), regelmäßig als intentionales, strategisches Verhalten eines Rollenspielers gesehen wird. Oker wird als bewusster Sammler von vor allem sozialem, aber auch symbolischem Kapital dargestellt. Dass die Austauschbeziehungen mit dem intellektuellen Feld auch in kulturellem Kapital bestehen könnten, wird nicht thematisiert. Vielmehr steht für die Verfasserin fest, dass Oker sich »mit vielen Personen, die über ein hohes institutionalisiertes, [sic] kulturelles Kapital verfügen«, umgibt (S. 239). Gemeint sind Promovierte und Habilitierte, von denen es vorher aber heißt, er habe zu diesen akademischen Titeln eine kritische Haltung eingenommen. Ob diese für das literarische Feld tatsächlich so relevant sind, wie die Verfasserin unterstellt (ebd.), darf man mit guten Gründen in Frage stellen. Vor allem aber darf man nicht wie hier geschehen das institutionalisierte kulturelle Kapital mit sozialem Kapital gleichsetzen.

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»drei echte Naturformen der Poesie«?

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Die an der Höhenkammliteratur Frankreichs im 19. Jahrhundert entwickelte Theorie Bourdieus lässt sich auf das literarische Geschehen anderer Literaturen und anderer Zeiträume mit Sicherheit und wohl auch mit Gewinn adaptieren – entsprechende Versuche liegen vor und sind in der Arbeit Neueders auch zur Kenntnis genommen (S. 16–22 und S. 49–66). Allerdings wird die in anderen Arbeiten aufgeworfene Frage, ob der Bourdieusche Kunst- und speziell der Literaturbegriff angemessen sei, hier zu wenig bedacht. Aber nur auf diesem Weg ließe sich der Ort und damit der Rang von Eugen Oker im Feld der deutschsprachigen Literatur bestimmen. Der hier eingeschlagene Weg, aus Archivalien private Bedeutungszuschreibungen stellvertretend für eine kaum stattfindende Rezeption Okers im Feuilleton heranzuziehen, überzeugt nicht; viel zu wenig wird reflektiert, wie diese persönlichen Korrespondenzen und die darin ausgesprochenen Urteile von Sympathie, Kalkül oder anderen denkbaren Motiven bestimmt sind. Und man muss vor allem akzeptieren, dass sich Oker in einem literarischen Feld bewegt, das sich eben nicht mehr in den Kategorien eines goetheschen Literaturverständnisses beschreiben lässt.

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Das aber ist hier der Fall: nach einem biographischen Abriss und einer davon isoliert gebotenen Skizze der bundesrepublikanischen wie lokal-münchnerischen Geschichte mit nicht feststellbarem Bezug zum literarischen Werk Okers werden die drei Gattungen Drama, Lyrik und Epik abgehandelt, wobei unter dem Punkt 4.3 Epik wenig systematisch auch die ›Sachbücher‹ und Lexika aufscheinen. An diesen Werküberblick schließen sich dann Einzelanalysen veröffentlichter wie unveröffentlichter Texte an, die ebenfalls wieder dem Muster der Gattungstrias folgen: Erzähltextanalysen stehen neben Dramen- und Lyrikanalysen. Sie bestehen jeweils aus Hinweisen zur Entstehung, inhaltlicher Beschreibung, Aufzählungen verwendeter Mittel und Bemerkungen zur Rezeption. Merkwürdig erscheint dabei, dass – obwohl der Autor zu einem guten Teil als Dialekt-Lyriker wahrgenommen worden ist (vgl. seine Präsenz in entsprechenden Anthologien) – kein eigener Abschnitt der Untersuchung sich ausdrücklich damit befasst. Die Lyrikanalysen beschränken sich auf Standardsprachliche Gedichte (S. 215–229).

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Eingeschoben sind Exkurse, die sich mit Einzelfragen wie der Rezeption eines bestimmten Textes oder aber mit der Wortbildung im Roman Zahlbar nach dem Endsieg befassen. Darauf folgt ein Überblick über Okers Tätigkeit als Verleger, seine Verbindungen zu Freunden und Schriftstellerkollegen, seine Beziehungen zu Verlagen und Verlegern. Abschnitte zur Rezeption und dann vor allem zu Eugen Okers sonstiges Schaffen (mit Okers eigener Kategorisierung als »Lebenskäse« bezeichnet) schließen die Untersuchung ab, bevor der Versuch unternommen wird, in einem Fazit Eugen Okers Gesamtkunstwerk zu charakterisieren. Im »Lebenskäse« versammeln sich dann zum Beispiel Okers Tätigkeit als Feuilletonist und Journalist für Zeitung, Rundfunk und Fernsehen, seine Spielekritiken, vor allem aber auch seine literarischen Spiele PARODI und GOETHEPARODI. Es ist bezeichnend, dass die Frage nach Okers Kanonisierung verhandelt wird, noch bevor dieser »Lebenskäse« in seiner Vielfalt jeweils kurz vorgestellt wird.

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Kinder, Literatur und Spiel

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Dass sich der Literaturbegriff seit den Avantgarden der 20er Jahre, dann aber vor allem besonders intensiv nicht zuletzt unter dem Einfluss einer Bildungsdiskussion in den 60er Jahren radikal geändert hat, ist der Verfasserin nicht bewusst. Okers Arbeit an dramatischen Stoffen – z.B. an einem Faust III – müsste doch zwingend zur Frage nach dem Verhältnis zur gleichnamigen Parodie Friedrich Theodor Vischers führen, aber auch einem Kartenspiel wie PARODI einen Platz in den literarischen Werken Okers verschaffen; davon werden PARODI und GOETHEPARODI aber ausdrücklich ausgeschlossen. 3 Das Infragestellen der Höhenkammliteratur ist aber ein Signum der Zeit; der Kontakt zwischen Peter Rühmkorf und Oker, der immerhin erwähnt wird (allerdings abermals nur in der Form von zu transferierenden Kapitalien auf dem Feld, S. 119), sollte doch auch dazu führen, diese literaturgeschichtlichen Zusammenhänge zu reflektieren. Von Okers Babba, sagt der Maxl erfährt man in der Hauptsache, dass es den Ruf des Autors als Kinderliterat begründet habe, der er aber nie habe sein wollen (S. 151), darüber hinaus, dass Oker damit zum Begründer eines dialogischen Erzählens geworden sei. Dass der Text ludisch konzipiert ist und der Ezählausgang von den Reaktionen des Mitspielenden Maxl abhängt, wird zwar in Verbindung mit Huizinga gebracht (S. 155), was aber analytisch nicht weiter verfolgt wird.

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Aber auch das literarische Feld, in dem Oker als Kinder- und Jugendliterat rezipiert wird, bleibt unbeachtet. Nachdem die Verfasserin den Abdruck der Geschichte vom fliegenden Robert in der von Hans-Joachim Gelberg herausgegebenen Anthologie nicht verifizieren konnte, sah sie auch nicht, dass diese Anthologie als Viertes Jahrbuch der Kinderliteratur firmiert und damit repräsentativ für eine Aufwertung von Kinderliteratur steht – an den Parallelfall Peter Härtling könnte man immerhin denken. Oker befindet sich im Jahrbuch selbst in der Gesellschaft von zum Beispiel Barbara Frischmuth, Josef Guggenmos, Ludwig Harig, Leonie Ossowski oder Herbert Rosendorfer. 4

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Selbst dort, wo sich aus Neueders Ansatz Möglichkeiten zur Untersuchung ergeben, bleiben sie ungenutzt. So wird die Beziehung zu Kurt Heuser ausführlicher dargestellt. Heusers Bedeutung für Oker liege in der Vermittlung des Kontakts zu Hans Werner Richter (S. 241); im übrigen teilten Oker und Heuser die Leidenschaft für das Gesellschaftsspiel ebenso wie für alle Formen von Sprachspielen. Die Treffen in Okers Haus bei Schweinebraten und oberpfälzer Knödeln werden immerhin als Vorläufer des poetry slam apostrophiert (S. 257). Dass aus dieser Leidenschaft ein gemeinsam entwickeltes Gesellschaftsspiel hervorgegangen ist, erfährt der Leser nicht. 5 Auch die Tatsache, dass Heuser vor allem als Drehbuchautor tätig war, bleibt unberücksichtigt, obwohl es mit den dramatischen Versuchen Okers und seiner Tätigkeit für das Fernsehen in Verbindung zu bringen wäre. Dass der um einige Jahre ältere Freund auch während des Nationalsozialismus Drehbücher geschrieben hat und deshalb im Hinblick auf Okers eigene Vergangenheitsbewältigung Fragen aufwirft, wird nicht gesehen. 6 Es bleibt beim Aufzeigen interpersoneller Beziehungen, die sich im Anekdotischen erschöpfen.

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Was sonst noch fehlt ...

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Die Beispiele dafür, dass das literarische Feld nur völlig unzureichend ausgeleuchtet worden ist, ließen sich weiter vermehren. Ich beschränke mich auf drei Hinweise:

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Man erfährt im biographischen Abriss, dass Oker H.C. Artmann als eines seiner Vorbilder in der Lyrik einschätzt (S. 102). Das führt aber keineswegs zu einer Befassung mit dessen Bedeutung für die Avantgarde jener Jahre, geschweige denn wird die Rolle des Dialekts für die Lyrik in den 60er und 70er Jahren reflektiert, obwohl diese Form aus den unterschiedlichsten Gründen in den literarischen Diskurs jener Zeit gehört (von der Konkreten Poesie bis hin zur Debatte um Soziolekt und restringierten Code in der Nachfolge Basil Bernsteins). Hier dient das dialektale Sprachmaterial nicht nur der Lyrik, sondern vor allem auch der Erzähltexte lediglich als Signal dafür, dass Oker im wissenschaftlichen Feld wahrgenommen werde und damit eine Aufwertung erfahre: penibel wird durchgezählt und prozentual quantifiziert, wie oft Ludwig Zehetner in seinem Lexikon Bairisch Deutsch Belege aus Okers Werken anführt (S. 162). Auch wenn Oker in einem Brief an Zehetner das als seine »GRÖSSTE LITERARISCHE BESTÄTIGUNG« (im Brief vom 19.12.1997, zit. S. 162) bezeichnet, sollte die Verwendung der Großbuchstaben doch immerhin darauf befragt werden, ob es nicht auch ironisch gemeint sein könnte.

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Das biographische Faktum, dass Okers Frau einer Gastwirtsfamilie aus Kallmünz entstammt, spielt immer wieder eine Rolle, auch weil der Schriftsteller im Gasthof ›Zum Goldenen Löwen‹ Lesungen abhält oder sich dort mit Freunden trifft (S. 111). Dass Kallmünz spätestens seit dem Aufenthalt von Wassily Kandinsky und Gabriele Münter im Sommer 1903 zum Aufenthalt zahlreicher Maler des Expressionismus aus Nord- und Süddeutschland geworden ist, die Inhaber des ›Goldenen Löwen‹ in Kallmünz zu diesen Gästen immer ein besonderes Verhältnis gepflegt haben, macht die Besuche zu etwas anderem als dem Einwerben von ökonomischem und sozialem Kapital. Man kann das auch als Aufsuchen einer als nicht nur persönlich inspirierend erlebten Region verstehen, in der sich Oker trotz seines nach München verlegten Wohnsitzes nach wie vor Anregungen holen konnte.

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Eine dieser Anregungen aus der Heimat klärt das für die Verfasserin nicht zu lösende Problem, dass Oker in seinem Roman Zahlbar nach dem Endsieg zitierte Liedtexte so setzt bzw. setzen lässt, dass die Worte und Silben den Melodiefluss abbilden. Der Autor orientiert sich bei der Niederschrift auch tatsächlich an Notenlinien (S. 168, Wiedergabe einer solchen Seite aus dem Nachlass im Anhang, S. 377). Nimmt man nun den Hinweis auf, dass Oker auch den Text zu dem Jahreskreis. -torium für Chor, Solisten und Sprecher 7 verfasst hat, und informiert sich über den Komponisten H. E. Erwin Walther, so erfährt man, dass dieser als Schulmusiker in Amberg tätig war, vor allem aber als Komponist die Idee einer »optischen Musik« entwickelte, die er in Audiogrammen notierte. 8

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Es ist die Problematik der Arbeit, dass sie sich zu sehr auf die Archivbestände und die Auskünfte der Witwe Okers verlässt. Gerade wegen der regionalen Verankerung des Autors in München und der Oberpfalz beruht die Sozialisation Okers in die zeitgenössische Kunstszene nicht zuletzt auf persönlichen Gesprächen, die der Wissenschaft allenfalls noch auf dem Weg zugänglich sind, dass sich solche ästhetischen Diskurse manchmal auch dem Autor unbewusst im Werk niederschlagen. Das kann man auch mit den Kategorien des literarischen Feldes nach Bourdieu beschreiben, aber erst, wenn man das fragliche literarische Feld einigermaßen übersieht. Das aber wird über der im Verlauf der Arbeit immer mehr zum Selbstzweck werdenden Verwendung Bourdieuscher Begrifflichkeit vergessen.

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Man könnte die Arbeit als Prüfungsleistung abtun, mit der im Sinne Bourdieus ein Kapitalfluss vom gesellschaftlich potentiell hoch angesehenen Gegenstand – dem Dichter Eugen Oker – zum Wissenschaftler stattgefunden hat, der sich mit ihm befasst. Nur steht leider zu befürchten, dass die Qualität der Arbeit auch Rückwirkungen auf die Einschätzung des Autors hat. 9 Tatsächlich ist Oker aber ein durchaus spannendes Beispiel für das literarische Feld der Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So müsste man – um nur einige wenige Aspekte zu benennen – Okers Position zwischen den Avantgarden der Zeit klären oder nach der Vorwegnahme des self publishing in den Neuen Medien fragen, die Oker unter Nutzung der neuen Technik der Fotokopie vornimmt. 10 Auch sein Eintreten für die Anerkennung des Gesellschaftsspiels als quasi-literarischer Kunstform (er fordert für diese Spiele eine Aufmachung wie für Bücher, S. 318) müsste vor dem Hintergrund der Hinwendung der Literaturwissenschaft zu den narrativen Kernen moderner Computerspiele aufgearbeitet werden. Es gäbe hier also genug zu entdecken. Die vorliegende Dissertation, und das immerhin kann man ihr als Verdienst anrechnen, kann Hinweise zu den Archivalien geben, auch wenn ihre Nutzung zu diesem Zweck wegen eines fehlenden Namenregisters ziemlich erschwert ist. Ansonsten taugen die durchgeführten Textanalysen in der Isoliertheit und Funktionslosigkeit ihrer Befunde – vgl. etwa: »Einige Stilmittel und Figuren werden im Folgenden mit Textbeleg angeführt.« (S. 193) – als Anschauungsmaterial für das Ergebnis einer Hochschullehre, die in ihrer Kompetenzorientierung auf abprüfbares Wissen zielt.

 
 

Anmerkungen

Die Wiederholung von Argumenten ist ein Charakteristikum der Arbeit, das hier nicht im Einzelnen vorgeführt werden soll.   zurück
Der Hinweis, die Reihenfolge orientiere sich an einer Gewichtung, die die Witwe Okers im Interview mittels der Vergabe von Schulnoten vorgenommen habe, hilft bei einer Anzahl von 90 Autoren nur wenig, zumal auch die Auskunft fehlt, ob die Anordnung nun auf- oder absteigend vorgenommen worden ist; vgl. S. 107, Fußnote 416.   zurück
Aus dem Sammelband zum Verhältnis von Literatur und Spiel wird leider nur der Beitrag von Christian Klein: Vom Spiel des Lebens. Regelverstöße und Sanktionsmöglichkeiten im autobiographischen Diskurs. In: Thomas Anz / Heinrich Kaulen (Hg.): Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. (spectrum literaturwissenschaft 22) Berlin, Boston: de Gruyter 2009, S. 439–452 herangezogen. Hier hätten eine ganze Reihe von Beiträgen dazu dienen können, Arbeiten Okers in einen für die Literaturwissenschaft interessanten Zusammenhang zu rücken (vom Sprachspiel bis hin zum Gesellschafts- oder Computerspiel).   zurück
Hans-Joachim Gelberg (Hg.): Der fliegende Robert. Erzählungen, Bilder, Gedichte, Märchen, Zukunftsgeschichten, Rätsel, Fotos, Kinderzeitung. (Viertes Jahrbuch der Kinderliteratur) Weinheim: Beltz 1977. Vgl. das Verzeichnis der Mitarbeiter S. 328–332. Okers Text findet sich S. 16–24.   zurück
Kurt Heuser / Eugen Oker: Napoleon. Pelikan Spieleverlag 1975. Eine Besprechung des Spiels findet sich bei Schlee, Claudia / Andreas Keirat: www.Spielphase.de (http://sunsite.informatik.rwth-aachen.de/keirat/txt/N/Napoleon.html, zuletzt gesehen 22.9.2015).   zurück
Im Brief von Heinrich Mann an Klaus Mann, 26.1.1936, wird Heuser z.B. in eine Reihe mit anderen Autoren gestellt, die sich mit dem Regime arrangiert haben. Der Kommentar macht darauf aufmerksam, dass Heuser das Drehbuch zu dem Propagandafilm Ohm Krüger verfasst habe. Klaus Mann: »Lieber und verehrter Onkel Heinrich«. Hg. v. Inge Jens und Uwe Naumann. Hamburg: Rowohlt 2011, S. 34 und S. 252.   zurück
Text veröffentlicht in Okers Kleinverlag Kuckuck & Straps 1988. Die Zusammenarbeit zwischen Oker und Walther begann schon mit Okers Tell mit der Armbrust. Ein Classical (1960).   zurück
Homepage H.E Erwin Walther http://www.erwin-walther.de/index.html (22.9.2015)   zurück
Ein detailliertes Aufzeigen der formalen Fehler in der Arbeit soll hier unterbleiben. Wie es mit der Sorgfalt bestellt ist, sei nur an einem Beispiel inhaltlicher Art aufgezeigt. So befasst sich die Verfasserin mit den Glimericks Okers. Es handelt sich der Form nach um Limericks, die allerdings von fünf auf sechs Zeilen erweitert sind. Neueder druckt ein Beispiel ab, das in der Schlusszeile (Glimerickzeile) einen unreinen Reim aufweist. Dazu heißt es: »Die Glimerickzeile reimt sich auf keinen anderen Vers, so ist es bei allen okerschen Glimericks« (S. 222). Davon kann nun freilich keine Rede sein, denn alle anderen mir bekannten Glimericks haben in der letzten Zeile einen Reim zur drittletzten Zeile. Vgl. Eugen Oker: Limericks. In: Ernst Rohmer (Hg.): Das lyrische Holzbein. Deutsche Unsinnspoesie. Erftstadt: area 2004. S. 491–493.   zurück
10 
Sein Entschluss zum Selbstverlag geht auf die Tatsache zurück, dass zu diesem Zeitpunkt Fotokopiergeräte zur Verfügung stehen, die beidseitig drucken können (vgl. S. 230).   zurück