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Der Krieg als das radikal Fremde

  • Daniela Kirschstein: Writing War. Kriegsliteratur als Ethnographie bei Ernst Jünger, Louis-Ferdinand Céline und Curzio Malaparte. (Film - Medium - Diskurs 55) Würzburg: Königshausen & Neumann 2014. 202 S. EUR (D) 34,00.
    ISBN: 978-3-8260-5402-0.
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»La guerre en somme cʼétait tout ce qu’on ne comprenait pas.« So setzt die Dissertationsschrift von Daniela Kirschstein mit einem Zitat aus Louis-Ferdinand Célines Kriegstext Voyage au bout de la nuit aus dem Jahre 1932 ein. Bereits der Titel des Erstlingsromans verweist unmissverständlich auf das Genre der Reiseliteratur, womit ein genuin hermeneutischer Ansatz, den Krieg verstehen zu wollen, in den Hintergrund tritt. Statt dessen bietet uns Daniela Kirschstein – als ob sich die Methodik dem verhandelten Gegenstand mimetisch anzuverwandeln hat – einen auf den ersten Blick eher befremdenden Zugriff, der sich aber in der Folge als brillante Entscheidung erweisen wird: Die Reise durch den Ersten Weltkrieg, welche der Protagonist Bardamu unternimmt, führt zu irritierend nahen Begegnungen, welche gleichzeitig aus Distanz reflektiert werden. Es kommt zu »einer ethnographischen Konfrontation […] mit der ersten Fremderfahrung, der des Krieges« (S. 115).

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Krieg und Kultur

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Writing War bevorzugt – mit Rückgriff auf die von Clifford und Marcus initiierte Konzeption von Writing Culture – das ethnographische Setting. Denn der ›Gegenstand‹ der Untersuchung entsteht »erst im Zuge der Beschreibung« (S. 9). Dazu stehen Gewährsmänner wie Claude Lévi-Strauss Pate. Der Erste Weltkrieg wird somit nicht einfach ›erschrieben‹, sondern schreibt sich selber in seiner nicht mehr kategorisierbaren Überwältigung und Kontingenz für den Soldaten an der Front als Versuch einer diskursiven Bewältigung und narrativen Handhabe.

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Der Krieg holt den Kulturbegriff und damit die Eigenbeschreibung und Eigenpositionierung auf eine Weise ein, dass die Kultur selber zum Anderen, einerseits zum Gefährdeten, andererseits zum Gefährlichen mutiert. Einer solchen Eigendynamik, welche Beobachtetes wie Beobachter erfasst, begegnet die Literatur. Wie Kirschstein einsichtig aufzeigt, generiert gerade die Fiktion – und dies in offenkundiger Absetzung beispielsweise vom Tagebuch (wie bei Ernst Jünger) – eine Fremdheit, verbunden (wie bei Louis-Ferdinand Céline) mit einer scharfen Zivilisationskritik.

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Literatur als ethnographische Transkription

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So klassisch der Duktus von Célines Französisch ist, so verstörend sind die Passagen, in denen Menschen nur noch als Körper verstanden werden. Was eigentlich direkt in Agambens ›nacktem Leben‹ aufgehen könnte (und womit man lediglich den Biologismus hervorstreichen würde, der Céline immer wieder vorgeworfen wird), indiziert ein systemisches Verfahren der Exklusion. Erst in einem solchen Beschreibungsmodus wird der Krieg wieder darstellbar, der jeglicher Beschreibung höhnt. Die Darstellung der Undarstellbarkeit kann nur die Literatur leisten, und gerade darum ist der ethnographische Zugriff umso virulenter.

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Das ethnographische Setting erfasst immer Fremdes und Eigenes, Krieg und Kriegsliteratur, Schreiben und Lesen des Kriegs zugleich. Der Krieg wird nicht als Gegenstand verarbeitet, sondern übersetzt: der Krieg als Transkription als Kriegsliteratur. Umso signifikanter sei – so die Verfasserin – der »Unterschied zwischen dem ethnologischen Versuch, eine fremde Kultur zu beschreiben, und der literarischen Beobachtung von Krieg als fremder Kultur« (S. 21). Es handelt sich folglich um eine Ethnographie jenseits der fachspezifischen Ausrichtung der Ethnologie. Fast beiläufig taucht die Frage auf, ob die Ethnologie in ihrem wissenschaftlichen Anspruch in derselben Effizienz wie die Literatur und der Film soziale Realitäten vermitteln könne.

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Der Erste Weltkrieg als radikale Differenzerfahrung

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Ethnologie soll nicht diskreditiert werden. Doch die künstlerische Qualität einer prononcierten Selbstreflexivität – wie sie in allen besprochenen Romanen vorliegt – legt den Akt der Transkription immer offen. Dabei werde »eine Perspektive auf das semantische Differenzierungs-, Übersetzungs-, Verschiebungs-, Transgressionspotential von Kriegsliteratur eröffnet, die gleichzeitig ihre Gegenseite, die Möglichkeit des Scheiterns angesichts ihrer erzählten Wirklichkeit, sieht« (S. 35).

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Die ausgewählten Autoren Ernst Jünger, Louis-Ferdinand Céline und Curzio Malaparte eint eine gemeinsame Kriegserfahrung, haben sie sich doch alle 1914 als Freiwillige gemeldet. Der Vergleich von sehr unterschiedlichen Texten und Transkriptionsstrategien impliziert zu Recht, dass der Erste Weltkrieg eine völlig neue Erfahrung von unbewältigbarer Dimension dem Überlebenden hinterlassen hat.

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Ernst Jüngers Ethnographie: Der Krieg als Beschreibungsexzess

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Ernst Jüngers Konstruktion der Kriegswirklichkeit wird nur möglich, indem – folgt man Helmut Lethens Diagnose, die er im Erzählwerk In Stahlgewittern stellt – die »reine« Wahrnehmung der »schieren Fakten« ins Zentrum rückt. Dafür nötig ist aber eine radikale Differenzerfahrung, welche alles Vorgängige sprengt und ethnographisch zu transkribieren ist. Das Ereignis liegt bei Jünger außerhalb jeglicher Erfahrung. Es wird als »das Fremde« markiert und so Gegenstand ›dichter Beschreibung‹. Das Freund/Feind-Schema bildet keine Opposition mehr, sondern die basale Unterscheidung Leben/Tod. Die prekäre und paradoxe Situation des teilnehmenden Beobachters bildet den Ausgangspunkt von Jüngers »Selbstethnographie«, in der die Erfahrungen immer erst als Text vermittelt werden.

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Im Unterschied zu seinen Originaltagebüchern wird der Krieg erst in der Transkription als das radikal Fremde generiert. Grundelement konstitutiver Un/Möglichkeitsbedingung ist der Rausch; damit wird das »Unfaßbare« (Karl Heinz Bohrer) in einer Textstrategie exzessiver Metaphorik auf Distanz gehalten und zum ethnographischen Wirklichkeitsentwurf: »Rauschzustände markieren als intensive Erregungen die Möglichkeit intensiven Erlebens, das […] die Ordnung und die Repräsentation selbst hinterfragt. Als im Modus der Beschreibung operierende Ethnographie versucht Jüngers Text diese Rauschzustände auf seine Leser übergreifen zu lassen. Der Krieg ist ein Beschreibungsexzess.« (S. 111)

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Louis-Ferdinand Célines Anatomie der Kriegskulturen

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Entscheidend in Célines Voyage au bout de la nuit, in der Erzählung des Unerzählbaren ist die Unterscheidung zwischen Protagonist und Erzähler. Folgt man den Rahmenbedingungen der ethnologischen Analyse (Oralität, Räumlichkeit, Alterität und Unbewusstsein) können Bardamus Reisestationen im Krieg als »lieu[x] de l’autre« (Michel de Certeau) oder als eigentliche Nicht-Orte (Marc Augé) festgemacht werden. Aus der Protagonistenperspektive wird die »Monstrosität des Krieges« besonders wirksam. Es kommt zu einem quid pro quo zwischen Landschaft und Körper, in denen der koloniale Diskurs allgegenwärtig ist.

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Die Alterität wird explizit über die Figur des Körpers lesbar – einerseits als ›natürlicher Körper‹, andererseits als Medium zwischen Natur und Kultur. In methodischer Verschränkung von Parasit (Michel Serres) und Inklusion/Exklusion (Niklas Luhmann) wird die Ethnographie richtig wirksam: »Der Körper ist […] Instrument einer De-Chiffrierung«, und die »U-Topie, der radikal fremde Raum des Krieges, wird qua Körper beobachtbar, lesbar, beschreibbar« (S. 184).

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Curzio Malapartes »Unentscheidbarkeiten«

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Im Unterschied zu In Stahlgewittern und Voyage au bout de la nuit wird die Erfahrung radikaler Fremdheit über die Protagonisten des Krieges, über Täter wie Opfer, lesbar. Malaparte selbst erweist sich jedoch als tricksterhafte Erzählerfigur, die ihre Perspektiven ständig subvertiert und die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion hinfällig werden lässt. In einer problematischen Ästhetisierung, welche an jüdische Opferrituale anschließt, kommt es zur Gleichsetzung von Opfern und Tätern.

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Erstmals arbeitet Kirschstein die umstrittene Iaşi-Episode auf, das Pogrom am 29. Juni 1941. Werden Textstellen dazu aus Kaputt in historiographischen Arbeiten immer noch als Quellen benutzt, so zeigt die Verfasserin auf, dass gerade in dieser Episode die »Grenze zwischen Teilnahme und Beobachtung« (S. 226) nicht mehr klar ist. Erzähler und Protagonist treten ungewöhnlich weit auseinander: »Die Leistung des Textes besteht deshalb nicht in der ästhetisch oder historisch adäquaten Darstellung des Holocausts, sondern in seiner Mimesis der eigenen Unentscheidbarkeiten, die sich angesichts des Pogroms als moralische Indifferenz manifestieren.« (S. 229 f.)

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Fazit: Komparatistik!

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Pünktlich zu den Gedenkfeiern zum Ersten Weltkrieg ist das Buch erschienen. Doch damit lässt es sich gerade nicht unter die Aufarbeitung kriegerischer Faktizität subsummieren. Methodisch äußerst versiert argumentiert Daniela Kirschstein nicht nur scharfsinnig. Vielmehr zeigt sie exemplarisch auf, was die Komparatistik als literaturwissenschaftliche Disziplin zu leisten imstande ist: ein Vergleich in drei europäischen Sprachen, die immer im Original zitiert werden. Wie facettenreich und dennoch sprachkulturübergreifend kann doch das Unerzählbare erzählend bewältigt werden.